PAUL VI.: ZEUGE UND LEHRER
Am 14. Oktober hat Papst Franziskus seinen Vorgänger Paul VI. heiliggesprochen. Dieser brachte das Zweite Vatikanische Konzil zum Abschluss und führte die Kirche durch stürmische Zeiten. In seinem Dienst als Nachfolger Petri opferte er sich ganz auf, und war doch „voller Freude“.
Vor vier Jahren bei der Seligsprechung sagte Franziskus über seinen Vorgänger Paul VI., er sei ein „unermüdlicher Apostel“, „der große Steuermann des Konzils“ und ein „mutiger Christ“ gewesen. Am 14. Oktober hat er ihn auf dem Petersplatz heiliggesprochen, gemeinsam mit Oscar Arnulfo Romero, dem Märtyrerbischof aus San Salvador. Dieses Zusammentreffen ist bezeichnend. In gewisser Weise war nämlich auch Giovanni Battista Montini ein Märtyrer. Einmal, weil er den Kreuzweg seines Freundes Aldo Moro mitging. Aber auch weil er ein mutiger Zeuge war, der sich dem „Rauch des Teufels“ entgegenstellte, der in die Kirche eingedrungen war (wie er 1972 sagte), ebenso wie der säkularen Welt. Dafür wurde er zum Ziel einer Hasskampagne, sowohl innerhalb wie außerhalb der Kirche, besonders in den letzten Jahren seines Pontifikats.
Die Auseinandersetzung Pauls VI. mit seiner Zeit war intensiv und ging tief. Sie hatte auch zu tun mit seinem Bemühen, die Kirche zu reformieren, und mit dem Bewusstsein, dass die moderne Welt Jesus Christus und allem, was von ihm kam, immer mehr den Rücken kehrte. Schon 1934 schrieb der junge Montini: „Christus ist in einem Großteil der italienischen Kultur ein Unbekannter, ein Vergessener, ein Abwesender“ (wie Kardinal Angelo Scola in seinem jüngsten Interview-Buch Ho scommesso sulla libertà in Erinnerung ruft.)
Als Sohn eines Mitbegründers des Partito Popolare, der mit allen großen Protagonisten der katholischen Welt in Italien in Kontakt stand, empfahl Montini (wie Juan María Laboa in seinem Buch Paolo VI, Papa della modernità nella Chiesa, schreibt), „wenn man das Böse angreift, gilt es die Motive und die Konsequenzen zu verurteilen, nicht aber die betreffenden Personen“. Als Papst sagte er: „Lasst uns nie beleidigende Worte an die Seelen richten, weil wir die Seelen retten wollen, sie zu Christus führen, und nicht von ihm weg.“ Gewiss hatten auch andere vor ihm, allen voran sein beliebter Vorgänger Johannes XXIII., vor der neuen Herausforderung durch die säkularisierte Moderne gewarnt. Der englische Dichter Thomas S. Eliot zum Beispiel, Charles Péguy, Romano Guardini und auch Don Giussani. Aber Montini traf dieser „Wendepunkt der Geschichte“ besonders hart, da er ihn auf dem Stuhl Petri erleben musste.
Martyrium bedeutet Zeugnis. Nach Auffassung von Paul VI. ist gerade das Zeugnis ein möglicher Schlüssel für eine erneuerte Präsenz des Christen in der Welt. In seinem Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi aus dem Jahr 1975 (das Papst Franziskus in Evangelii gaudium so oft zitiert) sagt er unter Nummer 41: „Der heutige Mensch [...] hört lieber auf Zeugen als auf Gelehrte, und wenn er auf Gelehrte hört, dann deshalb, weil sie Zeugen sind.“ Damit zitiert er eine Ansprache, die er bei einer Audienz für den Päpstlichen Rat für die Laien am 2. Oktober 1974 gehalten hatte und in der es unter anderem um die Bewegungen in der Kirche ging.
Bei dieser Gelegenheit erklärte Paul VI., es gäbe vier Motive „für diese Faszination der gegenwärtigen Welt für den echten Zeugen Christi“. Das erste: Der heutige Mensch sucht, auch wenn er mit Dingen und Gütern überflutet wird in einem Maße wie nie zuvor, „das Unsichtbare und die geistigen Güter“. Zweitens: „Die Menschen unserer Zeit sind zerbrechliche Wesen, die oft Unsicherheit, Angst, Furcht erleben.“ Hochaktuell und beeindruckend! Das dritte Motiv: „Die neuen Generationen wollen vor allem Zeugen für das Absolute treffen. Die Welt wartet auf das Vorübergehen der Heiligen.“ Auch dieser Gedanke scheint sehr gut auf unsere Zeit zu passen: Die Welt sucht Inspiration, Positivität, das Zeugnis der Heiligkeit. Vierter und letzter Punkt: „Der moderne Mensch stellt sich auch, und oft schmerzhaft, die Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz. Warum die Freiheit, die Arbeit, das Leiden, der Tod, die Gegenwart Anderer?“
Im gleichen Jahr 1974 schreibt Pier Paolo Pasolini einen Artikel, der erst später in den Freibeuterschriften veröffentlicht wurde. „Ich habe gestern Abend (Karfreitag?) eine Handvoll Menschen vor dem Kolosseum gesehen. Rundherum gab es einen enormen Polizeiapparat und Sicherheitsleute. [...] Es war eine religiöse Feier, bei der Paul VI. sprechen sollte. Es war kaum jemand da. Einen größeren Misserfolg kann man sich kaum vorstellen. Die Leute spüren nicht nur den Ruhm der Kirche nicht mehr, sondern nicht einmal mehr ihren Wert. Sie haben unbewusst einer ihrer blindesten Gewohnheiten abgeschworen. Zweifellos für etwas Schlechteres als die Religion.“
Das war kurz vor dem Referendum über die Scheidung in Italien, und Pasolini beschreibt wunderbar eine „menschliche Revolution“, die ihn erschüttert. Das Pontifikat von Paul VI. hatte mit der Erneuerung durch das Konzil schwungvoll begonnen. Und auch mit einem legitimen Optimismus aufgrund des lange andauernden Friedens nach dem Zweiten Weltkrieg. (Zufällig, aber symbolisch, war die erste offizielle Begegnung des neuen Papstes, der am 30. Juni 1963 gewählt wurde, am 2. Juli mit dem amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, der Rom besuchte.) Von 1968 an wurde das Pontifikat aber immer mehr zu einer dramatischen Konfrontation mit der zeitgenössischen Kultur, die dem Papst und dem Glauben zunehmend aggressiver und feindlicher gegenübertrat.
Wenn 1974 tatsächlich „kaum jemand“ am Kreuzweg teilnahm, dann deshalb, weil sich damals bereits seit mindestens sechs Jahren eine beispiellose Loslösung der Menschen von der Kirche vollzogen hatte. Heute sehen Kritiker und Historiker, konfessionslose wie katholische, 1968 als das entscheidende Jahr an, in dem sich die Kritik innerhalb und außerhalb der Kirche gegen den Glauben selbst zu richten begann. Giselda Adornato schreibt in ihrer soeben erschienenen Biografie Paolo VI über diese Zeit: „Zwei grundlegende Begriffe werden hier angefochten: Wahrheit und Autorität. Und zum ersten Mal geschieht das auch innerhalb der Kirche, manchmal sogar durch hochrangige Theologen.“
In diesem Schlüsseljahr erkennt Paul VI. in der nachkonziliaren Debatte „selbstzerstörerische“ Aspekte, wie er sie nicht erwartet hatte. Er erklärt seinem Freund Jean Guitton (in dessen Dialog mit Paul VI.): „Wir dürfen die Lehren des Konzils von der ererbten Lehre der Kirche nicht trennen. Wir sollten vielmehr erkennen, wie sie sich in diese einfügen, wie jene mit dieser übereinstimmen; wir sollten sie bekräftigen, entfalten, erklären und anwenden.“ Es ist das Jahr von Humanae vitae und des Credo des Gottesvolkes, das am 30. Juni zum Abschluss des Glaubensjahres feierlich verkündet wurde. In der Generalaudienz vom 4. Dezember wird der Papst von der „Unversehrtheit der offenbarten Botschaft“ sagen: „In diesem Punkt ist die katholische Kirche eifersüchtig, ist sie streng, fordernd und dogmatisch. [...] Sie kann nicht anders handeln.“ In seinen persönlichen Notizen scheibt er: „Eine neue Zeit nach dem Konzil. Ist unser Dienst nicht zu Ende? [...] Vielleicht hat mich der Herr in diesen Dienst gerufen und hält mich darin, nicht, damit ich mich daran gewöhne, und auch nicht, damit ich die Kirche aus ihren derzeitigen Schwierigkeiten rette, sondern damit ich ein bisschen für die Kirche leide und so offenbar wird, dass Er allein sie leitet und rettet.“
Er scheint zu ahnen, dass er einen gleichzeitig „dramatischen und großartigen“ Weg gehen muss (wie er in seinem Testament sagt, einem auch aus literarischer Sicht außergewöhnlichen Text): einerseits die Angriffe der Welt und auch mancher „Freunde“ des Papstes innerhalb der Kirche, andererseits die persönliche Läuterung und religiöse und theologische Vertiefung. In den Dialogen mit Guitton findet sich die berühmte Feststellung: „Was mich bewegt, ist, dass innerhalb der Katholizität gelegentlich ein Denken vorzuherrschen scheint, das nicht katholisch ist.“ In der Predigt vom 29. Juni 1972, dem Fest der Apostelfürsten Petrus und Paulus, bekräftigt Montini, er habe den Eindruck, dass „durch irgendeinen Spalt der Rauch des Teufels in den Tempel Gottes eingetreten“ sei. „Es gibt Zweifel, Ungewissheit, Probleme, Unruhe, Unzufriedenheit, Auseinandersetzungen. Man vertraut der Kirche nicht mehr [...] Man meinte, nach dem Konzil käme ein Sonnentag für die Geschichte der Kirche. Stattdessen kam ein Tag voller Wolken, Stürme, Dunkelheit“.
1988 sprach Don Luigi Giussani über Paul VI., zehn Jahre nach dessen Tod, in einem Interview mit dem Wochenmagazin Il Sabato. Es lohnt sich, dieses Dokument heute noch einmal zu lesen. „Das Pontifikat von Papst Paul VI. war eines der größten!“, sagte er dort. „Er hatte in der ersten Hälfte seines Lebens eine extreme Sensibilität bewiesen – die kann ihm niemand jemals absprechen – für die gesamte Problematik der quälenden Wechselfälle des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens unserer Zeit. Und er hat eine Antwort gefunden! Die hat er in den letzten zehn Jahren gegeben.“
Dann erzählte Giussani, was er am Palmsonntag 1975 erlebt hatte: Der Papst „rief die Jugendlichen aller katholischen Gruppierungen nach Rom. [...] Alle. Dann fand er sich allein mit den 17.000 von CL.“ Am Schluss der Messe auf dem Petersplatz ließ der Papst Don Giussani zu sich rufen. „Genau erinnere ich mich nur an diese Worte: ‚Nur Mut, das ist der richtige Weg. Machen Sie weiter so‘.“ Und wer Don Giussani über die Natur der Kirche hat reden hören, der weiß, dass er besonders eine Ansprache von Paul VI. gerne zitierte. Jene, die er genau in diesem Jahr 1975 gehalten hat, am 23. Juli: „Wo ist das ‚Volk Gottes‘, von dem so viel gesprochen wurde und noch immer gesprochen wird? Wo ist es? Diese ethnische Einheit sui generis, die sich unterscheidet und auszeichnet durch ihren religiösen und messianischen, priesterlichen und prophetischen Charakter, wenn ihr so wollt, die sich ganz ausrichtet auf Christus, als das Zentrum ihres Fokus, und die ganz aus Christus hervorgeht? [...] Sie hat in der Geschichte einen Namen, der allen geläufiger ist; es ist die Kirche.“
Die Entführung und Ermordung seines „Freundes“ Aldo Moro sollten die letzten Etappen des Pontifikats und des Lebens von Paul VI. tiefgreifend prägen. In diesen 55 Tagen schienen die Katholiken in der Politik, der ganze italienische Staat und sogar der Papst mit seinem ganz persönlichen Einsatz den dunklen Mächten der Geschichte zu unterliegen. Alles schien kompromittiert, unwiederbringlich verloren. Paul VI. demütigte sich vor den Mördern. Er sprach von ihnen als „Menschen“ und durchbrach damit die Logik der Terror-Ideologie. Diese äußerste Verteidigung der Menschenwürde und der Kirche bleiben sein großes und unverfälschtes Zeugnis. Der Papst nahm am Schicksal Moros und Italiens teil, vielleicht starb er sogar daran. Aber er hörte nie auf, auf jene „ethnische Einheit sui generis“ hinzuweisen, für die er sein Leben hingegeben hat. „Mein Gemütszustand?“, fragt er sich auf einer Seite seines Tagebuches. „Hamlet? Don Quijote? Links? Rechts? Ich empfinde mich nicht als geglückt. Zwei Gefühle herrschen vor: ‚Superabundo gaudio‘. Ich bin voll Trost, durchdrungen von Freude in jeglichem Leid“.
In seiner letzten Predigt, am 29. Juni 1978, zieht er eine Art Bilanz seines Pontifikats: „Unsere Aufgabe ist dieselbe wie die des Petrus, dem Christus die Sendung anvertraut hat, seine Brüder zu stärken. Es ist die Aufgabe, der Wahrheit des Glaubens zu dienen und diese Wahrheit allen anzubieten, die sie suchen. [...] Dies ist, liebe Brüder und Söhne, die unermüdliche, wachsame, drängende Absicht, die uns in diesen fünfzehn Jahren des Pontifikates bewegt hat. ‚Fidem servavi‘!, können wir heute sagen, im demütigem und sicheren Bewusstsein, dass wir nie die ‚heilige Wahrheit‘ (A. Manzoni) verraten haben.“
Heute haben wir die Bestätigung dafür, dass jener „schmerzhafte, dramatische und großartige“ Weg, den er zuerst als Mensch, dann als Priester und schließlich als Papst gegangen ist, den Heiligen Paul VI. dazu geführt hat, eine Idee von Kirche und christlichem Zeugnis in den Fokus zu rücken, die große erneuernde Kraft hat. Weil sie Raum lässt für das Werk eines Anderen.
So war es auch mit dem Wunder, das die Heiligsprechung möglich gemacht hat. Eine Geschichte aus den USA: Ein Kind, bei dem schon im Mutterleib eine schwere Krankheit diagnostiziert wurde, sodass man der Mutter zur Abtreibung riet, wird noch vor der Geburt geheilt. (Vielleicht ein geheimnisvoller Verweis auf die Enzyklika Humanae Vitae.) Jede Verteidigung des Lebens fällt mit einem Ereignis der Gnade zusammen, mit einem Geschenk des Herrn. Wie Papst Franziskus sagte: „In dieser Demut erstrahlt die Größe des seligen Pauls VI. Während sich eine säkularisierte und feindliche Gesellschaft abzeichnete, hat er es verstanden, weitblickend und weise – und manchmal einsam – das Schiff Petri zu steuern, ohne jemals die Freude am Herrn und das Vertrauen auf ihn zu verlieren.“