Franziskus und Benedikt XVI.

Der rote Faden zwischen den Päpsten

Auch wenn es manchmal nicht so scheint, gibt es zwischen Benedikt XVI. und Franziskus eine große Kontinuität. Beide weisen immer wieder darauf hin, dass es Christus ist, der die Kirche lenkt, und dass seine Anziehungskraft sie wachsen lässt.
Gianni Valente

Die Kirche wächst nicht durch Proselytismus, sondern durch Anziehung.“ Papst Franziskus hat es noch einmal wiederholt, als er am 22. November 2019 während seiner Asien-Reise in Thailand zu Priestern und Ordensleuten sprach. Und er fügte hinzu, dass er diese von Papst Benedikt geprägte Formulierung „nicht nur für wahr, sondern für prophetisch halte in dieser unserer Zeit“. Das ist eine vielsagende Bemerkung, auch insofern sie sich – zwar flüchtig, aber ausdrücklich – auf die Umstände bezieht, die den Weg der Kirche heute kennzeichnen.

Der wiederholte Hinweis auf die Anziehungskraft der Gnade durchzieht die Ansprachen von Franziskus wie ein Grundton. Er ist wie ein lebendiger und intensiver roter Faden, der sich von den ersten Tagen des Pontifikats an durch seine Verkündigung zieht. Und der ihn sehr eng mit seinem Vorgänger verbindet. Dieser Gedanke bringt eine Kontinuität mit Benedikt XVI. zum Ausdruck, die weit gewichtiger ist als gewisse unterschiedliche Akzente. Wenn man Papst Franziskus fragt, warum er so darauf beharrt, verweist er auf die Worte Jesu im Johannesevangelium: „Wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen.“ „Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht“. Der Heilige Vater macht mit Gesten und Worten immer wieder deutlich, dass Christus das Herz jedes Menschen an sich ziehen und ihm unvergleichliche Freude schenken kann (vgl. auch Evangelii gaudium).

Die Anziehungskraft Christi zu spüren und ihr voller Hoffnung und staunend zu folgen, ist das Bekenntnis des Glaubens, das dem Christentum am meisten entspricht. Denn die liebevolle Anziehungskraft, die Christus auf die Herzen von Männern und Frauen zu jeder Zeit und an jedem Ort ausüben kann, beweist, dass er jetzt lebt und wirkt. Franziskus hat das schon durch den Titel seines Apostolischen Schreibens an die Jugendlichen angedeutet: Christus vivit. Nur wer lebendig ist, kann uns anziehen. Anziehung kommt ausschließlich den Lebenden zu. An die Menschen, die nicht mehr da sind, können wir mit Sehnsucht, Dankbarkeit oder Rührung denken, aber sie üben keine Anziehungskraft auf uns aus.

Für Franziskus enthüllt die Formulierung, die er von Papst Benedikt übernommen hat, „in dieser unserer Zeit“ ihren paradigmatischen Charakter noch deutlicher, jetzt, wo selbst die Berichterstattung der Presse – manchmal schmerzlich und qualvoll – deutlich macht, dass das kirchliche Leben und der kirchliche Apparat sich eben nicht selbst genügen.

Papst Franziskus öffnet die Heilige Pforte in Bangui (Zentralafrika), 2015.

In dem ihm eigenen Stil hat Franziskus von Beginn seines Pontifikats an immer wieder deutlich gemacht: Die Kirche schafft sich nicht selbst, sie lebt nicht aus eigener Kraft, sie hat sich nicht selbst gestiftet und sie lebt in Geschichte und Welt nicht als eine sich selbst begründende Einheit. Bei jedem Schritt, den sie unternimmt, hängt sie vom Geheimnis der Gnade ab. Sie braucht in jedem Augenblick das Wunder des Geistes Christi. Jede Art von Proselytismus dagegen, auch innerhalb der Kirche, vertraut immer auf menschliche Mittel – Geld, soziale Werke, kulturell oder theologisch überzeugende Argumente –, um neue Anhänger für seine „Sache“ zu gewinnen. Etwas ganz anderes ist die delectatio victrix, die fesselnde Freude an der Gnade Christi, von der der heilige Augustinus sprach. Nur durch den Genuss dieser Freude, die von Christus selbst hervorgerufen wird, kann man Christ werden – und bleiben. Diese Anziehungskraft schafft die Kirche, Augenblick für Augenblick, und macht sie anziehend.

Entlang dieser Linie zeigt sich ganz klar auch die innige Beziehung mit dem Geheimnis Christi, die Franziskus und Benedikt XVI. eint. Sein ganzes Leben lang, angefangen als junger Professor der Theologie bis zum Thron Petri, hat Joseph Ratzinger immer wieder eindringlich betont, dass die Kirche Christus gehört. Auch er hat, wie nach ihm Papst Franziskus, viele Male auf das Bild des Mondes zurückgegriffen, das bereits die Kirchenväter der frühen christlichen Jahrhunderte gebraucht hatten. Es soll verdeutlichen, dass die Kirche nicht aus eigener Kraft leuchten kann, sondern nur durch das Licht Christi, das sie reflektiert wie der Mond das Licht der Sonne. Angesichts dieser Tatsache hat Benedikt XVI. schon in der Predigt bei seiner Amtseinführung klar gesagt, sein „Regierungsprogramm“ sei es, „nicht meinen Willen zu tun, nicht meine Ideen durchzusetzen,“ sondern sich von Christus führen zu lassen, damit dieser „selbst die Kirche führe in dieser Stunde unserer Geschichte“.

Wie der emeritierte Papst sagt auch Franziskus immer wieder: Die Kirche lebt und wächst durch die Anziehungskraft, die von Christus ausgeht. Wenn man davon ausgeht, dann kann man auch, mit gewissermaßen prophetischem Spürsinn, erkennen, worin so viele Leiden der Kirche in der heutigen Zeit ihren Ursprung haben. „Zu dem Glück, zu dem sie bestimmt sind“, schreibt der heilige Thomas, „werden die Menschen geführt durch das Menschsein Christi“. Durch die menschliche Natur des Sohnes kann die Gnade in den Herzen der Menschen und in der Welt ihre Anziehungskraft entfalten. Daher sind die hinterhältigsten Gefahren für die Kirche in der heutigen Zeit nicht unbedingt die Sünden, Skandale und Verbrechen, sondern alles, was die Menschlichkeit Christi, seine liebevolle Anziehungskraft, die uns immer wieder korrigiert und durch Vergebung heilt, zu verdunkeln oder aus unserem Blickfeld zu eliminieren sucht.

Papst Franziskus hat schon oft den großen Feind beim Namen genannt, der versucht, Christus, der Fleisch geworden ist zu unserem Heil, zu verbergen oder zu verleugnen. Im Oktober 2018 bat er alle Katholiken der Welt, einen Monat lang täglich den Rosenkranz zu beten und die Muttergottes und den Erzengel Michael zu bitten, „die Kirche vor dem Teufel zu schützen, der immer darauf abzielt, uns von Gott und untereinander zu trennen“. Und auch hier gibt es einen roten Faden, der Bergoglio mit Ratzinger verbindet. Benedikt XVI. hat in seinen im April 2019 veröffentlichten Anmerkungen über die Missbrauchskrise in der Kirche festgestellt, der Teufel wolle die Menschen glauben machen, „dass Gott selbst nicht gut ist, und uns von ihm abbringen“. Der emeritierte Papst sprach in diesem Text davon, dass „die Krise, die durch die vielen Fälle von Missbrauch durch Priester verursacht wurde“, dazu verleite, „die Kirche geradezu als etwas Missratenes anzusehen, das wir nun gründlich selbst neu in die Hand nehmen und neu gestalten“ müssten. Doch, so fügte er hinzu: „Die Idee einer von uns selbst besser gemachten Kirche ist in Wirklichkeit ein Vorschlag des Teufels, mit dem er uns vom lebendigen Gott abbringen will“.

Am 12. November 2019 ging Franziskus bei seiner Predigt in Santa Marta auf den innersten und wesentlichsten Grund ein, der den Zorn und den Neid des Teufels entfesselt: Der „Große Lügner“, der die Menschen verklagt, „ist neidisch auf unsere menschliche Natur. Und wisst ihr, warum? Weil der Sohn Gottes einer von uns geworden ist. Das erträgt er nicht, er kann es nicht ertragen.“ Denn Christus hat unsere menschliche Natur angenommen, weil er „in unserem Fleisch kämpfen und in unserem Fleisch siegen“ wollte.

Durch die Menschlichkeit Christi, der unser Fleisch angenommen hat, geht die Anziehungskraft hindurch, die uns zu unserem Glück führt. Und unser Glück ist sein Sieg. Wenn der „Große Neider“ auch immer wieder versucht, diese Anziehungskraft zu verdunkeln, so lässt doch das Lehramt der Kirche durch die Worte und Gesten des Bischofs von Rom keine Gelegenheit aus, auf den Strom der Barmherzigkeit hinzuweisen, der aufgrund der Menschwerdung Christi durch die Geschichte fließt. Angesichts dieser Lage und da der Teufel auch heute durch „gewandte und kluge Worte“ versucht, sich an Gott zu rächen für seine Menschwerdung, macht das kirchliche Lehramt klar, dass es nicht vorrangig darum gehen kann, Strategien der Selbstverteidigung zu planen und kulturelle Kämpfe auszufechten, sondern dass dies, wie Franziskus gesagt hat, „die Stunde Gottes“ ist. Und wenn Gott in den Kampf zieht, dann sollten wir ihm dies auch überlassen. Unser sicherer Ort ist unter dem Mantel der Gottesmutter. Und während wir darauf warten, dass der Herr dem Sturm Einhalt gebietet, „geben wir mit unserem stillen Zeugnis des Gebets uns selbst und den anderen ‚Rechenschaft […] über die Hoffnung, die [uns] erfüllt‘“, wie Papst Franziskus in seiner Predigt am Palmsonntag 2019 gesagt hat.