„Don Giussani liebte die Freiheit“

Predigt des Erzbischofs von Moskau, Paolo Pezzi, bei der Jahrtagsmesse für den Gründer von CL. „Ich habe noch nie jemanden getroffen, der die menschliche Freiheit mehr liebte als er.“
Paolo Pezzi

Was der Apostel Jakobus in seinem Brief beschreibt (Jak 4,1-10), hat es leider schon immer gegeben. In unseren Gemeinschaften, in unseren Familien, aber auch in der Gesellschaft und in der Kirche gibt es immer wieder Streitigkeiten, Feindschaften, Konflikte, Spaltungen. Es ist interessant, dass Jakobus weiß, oder zumindest annimmt, dass es dies immer geben wird. Zunächst einmal ist es für Menschen, die Christus nicht begegnet sind, praktisch unmöglich, wenn schon nicht einmütig, so doch wenigstens in Einheit zu leben. Es ist schwierig, in Einheit mit sich selbst, und noch schwieriger mit der Familie oder der Gemeinschaft zu leben. Wenn dies doch geschieht, merkt ein vernünftiger Mensch gleich, dass das ein absolutes Wunder ist, ein Wunder durch Gnade, wie der Apostel Jakobus sagt. Diese Einheit ist aber auch für diejenigen schwierig, die Christus begegnet sind. Sie ist schwer zu erreichen, weil, wie der Apostel sagt, die Mentalität dieser Welt, derjenigen, die die Macht haben, gegen diese Einheit, gegen die Menschlichkeit arbeitet. Und diese Mentalität dringt viel schneller und viel leichter in uns ein als die christliche.

Das ist einer der dramatischen Aspekte, die das Leben von Don Giussani von Anfang an begleitet haben. Schon im Seminar und dann als junger Priester und als Religionslehrer in der Schule stand er vor der dramatischen Frage: Kann das Christentum so oberflächlich bleiben, dass es das Leben nicht prägt? Tatsächlich spielt sich unser Leben oft, einschließlich der wichtigsten Entscheidungen, nicht im Licht des Glaubens ab, sondern im Licht der Mentalität, die die Macht verbreitet. Im heutigen Evangelium (Mk 9,30-37) haben wir gehört, dass selbst die Apostel nicht davor gefeit waren. Es brauchte nur einen etwas schwer verständlichen Satz von Jesus, und sofort dachten sie, wie die Welt denkt: Wer von uns ist der Größte? Das ließe sich leicht übersetzen mit: Wenn ich die Macht habe, dann bist du mein Untergebener. Welche Einheit kann es dann unter uns geben? Doch Jesus verliert nicht viel Zeit damit, sie zu tadeln oder zu korrigieren. Er fragt sie nur: „Worüber habt ihr gesprochen?“ Wir können uns leicht vorstellen, wie beschämt sie waren. Doch diese Scham hat sie nicht blockiert. Sie fingen wieder neu an, Christus zu folgen. Und dies ist die wichtigste Frucht der Nachfolge Christi. Sonst können wir unsere Persönlichkeit nicht verändern, sonst können wir unser Leben nicht ändern, sonst gibt es keine Einheit im Leben und innerhalb der Gemeinschaft.
Aber wenn man neu anfängt, dann breitet sich die Begegnung mit Christus wieder aus und dringt in alle Situationen und buchstäblich in jeden Augenblick unseres Lebens ein.



Ob ihr nun lebt oder sterbt, ihr gehört Christus, sagt der Apostel Paulus. All dies geschieht unter einer Bedingung, und zwar unter der Bedingung der Freiheit. Ich persönlich habe in meinem ganzen Leben noch niemanden getroffen, der die menschliche Freiheit mehr liebte als Don Giussani. Das bedeutet nicht, dass ich ihn im Voraus heiligsprechen will. Für mich ist er schon heilig. Wie die Kirche ihren Weg, ihren Heiligsprechungsprozess macht, das beunruhigt mich nicht. Für mich ist es leichter zu denken, dass dieser Mann, der mir eine so lebendige Begegnung mit Christus geschenkt hat, meine Freiheit so sehr liebte, dass er mir erlaubte, in diese dramatische Dynamik der Verantwortung einzutreten. Denn die Freiheit in der Begegnung mit Christus zu leben, bedeutet, dass man sein Leben in die Hand nimmt und zum Helden, zum Protagonisten des eigenen Lebens und der ganzen Geschichte wird.

Das ist es, was Jesus seinen Jüngern vermittelt. Das hat Don Giussani all jenen hinterlassen, die von seinem Charisma betroffen waren in der Kirche, damit wir frei beten, leiden, handeln und unser Leben aufopfern können zur Ehre Christi. Damit wir auf diese Weise eine neue Zivilisation der Wahrheit und der Liebe errichten können, vor allem in den Beziehungen untereinander.