Bischof Erik Varden © Catholic Press Photo

Der Schrei unserer Zeit

Um in einer Welt in Aufruhr, die Dogmen hasst, noch hoffen zu können, muss man „aufmerksam sein“ und auf die Wege achten, die Gott wählt, um uns persönlich entgegenzukommen. Darüber haben wir mit Erik Varden*, dem neuen Bischof von Trondheim, gesprochen.
Alessandra Stoppa

„Unsere Zeit ist misstrauisch gegenüber Worten.“ Folgt man dieser einfachen und entschlossenen Aussage von Erik Varden, die in Julián Carróns Das Leuchten in den Augen zitiert wird, kommt man zu einem tiefgründigen Verlangen unserer notleidenden Welt: dem Bedürfnis nach einer konkreten Hoffnung, nach „Glaubwürdigkeit“. Varden ist Norweger, 46 Jahre alt, Zisterzienserabt und seit Oktober 2020 Bischof von Trondheim. Seine Bischofsweihe war erst die vierte katholische seit der Reformation, in fünf Jahrhunderten. Mehr als anderswo hat die christliche Hoffnung in diesem ultra-säkularisierten Land keine Alternative: Entweder ist sie nur „ein Gerüst, das man um den existentiellen Durst des Menschen herumbaut“, oder „sie löscht tatsächlich seinen Durst“.

Der Glaube kam in Vardens Leben als „eine Antwort auf meine Fragen, nicht als eine Reihe von Fragen, die man richtigerweise stellen muss“. Alles fing an mit einer unvorhersehbaren Erfahrung. Erik war 16 Jahre alt und hatte eine tiefe Liebe zur Musik. Er interessierte sich für Gustav Mahler und kaufte eine Aufnahme mit Bernstein als Dirigenten: die zweite, die „Auferstehungs-Sinfonie“. Das christliche Thema ließ ihn allerdings völlig kalt. Obwohl er in der lutherischen Kirche getauft worden war, hatte er mit dem Glauben nichts zu tun, ja „ich war ihm eher feindlich gesinnt“. Doch an jenem Abend, als er allein zu Hause war, hörte er Mahler, und es geschah etwas. Ein Gefühl, das „ich nie erwartet hätte“, bei den Worten im fünften Satz: „O glaube, mein Herz, du wardst nicht umsonst geboren! Hast nicht umsonst gelebt, gelitten!“ „Dass das so betont wurde – nicht umsonst – war unwiderstehlich“, sagt er. „Ich wusste, dass es wahr ist. In diesem Moment änderte sich mein Bewusstsein. Dank einer Gewissheit, die nicht aus übertriebener Emotion oder kalter Analyse entstand, wurde mir bewusst, dass ich nicht allein war. Ich konnte nicht mehr an der Wahrheit dessen zweifeln, was ich entdeckt hatte, genauso wenig wie ich an meiner eigenen Existenz zweifeln konnte.“ Varden war sich auch sicher, dass alle Not der Welt „von einem unendlichen Wohlwollen umarmt ist, das ihr einen Sinn gibt“. An jenem Abend „war ich diesem Wohlwollen begegnet, ich erkannte es als eine persönliche Gegenwart. Ich wollte es suchen, seinen Namen lernen, seine Merkmale erkennen.“ Diese plötzliche Erfahrung war der Beginn seiner Suche nach Gott, die ihn dann in die katholische Kirche führte.

Beginnen wir mit einem Satz aus Ihrem Buch, den Julián Carrón im Leuchten in den Augen zitiert: „Unsere Zeit ist misstrauisch gegenüber Worten und meidet Dogmen, doch sie kennt die Bedeutung der Sehnsucht. Sie sehnt sich nach etwas Unbestimmtem, ohne zu wissen nach was, nur mit dem Gefühl, in sich eine Leere zu haben, die gefüllt werden muss.“ Warum lesen Sie unsere Zeit ausgehend von der Sehnsucht?
Wenn ich von Sehnsucht spreche, beziehe ich mich zunächst schlicht auf ein Gefühl, das wir alle kennen, wenn wir im Leben darüber nachdenken oder überraschend die Intuition bekommen: „Das ist nicht genug! Ich will mehr!“ Das ist eigentlich eine verheißungsvolle Erfahrung. Es ist die Möglichkeit, den Blick auf ein unendliches Werden zu richten, die Möglichkeit, in diesem cri de coeur, in diesem Schrei des Herzens, einen Ruf zu erkennen, der von einem Anderen an mich gerichtet wird. Bis ich schließlich diesen Anderen frage: Wer bist du? Vielen erscheint jedoch die Transzendenz etwas Phantastisches, etwas Erträumtes zu sein. Und sich selbst als endliches Wesen zu entdecken, das in so viele Begrenzungen eingezwängt und doch von einem unendlichen Verlangen erfüllt ist, kann eine immense Frustration erzeugen. Tragisch. Deshalb glaube ich, dass es die zwingende Aufgabe der Christen ist, zu bezeugen, dass unsere tiefste Sehnsucht einen Sinn hat.

Können Sie das näher erläutern?
Unser Verlangen weist auf ein Ziel hin, das wir erleben können, das dem innersten Durst des Herzens entspricht und ihn zu stillen vermag. In seiner Regel hat der heilige Benedikt ein einziges Kriterium aufgestellt für diejenigen, die sich berufen fühlen: „Wer ist der Mensch, der das Leben liebt und gute Tage zu sehen wünscht?“ Mit anderen Worten: „Bist du ein Mensch voller Sehnsucht? Wenn du es bist, schlage ich dir einen Weg vor, dem du folgen kannst.“ Natürlich reicht die bloße Sehnsucht nicht aus, aber sie ist die unverzichtbare Grundlage. Wir müssen also aufmerksam auf unsere tiefste Sehnsucht hören. Und sie respektieren.

Am Tag Ihres Einzugs in Trondheim haben Sie viel von Aufmerksamkeit und Zuhören gesprochen. Sie sagten, Gottes Offenbarung sei „meist leise“. Was haben Sie damit gemeint
Die Offenbarung Gottes ist ein Hauch. Und was für uns heute wichtig ist – die christliche Herausforderung, die immerwährende christliche Herausforderung –, ist diesen Hauch ernst zu nehmen. Wir müssen aufmerksam sein, denn die Wahrheit ist immer größer als unsere Vorstellungen. Die Menschen in den Evangelien lehnen Christus gerade deshalb ab, weil sie die Methode der Offenbarung Gottes nicht annehmen wollen. Das ist unsere Versuchung: so klare Vorstellungen davon zu haben, was Gott meiner Meinung nach tun sollte, dass ich für seine lebensspendende Gegenwart verschlossen bleibe. Heute ist es schwierig geworden, auf diesen Hauch zu hören. Denn wir bekommen so viele Eindrücke, sie drängen sich uns fast gewaltsam auf. Deshalb brauchen wir wache Sinne ... Es braucht Offenheit, einen Raum des vertieften Zuhörens, der Erwartung.

Heute verschließt man sich oft vor der Wirklichkeit, auch aus Angst und Wut und aufgrund der entmutigenden Situation, in der wir uns befinden.
Keine Zeit ist zum Verzweifeln. Das ist die Perspektive, in die wir lernen müssen einzutreten, die Perspektive Gottes, der „die Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen einzigen Sohn hingab“. Kürzlich fiel mir zufällig etwas auf: Am selben Morgen las ich in verschiedenen Zeitungen Interviews mit zwei Ärzten, einem aus Frankreich, dem anderen aus den Vereinigten Staaten, die das gleiche sagten: „Wir leben in einer apokalyptischen Situation.“ Sie bezogen sich natürlich auf den Gesundheitsnotstand, der unvorstellbare Ausmaße angenommen hat. Aber mir fiel das Adjektiv auf, apokalyptisch. Das bedeutet wörtlich: „offenbarend“. Wenn die Wirklichkeit unsere Kategorien überschreitet, muss sich unser Horizont erweitern, weil sie nicht mehr in die gewohnten Grenzen passt. Solche „überspitzten“ Momente sind potenziell wachrüttelnde Momente. Denn das Neue bringt die Frage mit sich: Was ist der Sinn dieser Sache? Und diese Frage bezieht sich auf die letzte Bedeutung von allem. Sie spricht vom Logos, der in der Geschichte Fleisch geworden ist und in der Kirche sein Geheimnis der Menschwerdung fortsetzt.

Mir fiel das Adjektiv auf, apokalyptisch. Das bedeutet wörtlich: „offenbarend“. Wenn die Wirklichkeit unsere Kategorien überschreitet, muss sich unser Horizont erweitern, weil sie nicht mehr in die gewohnten Grenzen passt. Solche „überspitzten“ Momente sind potenziell wachrüttelnde Momente. Denn das Neue bringt die Frage mit sich: Was ist der Sinn dieser Sache? Und diese Frage bezieht sich auf die letzte Bedeutung von allem.

Was sehen Sie in der heutigen Situation?
Es ist eine Zeit großen Leids. Und der Mangel an Gewissheit für die Zukunft fällt auf. Mich berührt besonders, was junge Menschen erleben, junge Menschen von sechzehn, achtzehn Jahren, die abstumpfen: Sie wollen etwas aufbauen und sind doch frustriert. Aber das, was wir erleben, trägt auch einen neuen Samen in sich: die Erkenntnis – in einer hyper-individualistischen Welt –, dass wir aufeinander angewiesen sind. Es gibt einen Durst nach Beziehungen, nach Begegnung, der, wie ich hoffe, den weiteren Verlauf der Welt prägen wird. Ich denke, dass dieses Erwachen sehr bedeutsam und notwendig ist. Und es enthält eine starke Berufung für die Kirche: Während die Bestandteile der säkularen und laizistischen Gesellschaft auseinanderzufliegen drohen, strebt die Kirche – aufgrund ihrer übernatürlichen Berufung und ihrer communionalen Energie – nach Begegnung. Den Christen ist in dieser Zeit eine hohe und ehrenvolle Aufgabe anvertraut, nämlich die Gemeinschaft zu leben. Wie Gaudium et Spes sagt: Die Kirche ist berufen, den Samen einer neuen Menschheit zu vergegenwärtigen und zu konkretisieren. Und diese Herausforderung ist enorm, anspruchsvoll. Und eine Freude.

Wieso Freude?
Wahre Begegnung bringt Freude. Ich spreche nicht von Freude im sentimentalen Sinne, sondern von ontologischer Freude: das Gefühl, verstanden, geliebt, gewollt zu sein. Ich glaube, dass der Durst, der heute aufbricht, der Durst nach Begegnung, nach Freundschaft, wenn auch implizit, ein spiritueller Durst ist. Und wenn wir durch unser Leben den Heiligen Geist in Begegnung mit der Welt bringen, die ihn erwartet, dann wird das unvermeidlich zu Freude führen. Selbst im Leid. Auch gegenüber dem Leiden braucht es großen Respekt, Ehrfurcht. Wir Christen lassen uns leicht dazu verleiten, eine Art Rhetorik des Trostes aufzutischen. Es braucht aber ein verletzliches, offenes Herz, um das Leid des anderen aufzunehmen. Wenn wir es wirklich teilen, und wenn das von demjenigen, der leidet, angenommen wird und eine echte Begegnung stattfindet, dann wird sogar das Leiden zu einem lichterfüllten Ort. Die Freude ist nicht nur ein sehr überzeugender Beweis für das Wirken der Gnade, sie ist auch eine Verifizierung der christlichen Erfahrung. Denn wir können uns nicht vormachen, wir seien froh, wenn wir es nicht sind. Wir können uns nicht vormachen, wir seien in Frieden, wenn wir es nicht sind. Das sind nicht nur Gefühle. Das ist wie ein Atem aus der Tiefe des Seins.

© Oliver Neale

Wie es für Sie eine „Begegnung“ war, als Sie Mahler hörten.
Mein inneres Erwachen bleibt ein Geheimnis. Aber mit der Zeit (es sind dreißig Jahre vergangen) stelle ich fest, dass diese Erfahrung, die vielleicht flüchtig erschien, etwas Substantielles war. Und das ist interessant, nicht nur, um mein eigenes Leben zu verstehen, sondern auch, um anderen das Geheimnis Gottes nahezubringen.

Warum?
Weil der Gott, an den wir glauben, ein Gott ist, der sich mitteilt. Das Wort ist Fleisch geworden. Gott ist Fleisch geworden, um sich mitzuteilen. Er findet immer neue Wege und sucht die speziellen Wege, die bei mir nicht versperrt sind. Ich denke, dass wir bei den Evangelisierungsbemühungen in der Kirche immer noch sehr auf den traditionellen Wegen unterwegs sind, wo aber jetzt einfach zu viel „Verkehr“ ist. Gott fragt dagegen erst einmal, welche Wege möglicherweise offen sind, welche frei sind. Und dann teilt er sich auf eine passende, persönliche Weise mir. So war es auch bei mir. Deshalb habe ich großen Respekt vor dem Wirken des Geistes im Leben anderer. Der Herr bahnt neue Wege. Und unsere Aufgabe ist es, mit ihm zusammenzuarbeiten.

Heißt das, an diesem „Hauch“ mitzuwirken?
Ja. Ich denke da an die Erfahrung, die ich letzten Sommer in Frankreich gemacht habe. Auf einer Reise in die Normandie machte ich Zwischenstation in der Abtei Fontgombault. An einem Tag begleitete ich den Abt zu einer Beerdigung in einem Dorf, Le Blanc. Es war die Beerdigung eines Mitglieds der „Kleinen Schwestern Jüngerinnen des Lammes“, eine Gemeinschaft, die 1985 gegründet wurde, um Frauen mit Down-Syndrom ein klösterliches Leben zu ermöglichen. Eine der ersten, Marie Ange, die fast dreißig Jahre in dieser Gemeinschaft gelebt hatte, war gestorben. In den Augen der Welt hatte ihr verborgenes Leben keinerlei Bedeutung. Es war nicht nützlich, hatte keinen Wert. Aber an diesem Tag, bei dieser Beerdigung war ich ein privilegierter Zeuge einer ganz essentiellen Lebensgeschichte.

Essentiell?
In dem Sinne, dass ihr Leben ein Wort Gottes verkörperte, das für unsere Welt wesentlich ist. Ein Wort der Zärtlichkeit, der Geduld, aber auch großer Glaubwürdigkeit. Die Geschichte dieser Nonne ist vielleicht wie ein Hauch, ja. Aber wer die Gnade hatte, diesen zarten Hauch auf seinem Gesicht zu spüren, weiß, dass er einen verwandelt. Ich kannte sie nicht, aber in dieser Versammlung von Menschen, die sie zutiefst liebten, habe ich die Fruchtbarkeit und den Adel ihres Lebens erkannt, das Geschenk, das ihr Leben darstellte. Das sehr, sehr klar ein Geschenk war, Und das leuchtete.

Das Evangelium schlägt keine alternative Existenz vor. Sondern es verklärt unser Leben, jetzt und hier.

Was haben Sie erlebt nach dieser ersten „Begegnung“ mit Mahler?
Als ich begann, die Geschichte des Christentums zu studieren, fiel mir die Kontinuität auf, die im Katholizismus vorhanden ist. Und als ich Norwegen verließ, um ein internationales Gymnasium in Wales zu besuchen, machte ich Begegnungen und schloss Freundschaften. Aber ich kann sagen, dass ich mich erst in der Begegnung mit dem monastischen Leben der Kirche angeschlossen habe. Für mich gehören diese beiden Entdeckungen untrennbar zusammen. Als ich siebzehn war, verbrachte ich eine Woche in einem Kloster und erlebte dort Menschen, deren Leben mich beeindruckt und fasziniert hat. Es war das Fleischwerden eines Ideals. Zwei Jahre später wurde ich in die katholische Kirche aufgenommen. Es ging dabei aber nicht um einen Konfessionswechsel. Ich war in der lutherischen Kirche nie verwurzelt, ich gehörte nie richtig dazu.

Eher eine Bekehrung?
Es war eine Heimkehr. Dahin, wo mir schon so viele Dinge vertraut, bekannt, lieb waren.

Das ist geheimnisvoll.
Ja, aber es ist auch logisch. Dass wir nach dem Bild Gottes geschaffen sind, ist nichts Abstraktes. Es ist eine Wirklichkeit mit Fleisch und Blut, die jeder für sich selbst entdecken muss. Je mehr wir das als persönliche Wirklichkeit entdecken, dass wir unsere Wurzeln im Bild Gottes hat, desto mehr fühlen wir uns da zu Hause.

Führt dieses persönliche Entdecken auch zu mehr Glaubwürdigkeit unseres Glaubens?
Wir sind immer in Gefahr, Gott zu einem Götzen zu machen und die Quelle allen Lebens zu etwas Leblosem zu versteinern, etwas viel zu Beschränkten. Wir nehmen es zu selbstverständlich, dass Gott real ist. Er ist hier. Und er spricht zu uns. Jetzt! Das ist Gewissheit: dass Gott in meinem konkreten Leben das, was mir passiert, als Werkzeug zu meiner Bekehrung nutzt. Und sogar zu meiner Heiligung. Es geht darum, die Augen aufzumachen und zu sehen, wie groß und schön diese unerhörte Möglichkeit ist. Wir müssen aufwachen und uns bewusst werden, welch Großes Gott mit uns vorhat, mit Ihnen, mit mir. Der christliche Diskurs muss konkret werden. Das Wort ist schließlich Fleisch geworden. Das ist das innerste Geheimnis unseres Glaubens, ein Geheimnis, das sich, wenn wir es wollen, auch in uns, heute, hier verwirklicht. Das ist möglich, weil Gottes Gnade mich dort erreichen kann, wo ich bin. Die Erlösung gilt meiner Unfähigkeit, meinen Schwächen und meinen Hoffnungen. Der Herr rettet mich. Er ist wirklich der Gott mit uns. Er ist nicht in einem mysteriösen und vagen Jenseits verborgen. Das Evangelium schlägt keine alternative Existenz vor. Sondern es verklärt unser Leben, jetzt und hier.

*Erik Varden wurde 1974 in Sarpsborg (Norwegen) geboren. 2002 trat er bei den Trappisten ein und wurde 2011 zum Priester geweiht. 2015 wurde er Abt des Klosters Mount Saint Bernard in Leicestershire (Großbritannien). Seit dem 3. Oktober 2020 ist er Bischof von Trondheim. Sein Buch Heimweh nach Herrlichkeit. Ein Trappist über die Fülle des Lebens erscheint 2021 bei Herder.