Karakosch. Die Begegnung in der Kirche der Unbefleckten Empfängnis. © Vatican Media/CPP

Einfach da sein

Papst Franziskus wollte mit seiner Reise in den Irak den verfolgten Christen seine Nähe zeigen. „Sie haben nicht zu den Waffen gegriffen. Das zeigt, wie anders ihre Auffassung vom Leben ist.“
Stefano Maria Paci

Die Panzer. Was mir am meisten auffällt, sind die Panzer. Nicht in Kolonnen, auch nicht am Rand der Strecke, sondern unbeweglich, düster und bedrohlich, an den Straßenkreuzungen. Ich zähle nicht weniger als 14, während der 20-minütigen Fahrt vom Flughafen Bagdad zum Präsidentenpalast. Der war einst die Residenz von Saddam Hussein. Von hier aus wurden die Golfkriege geführt. Nun trifft dort der Papst das Staatsoberhaupt und die Regierungsvertreter des Irak. Er habe es als „eine Pflicht“ empfunden, herzukommen, hatte Franziskus uns mitreisenden Journalisten auf dem Flug gesagt. „Eine Pflicht.“

Warum ausgerechnet der Irak? Und warum in dieser Zeit der Pandemie? In einer so unsicheren Lage? Obwohl sowohl seine Leute im Vatikan als auch der Irak versucht hatten, ihm das auszureden? Darüber denke ich nach, während über mir Hubschrauber kreisen, die den Konvoi des Papstes schützen sollen, und eine ungeheure Zahl von Soldaten in Kriegsausrüstung die Straßen sichern. Gepanzerte Fahrzeuge mit Maschinengewehren eskortieren uns, die ganze Gegend wird mit Drohnen überwacht. Ich überlege und finde ein paar Erklärungsansätze. Aber der eigentliche Grund wird mir erst bei der nächsten Station klar, als Franziskus die Kathedrale Unserer Lieben Frau der Erlösung betritt. Hier waren am 31. Oktober 2010 während der heiligen Messe die Milizionäre des „Islamischen Staates“ eingedrungen und hatten ein Blutbad angerichtet: 48 Christen wurden getötet, darunter zwei Priester. Leute, die sich als religiös bezeichneten, schlachteten Menschen ab, die zu einem anderen Gott beteten. Wahnsinn. Der blanke Horror.

Jetzt steht der Papst hier, am Ort des Martyriums. Ich schaue mich um und sehe, dass die Kirche gebaut ist wie ein Schiff, das die Gläubigen trägt. Wie das Boot, das Jesus und die Jünger trug bei dem Sturm auf dem See Genezareth. Jesus war da, er war bei ihnen. Seine Jünger Angst hatten, sie könnten sterben. Aber Jesus war bei ihnen. „Wir sind in dieser Kathedrale [...] versammelt“, sagte Franziskus, „und empfangen Segen durch das Blut unserer Brüder und Schwestern, die hier den äußersten Preis für ihre Treue zum Herrn und zu seiner Kirche bezahlt haben.“ In diesem Moment wird mir klar: Für den Papst (wie für jeden Christen) hat alles mit Da-Sein zu tun. Die Reden kommen später, oder sie betreffen eine andere Ebene. Hier zu sein, da zu sein, seine physische Anwesenheit in dieser Kathedrale, bei den Brüdern und Schwestern, an den Orten der Trauer und des Leidens, im Sturm wie in freudigen Momenten – darum geht es. Und paradoxerweise, so kommt es mir in den Sinn, während Franziskus Blumen auf dem Altar ablegt unter einem großen Bild der Gottesmutter mit dem Jesuskind und still betet, paradoxerweise ist es dasselbe, ob man nun zur Schule geht, in die Universität, zur Arbeit – oder ob man der Papst ist und in den Irak reist: Da zu sein ist das Wichtigste, einzutauchen in die Wirklichkeit.

Mossul © Pool Volo Papale

Der Dialog mit dem Islam bewegt sich, wie auch der unter den christlichen Konfessionen, seit Jahrzehnten auf schwierigem Terrain. Aber hier konnte ich zusehen, wie er Fleisch annahm, wie er konkret wurde in einem Da-Sein, am nächsten Tag, in einer schmalen Gasse in der Altstadt von Nadschaf. Nadschaf ist eine Stadt südlich von Bagdad und zählt zu den heiligen Stätten des schiitischen Islam. Denn hier ist Ali begraben, Vetter und Schwiegersohn Mohammeds und der erste Mann, der sich zum Islam bekehrte. Papst Franziskus trat hier in ein schlichtes Haus, in dem der Großayatollah Al-Sistani wohnt. Offiziell wurde dieses Treffen, das gar nicht leicht zu erreichen war, als „Höflichkeitsbesuch“ bezeichnet. Das sollte zum Ausdruck bringen, dass der Heilige Vater demütig diesem islamischen Führer seine Ehre erweist. Doch Franziskus hat ja schon lange beschlossen, „allen alles zu sein“ und nicht auf der Autorität seines Amtes zu beharren, sondern eher auf seine Glaubwürdigkeit als Person zu setzen. So hatte ich das schon in Abu Dhabi erlebt, als er mit dem Scheich der Azhar, Ahmad al-Tayyib, dem wichtigsten Führer der Sunniten, das Dokument über die Geschwisterlichkeit aller Menschen unterzeichnete (von dem auch seine letzte Enzyklika „Fratelli tutti“ inspiriert ist). Oder in Schweden bei den Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum. „Oft muss man etwas [...] riskieren. Sie wissen, dass es einige Kritiken gibt: dass der Papst einen Schritt von der Häresie entfernt ist“, sagt er uns ganz ernst auf dem Rückflug. „Aber diese Entscheidungen werden immer im Gebet getroffen, im Dialog, im Einholen von Ratschlägen, im Nachdenken. Sie sind nicht so eine Laune“.

Als Franziskus das Haus betrat, war Al-Sistani überraschend aufgestanden, was er sonst nie tut, nicht einmal bei Präsidenten oder anderen religiösen Führern. Eine Geste höchsten Respekts, die viel Widerhall gefunden hat in der schiitischen Welt, auch im benachbarten Iran. Die Demut von Papst Franziskus, wie einst auch die des Heiligen aus Assisi, der den Sultan aufsuchte, hat sofort Wirkung entfaltet.
Ganz wichtig war auch die physische Präsenz des Papstes an den Stätten des Alten Testaments. Und dann bei den verfolgten Christen in Mossul und Karakosch, ehemaligen Hochburgen des IS, dieser Schreckensherrschaft, die im religiösen Gewand auftrat. Das war letztlich das eigentliche Ziel dieser Reise, der Grund, warum der Papst sie unbedingt machen wollte: Er wollte den Christen, die für Christus, für den Glauben an ihn gelitten haben, die Liebe der Kirche bringen.

Es war eine intensive, spannende und bewegende Reise. Manchmal fühlte man sich in einen Kriegsfilm versetzt, dann wieder in das Alte Testament oder die Zeit der ersten christlichen Märtyrer. Die Orte, die wir mit Papst Franziskus bereisten, klangen wie die im Alten Testament: die Ebene von Ninive, Ur in Chaldäa, die Heimat Abrahams ... Von dort stammte der Mensch, auf den sich alle drei großen monotheistischen Religionen zurückverfolgen. „Hier, wo unser Vater Abraham lebte, scheint es uns, als würden wir nach Hause zurückkehren“, erklärte Franziskus bei seinem Besuch in Ur in Chaldäa. „Hier hörte er den Ruf Gottes, von hier aus brach er zu einer Reise auf, die die Geschichte verändern sollte. Wir sind die Frucht dieses Rufs und dieser Reise.“ Das Haus, das wir hier sehen, ist der Überlieferung nach genau das, in dem Abraham lebte. Doch heute sind die Räume zerstört, und die Trümmer müssen von bewaffneten Soldaten bewacht werden.
Neben diesem Haus, mitten in der Wüste, begegnet der Papst in einem Zelt nun den Führern der anderen Religionen dieses Landes. An dem Ort, an dem Gott Abraham das Versprechen gab: Ich werde dich zu einem großen Volk machen. Aber du musst alles verlassen und mir vertrauen. Es war ein Vorschlag, kein Befehl. Und Gott wartete ängstlich auf die Antwort Abrahams, auf den Beginn seines Bundes mit dem Menschen. Don Giussani sagt in einem Text, den mir ein Freund vor meiner Abreise geschickt hatte: „Das Gemüt, das Bewusstsein, das Herz Abrahams muss ganz licht gewesen sein. Es ist der Ort, an dem der Sinn der ganzen Geschichte, der Sinn der Existenz eines jeden Menschen, kommuniziert wurde. Dort beginnt das Ereignis sich mitzuteilen, mit dem Gott ein Faktor in unserem Leben, im Leben des Menschen wird, mit dem Gott einer von uns wird, wie wir. Gott tritt in das Leben des Menschen ein durch ein ganz normales Gespräch. Über dieses Ereignis zu staunen, ist der Beginn unseres Neu-Geboren-Werdens, unseres eigentlichen Lebens.“

Der Papst geht durch die Gassen von Nadschaf, um den Großayatollah Al-Sistani zu besuchen.© Vatican Media/CPP

Als Gott Abraham dann aber bei den Eichen von Mamre in Gestalt der drei Männer besucht und Sara, seiner Frau, vorhersagt, sie werde einen Sohn gebären, da lacht sie, da sie und ihr Gatte schon alt sind. Gott beobachtet das und tadelt sie. Aber „das ändert“, wie Giussani schreibt, „nicht den Sinn seines Hier-Seins, seinen Plan. Die Tatsache, dass Sara lacht, verändert den Plan Gottes nicht.“ Wie tröstlich! Die spätere Geschichte Israels (aber auch die alltägliche Geschichte eines jeden von uns) schwankt ja immer hin und her zwischen dem aufmerksamen Staunen Abrahams und dem ungläubigen Lachen Saras. Doch Gott ist treu, er verbündet sich mit dem Menschen, er „mischt sich ein“, er steht für immer zu seinem Bundesschwur, er hält das Versprechen unverbrüchlicher Freundschaft. Egal, wie wir reagieren. „Ohne dieses Ereignis, wenn er dieses Ereignis vergäße“, schreibt Giussani im Bezug auf die Begegnung Abrahams mit Gott, „wäre er nichts mehr. Wer von der Begegnung mit Gott gezeichnet ist, wer vom Zeichen des auferstandenen Christus gezeichnet ist, kann sich nichts mehr vormachen: ‚Ohne mich könnt ihr nichts tun.‘ Darin besteht ist unser Wert, der Wert unseres Angesichtes, der Gehalt unserer Person.“
Der Gehalt unserer Person ist der Mann aus Nazareth. Und diesen Buchstaben, das N für „Nazarener“, schrieben die Schergen des Islamischen Staates auf die Häuser der Christen, als sie Mossul und Karakosch einnahmen und ihre religiöse Diktatur aufrichteten. Das N sollte ein Zeichen der Schande sein, aber es wurde zum Ruhmeszeichen. Zum Zeichen für den Ruhm der Märtyrer. Das N schrieben die IS-Milizen mit Farbe an die Häuser der Christen oder ritzten es mit einem Stein in die Türen, um diejenigen zu kennzeichnen, die zum Islam konvertieren mussten – oder versklavt, getötet wurden, oder fliehen mussten.

Um nach Mossul und Karakosch zu gelangen, fliegen wir früh morgens von Bagdad ab. Als wir in Erbil landen, warten schon Hubschrauber und Kleinbusse auf uns. Wir werden eskortiert von sechs gepanzerten Fahrzeugen, auf denen Soldaten an Maschinengewehren stehen. Ich schaue mir die Straße, auf der wir unterwegs sind, genau an: Es ist just die Straße, auf der die Christen vor dem IS geflohen sind, der ihre Städte und Dörfer erobert hatte. Innerhalb weniger Tage flohen 120.000 Menschen zu Fuß, ohne etwas mitnehmen zu können, nach Erbil. Die Älteren hatten es oft nicht einmal geschafft, ihre Medikamente mitzunehmen. In Erbil, im Gebiet der irakischen Kurden, fanden sie Zuflucht. Aber sie mussten zunächst im Freien schlafen, hatten weder Kleidung noch Nahrung. Im Flugzeug hatten wir Papst Franziskus ein Dokument des IS gezeigt, auf dem der Preis für christliche und jesidische Mädchen, je nach Alter und Zustand, angegeben war, die sie gefangengenommen hatten und nun als Sklaven verkauften.

In Mossul, das drei lange Jahre lang (von Juni 2014 bis Juli 2017) die Hauptstadt des „Islamischen Staates“ war, sprach Franziskus ein Gebet für die Opfer des Krieges. Er stand dabei in der Mitte eines Platzes, der einst von vier Kirchen umgeben war. Alle wurden von den Terroristen zerstört. Wie der Rest der Stadt liegen sie noch heute in Trümmern. Es sieht aus, als hätte es ein schreckliches Erdbeben gegeben. Aber es waren Menschen, die hier alles verwüstet haben. Franziskus erklärte: „Der tragische Rückgang der Jünger Christi hier und im ganzen Nahen Osten ist ein unermesslicher Schaden“ für die ganze Gesellschaft. Damit brachte er auch zum Ausdruck, dass der Glaube und die katholische Kirche nicht nur europäisch und westlich sind. Ihre Ursprünge liegen, auch wenn das oft vergessen wird, hier im Nahen Osten, wo die Präsenz der Christen bisher immer gut verwurzelt war, aber nun zu verschwinden droht.

Eine Christin wartet im Franso-Hariri-Stadion auf den Papst© Fariq Faraj Mahmood/Anadolu Agency via Getty Images

Schließlich kommen wir nach Karakosch. Das ist die Stadt mit dem größten Anteil an Christen im Irak, 90 Prozent, in einem Land, in dem die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung muslimisch ist. Während ich auf den Papst warte in der Kirche der Unbefleckten Empfängnis, betrachte ich die farbenfrohen traditionellen Kleider, die viele Frauen tragen. Und ich denke daran, was diese Frauen erlebt und erlitten haben. Diese Kirche, die nun so schön wieder aufgebaut ist, wurde in Brand gesteckt. Die Kirchenbänke waren verbrannt, die Wände, die nun mit Marmor verkleidet sind, waren schwarz geworden vom Rauch, die Säulen hatten Einschüsse, die Heiligenstatuen waren zerbrochen, die liturgischen Bücher zerschnitten worden. Die Christen hier haben Schlimmes erlitten, und sich nicht verteidigt. Sie haben nicht zu den Waffen gegriffen. Sie blieben wehrlos. Das zeigt, wie anders ihre Auffassung vom Leben ist. Obwohl man ihnen alles geraubt hatte, besaßen sie doch alles, was sie brauchten: das ganz konkrete Da-Sein Christi. Was sie erlebt haben, macht überdeutlich, was man wirklich braucht zum Leben. In dieser Kirche sah ich nun mit Staunen und Dankbarkeit diese Zeugen, die verächtlich gemacht wurden, die alles verloren haben, und trotzdem zu ihrem Glauben standen.

Und ich erlebe, mit welchem Blick, mit welcher Ergriffenheit sie jetzt auf den Papst schauen, den Stellvertreter Christi auf Erden, der hier zu ihnen gekommen ist, um die zu ehren, die gestorben sind, und die, die überlebt haben, zu denen, die mit Blut und Tränen und mit Hoffnung eine neue Seite geschrieben haben in der Geschichte der Märtyrer. Der Papst ist hierher gekommen, um ihnen die zärtliche Liebe Christi zu bringen. Denen, auf deren Häuser sein Zeichen geschrieben wurde aus Verachtung. N wie Nazarener. Das sind sie. Und das sind wir.

(Artikel aus Tracce, März 2021)