„Christus ist für dich durch eine Begegnung Geschichte geworden“
Auszug aus dem Seminar der Gemeinschaft mit Julián Carrón vom 16.6.21. Beitrag über das Dekret des Dikasteriums für die Laien, die Familie und das Leben.Ihr alle habt Gelegenheit gehabt, das Dekret des Dikasteriums für die Laien, die Familie und das Leben vom 11. Juni zu lesen, das die Fraternität wie auch viele andere Vereinigungen und Bewegungen in der Kirche betrifft. Es ist unsere Absicht, unverzüglich die geforderten Änderungen innerhalb des Zeitrahmens und in der Art und Weise, wie es das Dekret vorsieht, umzusetzen. Wie ich schon gesagt habe, erlaubt uns diese neue Herausforderung, das Wachstum des Bewusstseins, das wir von uns selbst haben, zu überprüfen.
Frage Seit Freitag ist über das Dekret des Dikasteriums bei verschiedenen Gelegenheiten diskutiert worden. Ich las es und sagte mir: „keine Gnadengabe fehlt euch“ (1Kor 1,7). Ich habe keine Angst. Der Weg, den du mich in diesen Jahren hast gehen lassen, macht mich sicher. Gott ist treu und die Geschichte gehört ihm. Ich bin neugierig, was geschehen wird. Bitte, denke nicht, dass ich die Tragweite dieses Ereignisses für die Bewegung nicht verstehe, aber ich bin nicht erschrocken. Ich bete und schaue und schweige. Wenn du diese Haltung jedoch naiv, oberflächlich finden solltest, sage es mir, denn viele denken das von mir, und ich würde gerne verstehen, was ich falsch einschätze.
Julián Carrón: Mehrere Personen haben mir geschrieben und um Hilfe bei der Beurteilung der Anforderungen des Dekrets des Dikasteriums für die Laien, die Familie und das Leben gebeten. Dabei soll die eigene Erfahrung nicht übergangen werden. Wie man sieht, ist dies wieder einmal ein Umstand, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Meine erste Reaktion ist - die Freundin, die soeben gesprochen hat, hat es bemerkt - die absolute Bereitschaft zum Gehorsam in Bezug auf die angeforderten Veränderungen in den Leitungsgremien der Vereinigungen von Gläubigen. Der Gehorsam ist die christliche Tugend, die uns Don Giussani immer eingeimpft hat, indem er sie uns ständig bezeugt hat. Ich habe meine Bereitschaft in dem Brief bekräftigt, den ich am folgenden Tag an Kardinal Farrell geschickt habe und den ihr auf der CL-Website finden könnt: „In Bezug auf das Schreiben, mit dem Sie mir vorab den Text des Allgemeinen Dekrets über die Ausübung von Leitung in Internationalen Vereinigungen von Gläubigen übermittelt haben, möchte ich Ihnen versichern, dass die Zentrale Diakonie der Fraternität von Comunione e Liberazione die geforderten Änderungen vornehmen wird, und zwar in der Weise und innerhalb der Fristen, wie es in dem Dekret festgelegt ist“. Wir können diesen Umstand wiederum aufgrund der Erfahrungen, die wir gemacht haben und machen, anschauen. Auch dieser Umstand ist eine Gelegenheit, die sich jedem von uns bietet. Er fordert uns heraus, die Frage nach dem, was bleibt, zu beantworten, und die Antwort anhand unserer Erfahrung zu überprüfen. In der Beziehung unter uns werden wir nicht durch Rollen definiert, sondern durch die Neuheit, deren Träger wir sind. Deshalb können sich die Rollen ändern, und das sollen sie auch. Wir können dabei einander weiterhin die Neuheit bezeugen, die uns ergriffen hat. Das ist der entscheidende Punkt. Damit wird gleichzeitig die Bedeutung dieses Umstandes deutlich.
Was steht für uns angesichts dieses Umstandes auf dem Spiel? Wie immer, unsere Reifung (wie wir in den Beiträgen des heutigen Abends gesehen haben, einer wie der andere), das heißt, dass der Glaube auf den Prüfstand gestellt wird. Jeder von uns hat auf die eine oder andere Weise auf das Dekret reagiert (so wie wir reagiert haben auf das Seilbahnunglück, auf die Rückkehr zur „Normalität“ [nach dem Lockdown, a.d.Ü.], auf die Einsicht, dass manche Dinge immer deutlicher fehlen). Jeder konnte dabei an sich selbst entdecken, was Don Giussani im zehnten Kapitel des Buchs Der Religiöse Sinn „die Struktur der Reaktion, des Menschen angesichts der Wirklichkeit“ genannt hat. Die „Struktur unserer Reaktion“ angesichts der Wirklichkeit ist prägend für den Weg, den jeder von uns zurückgelegt hat. Denn in der „Struktur der Reaktion“ kommt alles zum Vorschein, was der einzelne Mensch ist, wie er lebt, seine Selbsterfahrung, sein Weg, den er schon zurückgelegt hat, alles, was er dabei erworben hat oder noch zu erwerben hat. In der „Struktur der Reaktion“, in der Art und Weise, wie ich reagiere, finde ich Hinweise auf die Schritte, die ich bei der persönlichen Aneignung des Glaubens gemacht habe und auch Hinweise auf die Schritte, die vom erzieherischen Standpunkt aus noch zu tun sind.
Es geht hier und heute mehr denn je darum, dass der einzelne Mensch durch die Herausforderungen in den Umständen, denen er sich stellen muss, reift; das hat Don Giussani immer wieder betont. Wir alle wünschen uns doch, dass uns selbst die neuartige Menschlichkeit, die Frucht des Glaubens ist, zu eigen wird, uns in Fleisch und Blut übergeht. So hat es einer der ersten Beiträge heute Abend zum Ausdruck gebracht. Der Mensch braucht Hilfe, damit er sich immer besser selbst wahrnimmt. Er reift nicht durch abstrakte Gedanken und Überlegungen, sondern durch das, was geschieht. Warum war Don Giussani so an der Entwicklung dieses Bewusstseins, das der Mensch von sich selbst hat, interessiert? Er war daran so interessiert, weil „die Stärke eines Subjekts in der Intensität des Bewusstseins liegt, das es von sich selbst hat“ (Il senso di Dio e l'uomo moderno, Bur, Mailand 2010, S. 132). Das ist die wahre Stärke des Menschen: das Bewusstsein, das er von sich selbst hat.
Wenn wir an das denken, was wir heute Abend gehört haben und angesichts jeder Herausforderung müssen wir uns daran erinnern, dass unser Gegner im Kampf (wie wir in den Exerzitien gesagt haben) das Nichts ist. Lassen wir uns nicht verwirren! Die Frage, die wir beantworten müssen, ist auch jetzt in diesem Fall wieder: Was brauchen wir, um in allen Umständen leben zu können? Alles andere kommt als Folge davon danach. Wir interessieren uns für den Glauben insofern er eine angemessene Antwort auf die Anforderungen des Lebens darstellt.
Mich hat beeindruckt, was Don Giussani 1990 zu Universitätsstudenten sagte: „Was zählt, ist das Subjekt, aber das Subjekt [...] ist das Bewusstsein eines Ereignisses [wenn es uns zuinnerst formt, sehen wir das in der Art der Rückwirkung, die alles auf uns hat]. Das Subjekt ist das Bewusstsein des Ereignisses Christi, der für dich durch eine Begegnung Geschichte geworden ist, und du hast ihn erkannt. Wir müssen zusammenarbeiten, uns gegenseitig bei dem Hervortreten neuer Subjekte helfen. Neue Subjekte, das heißt Menschen, die sich eines Ereignisses bewusst sind, das für sie Geschichte wird, sonst können wir zwar organisatorische Netzwerke schaffen, aber wir bauen nichts auf, wir geben weder der Welt noch uns selbst etwas Neues. Aus diesem Grund [Achtung!] ist der Maßstab für das Wachstum der Bewegung die Erziehung des Menschen im Glauben: dass der Mensch ein Ereignis anerkennt, das Geschichte geworden ist. Christus ist für dich Geschichte geworden, weil er dich durch das, was wir eine „Begegnung“ nennen, berührt hat, er ist auf irgendeine Weise in dein Inneres vorgedrungen [dir in Fleisch und Blut übergegangen], er ist „inter-esse“ geworden, er ist zu deinem Wesen geworden“ (Un evento reale nella vita dell'uomo. 1990-1991, Bur, Mailand 2013, S. 39). Wenn wir uns die nötige Zeit geben, wird uns die Begegnung mehr und mehr durchdringen und uns dankbar machen für das Ereignis, das uns widerfahren ist. Sie wird uns erlauben, uns jedem Umstand zu stellen, auch den Umständen, die wir heute Abend erwähnt haben. Alle Zeugnisse haben uns dies gezeigt, und sie dokumentieren, dass es sich nicht um einen Traum, sondern um eine reale Erfahrung handelt. Und so können wir wirklich neugierig darauf werden, zu sehen, wie die neuen Umstände uns noch klarer zeigen können, dass Christus uns gleichzeitig ist. Diese Gleichzeitigkeit Christi erkennen wir an seiner einzigartig neuen Fähigkeit, unser Ich hervorzubringen.
Aus diesem Grund hoffe ich, dass sich niemand die Gelegenheit dieser Überprüfung entgehen lassen möchte. Helfen wir uns gegenseitig, das Bewusstsein dafür wach zu halten, was für jeden von uns in den kommenden Monaten auf dem Spiel steht, denn die Wirkung des Lockdowns ist noch nicht abgeklungen, und jeder von uns muss weiterhin selbst überprüfen, was er gelernt hat. Die Prüfung des Glaubens ist nicht zu Ende, genauso wenig wie die Herausforderungen zu Ende sind. Alles ist eine Gelegenheit zur Überprüfung. Angesichts von allem haben wir die Möglichkeit zu sehen, ob es etwas gibt, das bleibt (wie wir heute Abend gesehen haben) und das Subjekte hervorbringt, die in der Lage sind, sich allen Umständen zu stellen.