Patriarch Pierbattista Pizzaballa

„Christus wieder in den Mittelpunkt der menschlichen Erfahrung stellen“

Predigt des Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Pierbattista Pizzaballa, bei der Messe zum 100. Geburtstag von Don Giussani in der Katharinenkirche in Bethlehem, 11. März 2022
Pierbattista Pizzaballa

Liebe Brüder und Schwestern, möge der Herr euch Frieden schenken! Unsere Messfeier gehört zu den vielen Heiligen Messen, die in der ganzen Welt anlässlich des 40. Jahrestages der päpstlichen Anerkennung der Fraternität von Comunione e Liberazione gefeiert werden. Sie stellt aber auch die Gelegenheit dar, für die Präsenz eurer Bewegung in unserer Kirche in Jerusalem zu danken und über diese Gegenwart nachzudenken.

Der Februar ist der Monat, in dem Don Giussani in den Himmel gegangen ist, zudem jährt sich seine Geburt dieses Jahr zum hundertsten Mal. Wie ihr seht, gibt es eine Reihe von Ereignissen, die uns mit Freude dazu veranlassen, Gott zu danken. Er ist derjenige, der Don Giussani in seine Kirche berufen und ihm eine lebendige und ursprüngliche Erfahrung des Glaubens geschenkt hat. Dazu eine Methode, den Glauben zu leben, eine grenzenlose Liebe und eine Hoffnung, die es verstand, die schwierigsten Ereignisse zu überwinden, um das Licht Christi zu finden, das jeden Menschen in die Zukunft führen kann.

Es ist besonders wichtig, hier in Bethlehem an Don Giussani zu erinnern. Wenn ich die Mitglieder der Bewegung, vor allem diejenigen, die über eine kürzere oder längere Zeit an der Seite von Don Giussani gelebt haben, fragen würde: „Worin liegt das Herz eures Charismas?“, würden sie, zumindest größtenteils, antworten: „In der Menschwerdung“. Dies scheint banal zu sein, denn die Menschwerdung ist auch das Herz des christlichen Glaubens und daher allen gemeinsam. Aber Don Gius, wie er gerne genannt wurde, hatte erkannt, dass die Gesellschaft dabei war, epochale Veränderungen zu durchlaufen, die es so noch nie gegeben hatte. Veränderungen mit sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen enormen Ausmaßes. Veränderungen, in denen es schien, als seien die meisten der Meinung, dass die Rettung der Welt ausschließlich von Menschenhand möglich war und nicht durch religiöse Theorien, die ihrer Auffassung nach vom wirklichen Leben abgekoppelt waren. Es war notwendig, neue Wege zu finden, um den Glauben in dieser Gesellschaft zu vermitteln, die so anders und in mancher Hinsicht sogar feindselig war. Das Herzstück unseres Glaubens, die Menschwerdung, drohte nur eine Definition zu bleiben, ein Glaubenssatz, aber kein gelebtes Leben, keine Erfahrung oder Begegnung. Die Kluft zwischen Glauben und Leben, zwischen Kirche und Welt wurde immer größer. An die Menschwerdung zu glauben, bedeutet jedoch, die Realität, die reale Welt, mit den Augen eines erretteten Menschen zu sehen. Es bedeutet, zu glauben und zu erfahren, dass Christus, der einzig wahre Erlöser, dieser realen Welt, so wie sie ist, begegnet ist. Und es bedeutet, dass ich in dieser Welt, hier und jetzt, immer noch der Erlösung begegnen und damit Christus sehen kann. Soweit ich weiß, war dies die Intuition von Don Gius: Christus wieder in den Mittelpunkt der menschlichen Erfahrung stellen, ihn im wirklichen Leben Fleisch werden lassen, sein Gesicht in dieser unserer Welt sehen.



Nazareth und Bethlehem stehen also im Zentrum von Giussanis Erfahrung. Jenes junge Mädchen aus Nazareth und das Kind, das in Bethlehem geboren wurde, sprechen zu uns von einem Gott, der Mensch wird, um in unserer Mitte zu wohnen, um unsere Natur, unser Gesicht und unsere Gewohnheiten anzunehmen. Von einem Gott, der auch unsere Schwächen erlebt. Er will sich nicht verstecken, er ist vielmehr in jede Wendung der menschlichen Geschichte eingetreten, damit wir ihn an jedem Ort und in jeder Situation finden, erkennen und lieben können.

Es ist kein Zufall, dass Don Giussani von seiner Pilgerreise ins Heilige Land als einem grundlegenden Ereignis in seinem Leben sprach. Er war sich jedoch auch sicher, jeden Tag auf den Spuren Christi zu leben, jeden Tag auf seine Stimme zu hören, sich jeden Tag nach seinem Gesicht zu sehnen. Wir können wirklich sagen, dass jeder Ort für ihn das Heilige Land war. Das ist auch eine Lehre für uns, die wir hier leben und uns vielleicht an die Vertrautheit mit Christus gewöhnen, sie ignorieren oder sogar vernachlässigen.


In gewisser Weise sind das Heilige Land, Jerusalem, Nazareth und Bethlehem, das Herz der Bewegung: Hier wurde alles geboren, hier kann jeden Tag alles neu geboren werden. Die kleine Gemeinschaft von CL im Heiligen Land hat daher eine Verantwortung gegenüber der gesamten Bewegung. Die Kirche von Jerusalem hat die Aufgabe, jeden Tag der Menschwerdung des Heiligen zu gedenken und die Weltkirche daran zu erinnern, dass dieses Ereignis, die Menschwerdung, notwendigerweise mit diesem Land verbunden ist. Hic Verbum Caro factum est. Die Bewegung von CL im Heiligen Land hat dieselbe Funktion, nämlich diese einzigartige und besondere Verbindung zwischen der Bewegung in der Welt und dem Land des Heiligen zu sein. In gewissem Sinne seid ihr die Hüter des Charismas von CL in der Welt.

Aber auch hier im Heiligen Land müssen wir die Intuition von Don Gius sichtbar machen, der eine bewundernswerte Synthese zwischen Leben und Glauben zu schaffen vermochte und diese gleichzeitig über mehrere Generationen hinweg an Tausende von Menschen auf der ganzen Welt weitergeben konnte. Auch hier müssen wir, ja wir, Hüter der Menschwerdung, erfahren, dass der Glaube Leben ist, dass Christus wirklich die Antwort auf unsere tiefsten Sehnsüchte ist und dass wir nur durch ihn einen wirklich befreienden Blick auf unsere Gesellschaft im Heiligen Land haben können. Denn auch wir, die wir von jahrelangen Konflikten und enormen sozialen Ungleichheiten geplagt sind, laufen Gefahr, nach einfachen und sofortigen Antworten zu suchen, die immer falsch und kurzsichtig sind. Auch wir brauchen jemanden, der uns zu einem wahren und befriedigenden Blick auf unser tägliches Leben zurückbringt. Die Katechese, Pfarrkonferenzen oder Pastoralpläne können uns nicht die Augen aufmachen. Nur durch die Begegnung mit einem befreiten Menschen können wir Befreiung erfahren. Nur ein erlöster Mensch kann Zeugnis von der Erlösung ablegen. Seid daher für unsere Kirche die Menschen, die uns helfen, diese schwierige, aber wunderbare Synthese zwischen empfangenem Glauben und gelebtem Leben zu schaffen.


Eine letzte Überlegung: Teil eures Charismas war es auch, eure Erfahrungen in die Welt der Kultur zurückzubringen, das christliche Denken in den Kontext der Universität und der kulturellen Welt zu bringen, wo es leider fehlte. Selbst in unserer Welt im Heiligen Land, wo der Islam und das Judentum, lebendig, aber auch neugierig und offen, kulturell in der Mehrheit sind, besteht ein immer dringenderes Bedürfnis nach einer christlichen Präsenz. Man wünscht sich eine christliche Gegenwart, die es versteht, in den Formen, die unserem gesellschaftlichen Kontext angemessen sind, ein schönes und bedeutungsvolles Wort zur kulturellen Welt zu sagen, konstruktiv und gelassen, kritisch und freundlich. Die Menschen erwarten das, sie suchen es, sie sehnen sich danach. Es wäre eine wichtige Möglichkeit, mit eurem Charisma zum Leben unserer kleinen Kirche im Heiligen Land beizutragen. Denn sie kann nicht darauf verzichten, hier und heute in verständlichen Formen, in Bezug auf die verschiedenen sozialen und kulturellen Wirklichkeiten des Heiligen Landes, von Jesus zu sprechen.

Bevor wir zum Schluss kommen, müssen wir auch an die Geschehnisse in Europa denken und unsere Gebete an die Menschen dort richten. In diesen schrecklichen Tagen beten wir für unsere geliebte Ukraine und bitten Maria, die Mutter Gottes und die Mutter des russischen und ukrainischen Volkes, auf dass ein Wunder des Friedens geschehen möge. Es ist eine Tragödie, die auch Tausende von Russen und Ukrainern tief bewegt, die hier unter uns leben und die die tiefen Wunden dieses unbegreiflichen Konflikts tragen.

Und schließlich vergessen wir nicht, weiterhin für dieses Heilige Land zu beten, vor allem für die christliche Gemeinschaft und für den Frieden zwischen den Völkern.
Bitten wir Gott, auch auf die Fürsprache von Don Giussani, dem Diener Gottes, unseren Tagen von Neuem Freude, Gemütsruhe und Frieden des Herzens zu schenken.
Amen.