Borodyanka, Ukraine, 9. April 2022 (©Ansa/Lorenzo Attianese)

„Christus wird dort gekreuzigt, heute“

Homilie von Papst Franziskus am Palmsonntag

Auf Golgatha prallen zwei Denkweisen aufeinander. So kontrastieren im Evangelium die Worte des gekreuzigten Jesus zu den Worten derer, die ihn kreuzigen. Letztere wiederholen einen Kehrreim: „Rette dich selbst“. Die führenden Männer sagen es: »Er soll sich selbst retten, wenn er der Christus Gottes ist, der Erwählte« (Lk 23,35). Die Soldaten bekräftigen es: »Wenn du der König der Juden bist, dann rette dich selbst!« (V. 37). Und schließlich wiederholt einer der Verbrecher, der es gehört hat, den Gedanken: »Bist du denn nicht der Christus? Dann rette dich selbst!« (V. 39). Sich selbst retten, sich um sich selbst kümmern, an sich selbst denken; nicht an andere, sondern nur an die eigene Gesundheit, den eigenen Erfolg, die eigenen Interessen denken; an das Haben, an die Macht, an das Erscheinen. Rette dich selbst: Das ist der Kehrreim der Menschheit, die den Herrn gekreuzigt hat. Denken wir daran.

Aber der Denkweise des Ichs stellt sich die Denkweise Gottes entgegen; das Rette-sich-selbst stößt sich mit dem Retter, der sich selbst opfert. Im heutigen Evangelium ergreift Jesus auf dem Kalvarienberg ebenso wie seine Gegner dreimal das Wort (vgl. V. 34.43.46). Aber er nimmt keineswegs etwas für sich in Anspruch, ja er verteidigt oder rechtfertigt sich nicht einmal. Er betet zum Vater und erweist dem guten Schächer gegenüber Erbarmen. Besonders eines seiner Worte markiert den Unterschied zum Rette-dich-selbst: »Vater, vergib ihnen« (V. 34).

Lasst uns bei diesen Worten verweilen. Wann spricht der Herr sie aus? In einem bestimmten Augenblick: während der Kreuzigung, als er spürt, wie die Nägel in seine Handgelenke und seine Füße eindringen. Versuchen wir uns vorzustellen, welche stechenden Schmerzen das verursacht hat. Da, im heftigsten körperlichen Schmerz der Passion, bittet Christus um Vergebung für diejenigen, die ihn durchbohren. In solchen Momenten wäre einem nur danach zumute, seine ganze Wut und sein Leid herauszuschreien; stattdessen sagt Jesus: Vater, vergib ihnen. Im Gegensatz zu anderen Märtyrern, von denen die Bibel spricht (vgl. 2 Makk 7,18-19), macht er den Schergen keine Vorwürfe und droht auch keine Strafe im Namen Gottes an, sondern betet für die Übeltäter. An den Galgen der Demütigung angeschlagen, steigert er die Intensität der Gabe, die zur Ver-Gebung wird.

Brüder und Schwestern, denken wir daran, dass Gott auch mit uns so umgeht: Wenn wir ihm mit unseren Taten Schmerz zufügen, leidet er und hat nur einen Wunsch: uns vergeben zu können. Blicken wir auf den Gekreuzigten, um uns dessen bewusst zu werden. Aus seinen Wunden, aus den Löchern des Schmerzes, die unsere Nägel gebohrt haben, entspringt die Vergebung. Schauen wir auf Jesus am Kreuz und denken wir daran, dass uns niemals gütigere Worte erreicht haben: Vater, vergib. Schauen wir auf Jesus am Kreuz und erkennen wir, dass wir nie einen zärtlicheren und mitfühlenderen Blick erhalten haben. Schauen wir auf Jesus am Kreuz und begreifen wir, dass wir nie eine liebevollere Umarmung erhalten haben. Schauen wir auf den Gekreuzigten und sagen wir: »Danke, Jesus: Du liebst mich immer und vergibst mir immer, auch dann, wenn ich mich schwertue, mich selbst zu lieben und mir zu vergeben«.

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