Ratzinger im Jahr 1985 © Gianni Giansanti/Gamma-Rapho via Getty Images

Mein Lehrer

Jaspers' Philosophie, Glaubenszweifel und die Lehren von Professor Ratzinger. Sein Schüler und Assistent in Regensburg, Josef Zöhrer, erzählt von der Freiheit und Offenheit einer Beziehung die nie unterbrochen wurde

Meine erste Begegnung mit dem zum damaligen Professor Joseph Ratzinger fällt in die Zeit nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils, als in der Kirche vieles in Bewegung geraten und die Gesellschaft durch die Studentenunruhen von 1968 erschüttert worden war. Allgemein und vor allem an den theologischen Fakultäten herrschte damals eine Aufbruchstimmung, die das bisher Geltende radikal in Frage stellte und für die Kirche einen neuen Frühling verhieß.

Ich selbst war jedoch kurz nach dem Beginn meines Theologiestudiums in eine Glaubenskrise geraten. Einen ersten Halt fand ich wieder in der Philosophie von Karl Jaspers, auf den ich per Zufall gestoßen war und der mich durch die radikale Offenheit, in der er die Fragen des Menschseins anging, faszinierte. Das Problem war, dass Jaspers wohl zu einem philosophischen Glauben hinführt, die Möglichkeit der Offenbarung und der Menschwerdung Gottes jedoch radikal ausschließt. Mir erschienen seine Argumente damals plausibel, zugleich merkte ich, dass sie mich vom Glauben der Kirche wegführen würden.

Einer meiner Brüder schenkte mir Joseph Ratzingers vor kurzem erschienene „Einführung in das Christentum“, die mich sogleich ansprach, weil sie mir einen ähnlich offenen Geist zu atmen schien, wie er mir bei Jaspers begegnet war. Ratzinger, so war mein Eindruck, wich weder den zentralen menschlichen Fragen aus, noch gab er sich mit bloß modern klingenden Antworten zufrieden. Dies war auch der Grund, weshalb ich mich entschloss, mein Studium an der Universität Regensburg fortzusetzen, an der Ratzinger damals lehrte.

Mir ist noch lebhaft Erinnerung, wie ich mit etwas Bangen der ersten Begegnung mit dem damals bereits weltberühmten Theologen entgegensah und dann erstaunt war, als mich ein ganz unscheinbarer und schlichter Mann empfing, der sich nach meinem bisherigen Weg erkundigte und meine Anliegen anhörte. Er ermutigte mich, meine Fragen ernst zu nehmen und noch gründlicher in Jaspers’ Philosophie einzudringen und sie auf ihre Voraussetzungen und tragenden Elemente hin zu befragen.

Abtei Weltenburg, 1977: das letzte Treffen der Doktoranden mit Ratzinger vor seiner Ernennung zum Erzbischof von München, zusammen mit Karl Rahner.

Dieser erste, unspektakuläre Eindruck, den Ratzinger auf mich machte, hat sich später immer neu bestätigt und vertieft, vor allem in der Zeit, als ich ihm als „Wissenschaftliche Hilfskraft“ in vielfältiger Weise zur Seite stehen durfte – angefangen von der Mithilfe bei der Vorbereitung von Veröffentlichungen bis hin zu gemeinsamen Autofahrten. Da er kein eigenes Auto besaß und sein Haus auf meinem Weg zur Universität lag, holte ich ihn dort oft mit meinem klapprigen Renault 4 ab. Wir unterhielten uns dann meist über aktuelle Ereignisse oder erzählten uns Anekdoten aus dem Alltag und lachten auch viel miteinander. Er besaß ja einen sehr feinen, bisweilen auch ironischen Humor. Einmal, als bei meinem Auto die Batterie streikte, stieg er mit aus und half mir beim Anschieben.

Wenn ich persönliche Fragen hatte, wusste ich, dass ich mich immer an ihn wenden konnte. Er hörte aufmerksam zu und seine Antworten waren meist kurz, aber einfühlsam und präzise. Meinen späteren Weg und den meiner Familie hat er aus der Ferne und mit Interesse begleitet. Vielleicht ist es diese Einheit von einfacher, bescheidener Menschlichkeit, tiefem Glauben und überragender Geistigkeit, die seine Person so außergewöhnlich machte.

Im Kreis von Ratzingers Doktoranden, zu dem ich nach meinem Abschlussexamen stieß, waren ganz unterschiedliche Temperamente und theologische Richtungen vertreten. Unser Lehrer ließ aber jedem den Raum, den er brauchte, um seinen eigenen Weg zu finden. Er begleitete uns mit kritischen Fragen und achtete bei unseren Forschungen vor allem auch auf wissenschaftliche Genauigkeit. Von ihm stammt die Aussage, dass Gott uns an der „langen Schnur“ führen würde. Genauso habe ich auch ihn erlebt. Selten war aus seinem Mund ein Wort der Zurechtweisung zu hören, vielmehr ließ uns Zeit, um zu wachsen, auch wenn manche dann ganz andere Wege gingen. Aber auch zu diesen blieb von seiner Seite her die Verbindung bestehen.

Besonders am Herzen lagen ihm seine Schüler aus nichteuropäischen Ländern, denen er nahelegte, sich mit der Kultur ihrer Herkunft auseinanderzusetzten und von dieser her das Neue des christlichen Glaubens zu erkunden und verstehen zu lernen.
Ein besonderes Erlebnis waren für uns Joseph Ratzingers Vorlesungen. In ihnen trat sein eigenes Denken am deutlichsten hervor und ich habe aus ihnen am meisten gelernt. Er erschloss uns, ausgehend von den Fragen der Gegenwart, die innere Logik des Glaubens der Kirche, indem er aufzeigte, wie dieser durch die Jahrhunderte hindurch jeweils auf die Fragen der Zeit Antwort gab.

Das Miteinander von methodischer Klarheit, Offenheit für die gesamte Wirklichkeit zusammen mit der Achtung der Freiheit jedes Einzelnen war auch für die monatlich stattfindenden Doktorandenseminare kennzeichnend, die stets mit der Heiligen Messe begannen. Die offene Atmosphäre ist für mich und für meine spätere Lehrtätigkeit an der Hochschule beispielgebend geworden, und ich habe versucht, meinen Studenten mit jener Haltung zu begegnen, die er uns entgegenbrachte. In dieser Hinsicht waren sich Papst Benedikt und Don Giussani sehr ähnlich, auch wenn beide sehr unterschiedliche Temperamente hatten.

Josef Zohrer und seine Frau Gisela grüßen Benedikt XVI.

Ganz besondere Ereignisse waren die jährlichen Wochenendseminare zu aktuellen Themen, zu denen bedeutsame Wissenschaftler aus unterschiedlichen Fachgebieten als Referenten eingeladen wurden. An diesen gemeinsamen Treffen hielt unser Lehrer auch nach seiner Berufung zum Erzbischof von München und Freising fest und lud dazu auch seine früheren Schüler ein. Es war dann sein ausdrücklicher Wunsch, dass der auf diese Weise entstandene „Schülerkreis“ auch nach seiner Wahl zum Nachfolger Petri fortbestand, und er nahm bis zu seinem Rücktritt aktiv gestaltend an den jährlichen in Castelgandolfo stattfindenden Tagungen teil. Dabei konnten wir Papst Benedikt wieder ganz als den „Professor“ erleben, der aufmerksam den Referenten zuhörte, die anschließende Diskussion moderierte und deren Ergebnisse in eindrucksvoller Weise zusammenfasste und würdigte. Wir hatten den Eindruck, dass ihm diese offene akademische Atmosphäre, in der nicht jedes seiner Worte in die Öffentlichkeit getragen wurde, gutgetan hat.

Das Bild, das ich von dem nunmehr heimgegangene Papst emeritus Benedikt für immer bewahre, ist das von einem großen Zeugen des Glaubens, der uns allen in theologischer wie auch in menschlicher Hinsicht weit voraus war. Dankbarer bin ich ihm für die Nähe und das selbstverständliche Vertrauen, das er mir und auch meiner Frau Gisela, die für ihn das Interviewbuch „Zur Lage des Glaubens“ aus dem Italienischen übersetzen durfte, über all die Jahre hinweg entgegengebracht hat.