„Das Leben ist Leben, wenn es geschenkt ist“
Auszüge aus einem Dialog bei der Internationalen Versammlung der Verantwortlichen von CL am 29. August 2024 unter der Überschrift „Gerufen, das heißt gesandt: der Beginn der Mission“Matthew, Schweden: Die schwedische Gesellschaft ist sehr individualistisch, jeder ist sein eigener Herr, und diese Mentalität ist bis zu einem gewissen Grad auch in die katholische Kirche eingedrungen, zumindest in der Gegend, in der wir leben. Seit meine Frau und ich vor acht Jahren nach Schweden gezogen sind, haben wir uns auch innerhalb der Kirche nicht sehr wohl gefühlt. Lange Zeit hatten wir aufgrund unserer mangelnden Sprachkenntnisse nicht den Mut, am Leben und den Aktivitäten der Pfarrei teilzunehmen. In den letzten Jahren wurde uns jedoch klar, dass es sich um ein tieferes und persönlicheres Problem handelte: Wir waren uns nicht bewusst, dass die Werke Gottes nicht in unserer Hand liegen. Unsere Scheu war mehr auf Stolz zurückzuführen, denn wir dachten, wir würden uns blamieren, weil wir nicht gut Schwedisch sprächen. Wie könnten wir unsere Erfahrung zum Ausdruck bringen, wenn sie über uns lachen würden? Gleichzeitig wurde uns bewusst, dass der Glaube, den wir unseren Kindern weiterzugeben versuchten, dort keinen Ort hatte, wie wir ihn viele Jahre lang in Rom erlebt hatten. Wir klagten darüber und verglichen ständig die schöne Vergangenheit mit der kargen Gegenwart. Aber irgendwann wurde uns klar, dass die Erfahrung, die wir gemacht hatten, und die Erkenntnis, dass Gott uns immer liebt, ihren Ausdruck finden mussten. So begannen wir, für die Familien in der Pfarrei abendliche Zusammenkünfte vorzuschlagen. Daran konnten auch die Eltern teilnehmen, da Kinder meistens nur Interesse zeigen, wenn sie sehen, dass etwas auch ihre Eltern bewegt. Wir begannen mit einfachen Vorschlägen: heilige Messe, Abendessen, dann ein Film oder Spiele. Anfangs kamen etwa 25 Leute, was für den Pfarrer schon eine enorme Zahl war, inzwischen sind es 75. In dieser Zeit haben meine Frau und ich viele Wunder erlebt. In Schweden sprechen Kinder nicht leicht mit Erwachsenen, außer mit ihren Eltern. Wenn die Klassenkameraden unserer Kinder zu uns nach Hause kommen und ich sie anspreche, antworten sie oft nicht mir, sondern meinem Sohn, der als Vermittler fungieren soll. Das hat nichts mit der Sprache zu tun, sondern damit, dass die Kinder und Jugendlichen in Erwachsenen einen Fremdkörper sehen, der ihre Freiheit einschränkt. Bei den ersten Treffen in der Pfarrei herrschte völliges Schweigen, wenn wir irgendwelche Fragen stellten. Aber in letzter Zeit antworten sogar die Kinder. Wir nehmen das als Zeichen, dass sie freier geworden sind. Einige Eltern haben sogar andere Familien von außerhalb der Pfarrei eingeladen. Eine ähnliche Dynamik habe ich in der örtlichen Gemeinschaft von CL festgestellt. Nach dem, was wir aus Rom gewöhnt waren, litten wir zuerst sehr darunter, dass es nur so wenige waren. Wir dachten, wir hätten es nicht geschafft, etwas auf die Beine zu stellen. Aber durch Gespräche unter uns und mit einigen Freunden ist nach und nach eine „jungfräuliche“ Haltung entstanden, das Bewusstsein, dass es sich hier um ein Werk Gottes handelt. Wir haben uns mehr der Vorsehung anvertraut, und die Zahlen sind unglaublich gestiegen. Doch uns ist auch klar geworden, dass wir an die Leute, die kommen, keine Ansprüche stellen dürfen. „Wie lange bleibst du? Bleib doch noch ein Jahr länger!“ Das war früher unsere Haltung. Wir hatten immer Angst, unseren Glauben alleine leben zu müssen. Jetzt können wir ohne Angst jeden willkommen heißen, weil wir gesehen haben, dass der Herr uns nie verlässt.
Meine Frage bezieht sich auf die Arbeit im Seminar der Gemeinschaft. Wenn wir die Texte auf Englisch lesen, dann ist es für mich schon schwierig, sie zu verstehen. Für andere, die neu in der Bewegung sind oder sogar den Glauben erst noch kennenlernen, ist es ein großes Hindernis: die Übersetzung, die Art der Sprache, die Don Giussani verwendet, der geschichtliche Kontext, in dem er gelebt hat und auf den er sich bezieht ... Uns ist im Laufe der Jahre klar geworden, dass die Bücher von Don Giussani alleine keine Gemeinschaft aufbauen können. Was es braucht, ist eine Freundschaft in Christus, eine Vertrautheit unter uns, Aufmerksamkeit für das Leben des anderen, damit die Liebe Christi gegenwärtig wird, durch die erst eine Gemeinschaft entsteht. Aufgrund dieser Einsicht, die auch aus unserer engen Beziehung zu Carras und Jone in Rom erwachsen ist, haben wir begonnen, das Seminar der Gemeinschaft abwechselnd mit einem Mittag- oder Abendessen bei uns zu Hause zu machen, so wie die beiden es mit uns und vielen anderen zu machen pflegten. Der Unterschied ist nur, dass wir nicht solch immense Fähigkeiten wie sie besitzen, die aufkommenden Fragen zu den Texten oder über den Glauben zu klären. Dort, wo wir leben, ist eine Gemeinschaft entstanden, die wir sehr schätzen. Aber ich weiß nicht, ob dieses Zusammenleben auf Dauer reicht ohne ein echtes Verständnis der Texte. Ich sehe, dass unter uns in der Bewegung ein lebendiger Same gelegt ist, aber wenn ich die Texte lese, scheint es mir da eine Trennung zu geben, und ich weiß nicht, wie ich mich da verhalten soll.
Davide Prosperi: Du musst dir nicht nur den Text zu eigen machen, der ein Instrument ist, sondern die Erfahrung, die in diesen Worten beschrieben wird. Und sie sich zu eigen zu machen bedeutet, sich mit den Gründen zu identifizieren für den Weg, auf dem wir uns befinden. Denn wenn es die Frucht deines Scharfsinns, deiner Fähigkeiten oder deiner Strategie wäre (denken wir an Bernadette Soubirous) und nicht, wie du selbst sagst, Frucht einer übergroßen Liebe, die du in deinem eigenen Leben erkennst, dann würden wir letztlich nur uns selbst mitteilen und sonst nichts. Das ist eine Versuchung, der wir alle unterliegen. Auch wir können mit den Worten der Bewegung etwas anderes verkünden, vielleicht das, was wir fühlen, was wir für das wahre Charisma halten, und das vielleicht sogar sehr klug. Dagegen setzt die Bewegung vollkommen auf dich, da du dir diese Erfahrung zu eigen machst, indem du sie lebst, indem du sie leben willst, und sie so anderen weitergibst, indem du diese Erfahrung der Communio mit denen leben willst, die an dem Ort sind. Vielleicht verstehst du bestimmte Dinge nicht. Aber du kannst nicht wissen, ob nicht jemand von denen, die mit dir dort sind, dir seinerseits morgen das erklären wird, mit dem du ihn oder sie in Berührung gebracht hast. Danach sehnt sich jeder von uns. Das bedeutet schließlich, wirklich Vaterschaft zu leben. Denn wenn die Kinder einmal erwachsen sind, dann möchten der Vater oder die Mutter ihnen auf dem Weg folgen können, auf den sie sie einst geführt haben. Das Werkzeug, das uns helfen kann, ist genau diese unsere Gemeinschaft. Deswegen sind wir hier, um uns gegenseitig zu helfen bei den Fragen, die ihr habt, bei den konkreten Problemen, die auftauchen. Im Moment ist die Form vielleicht die der Abendessen. Prima. Und wenn ihr diesen Weg weitergeht, wird sich euch nach und nach zeigen, anhand dessen, was geschieht, was vielleicht geeignetere Formen sein können.
Federica, Türkei: In vielen Ländern, im Nahen Osten wie anderswo, erlaubt es der Kontext nicht, kulturelle oder politische Urteile offen zu äußern. Oft kann man in der Öffentlichkeit nicht über das Christentum sprechen, und schon gar nicht in allen Bildungseinrichtungen. Deshalb empfand auch ich den Hinweis, mir den Vorschlag zu eigen zu machen, als sehr hilfreich, als die einzige Möglichkeit für mich, dort, wo ich jetzt bin: für mein alltägliches Leben und für die Mission. Doch vieles, was wir in diesen Tagen gesagt haben, habe ich schmerzhaft als fern von dem empfunden, was ich täglich erlebe, in einem Umfeld, wo natürlich Dinge wie GS, der CLU, christliche Kulturzentren, ja sogar die Caritativa ... undenkbar sind. Ich muss erst noch verstehen, wie man das, was wir in diesen Tagen gehört haben, auf das anwendet, was ich und andere Freunde aus dem Nahen Osten in unserem Alltag erleben, und auf die Menschen, denen wir in diesen Ländern begegnen. Wie ist es möglich, dass man keine Trennung spürt zwischen diesen Realitäten und den Inhalten, die ihr uns vorgeschlagen habt?
Don Francesco Ferrari: Ich habe eine Zeit lang in Kanada gelebt und auch in Chile. Das sind andere Kontexte als deiner und der von Matteo, aber die Frage, die du gestellt haben, stellt sich dort auch. Ein erster wichtiger Punkt ist: Was es bedeutet, die Bewegung in der Türkei zu leben, müsstest du uns sagen. Wir wissen es nicht, aber du lebst dort. Es geht um das Abenteuer, dass die ganze Bewegung wächst und etwas lernt durch deine Erfahrung in Communio mit uns. Du wirst das, was wir vorschlagen, bereichern durch das, was du dort feststellst. Damit will ich nicht sagen: Das ist deine Sache. Sondern ich will unterstreichen, dass die Bewegung in der Welt nicht nur das ist, was aus dem „Zentrum“ kommt. Sie wird reifer durch die Erfahrungen all der Leute, die in anderen Teilen der Welt sind.
Ich möchte drei Anregungen hinzufügen, die aus meiner Erfahrung in der Mission erwachsen sind. Erstens hatte ich dort Gelegenheit, wieder dankbar zu werden für die kleinen Gesten der Begleitung, die mir zuteilwurden. Ein Beispiel: Bevor ich ins Ausland ging, habe ich den Artikeln auf der Website von CL oder in Tracce nicht das gleiche Gewicht beigemessen wie später. Wenn man alleine ist, kann die Geschichte eines Menschen vom anderen Ende der Welt, die man dort liest, zu einer Begleitung werden, die einen tagelang trägt. Die Erfahrung im Ausland hat mich noch neugieriger gemacht und dankbarer für jedes Wort, jedes Detail, das die Gemeinschaft mir schenkte. Das bedeutete natürlich auch, die Nähe bestimmter Personen zu suchen. Nach Chile bin ich gemeinsam mit meinem Freund Ruben gegangen. Dort gab es schon eine Gemeinschaft von CL, aber es war alles neu für uns. Daher war es sehr wertvoll, dass wir uns ab und zu sehen konnten, wenn auch nur für eine halbe Stunde. Zuvor hätte ich so einer halben Stunde keine große Bedeutung beigemessen. Das Erste war also, mehr Neugierde und Aufmerksamkeit zu entwickeln für alle Zeichen der Begleitung, die Gott mir durch die Bewegung bot. Das zweite Werkzeug war die Regel, um mir immer bewusst zu machen, dass das Entscheidende Christus ist. Die eigentliche Bedeutung aller Gesten und der Begleitung, die wir füreinander darstellen, selbst in Mailand, wo wir so viele sind, ist die Begleitung durch Christus, der uns nie verlässt. Die Regel, die Gebetsmomente oder das Seminar der Gemeinschaft sind für mich, auch wenn sie allein gelebt werden, immer und überall, auch dort, wo man unter vielen ist, das Instrument, um uns an den Kern all dessen, was wir tun, zu erinnern. Ich bin dankbar für die Momente der Trockenheit, die ich erlebt habe, nicht nur im Ausland. Denn sie haben mich zum Herz, zum Sinn unserer Gemeinschaft geführt. Und die machen nicht wir, sondern Christus.
Prosperi: Ich möchte noch einen Aspekt betonen, der meiner Ansicht nach das eigentliche Geheimnis ist. Die Bewegung zu leben, heißt für uns nicht, Formen zu reproduzieren, sondern an einem Leben teilzunehmen. Die Tatsache, dass du dort, wo du wohnst, das nicht erleben kannst, was du jetzt hier empfindest, bedeutet nicht, dass das nicht zu deiner Erfahrung gehört. Denn wir alle gehören zu dieser Communio. Daher ist das, was du erlebst, auch meine Erfahrung, und was ich erlebe, auch deine, egal, wo wir sind. Und es lässt mich wachsen und lässt dich wachsen in dem Maße, wie wir es einander mitteilen. Und es trägt mich und trägt dich auch in unserem alltäglichen Leben. Dass du dort lebst, in dieser schwierigen Situation, hilft mir als Erinnerung jeden Tag, meine schwierigen Situationen zu leben. Hätten wir in jedem Moment das Bewusstsein, dass unsere Freundschaft etwas ist, was unser Leben trägt, bei allem, was wir tun, dann wären wir niemals unglücklich. Wir müssten immer froh sein, zutiefst froh. Vielleicht wären wir auch manchmal traurig, erschöpft, betrübt, aber letztendlich froh, weil die Schönheit dieser Liebe, die unser Leben erreicht hat, alles, was wir erleben und einander sagen, zu etwas macht, das auch den anderen mitträgt.
Fiorenza, Oman: Dort, wo ich lebe, treffe ich Menschen, die einer völlig anderen Welt angehören als wir. Im Laufe der Jahre ist mir klar geworden, dass Martyrium in gewisser Weise bedeutet, dass das „stirbt“, was man ist. Oft ist man versucht, es, wie Kardinal Pizzaballa beim Meeting in Rimini sagte, zu machen wir die Jünger: „Einige schliefen, einige sind geflohen, ein paar griffen zum Schwert ...“ Aber es gibt noch einen anderen Weg, nämlich „da zu bleiben“, wie Jesus es getan hat. Irgendwann werden wir nämlich gefragt werden, wo wir waren, und dann können wir antworten: „Ich war da.“ In schwierigen und in mancherlei Hinsicht auch unverständlichen Situationen, selbst in unserer Gemeinschaft, ist das Schöne, dass das „Dableiben“, das „Sterben“ der eigenen Positionen es einem erlaubt, sich immer mehr auf den anderen einzulassen. Man bewegt seinen Kopf plötzlich wie die Inder oder man wird ein bisschen „arabisch“, man verschmilzt ein bisschen mit dem, was andere sind. Dann wird das Martyrium zur Auferstehung, man entdeckt ein neues Stück von Christus. Bischof Paolo Martinelli sagte, ebenfalls in Rimini: „Die Wüste ist die Beziehung mit Gott. Sie bewegt sich ständig, verändert sich immer wieder, man kann sie nicht fixieren.“ Daher müssen wir uns auf anderes einlassen und uns selbst „loslassen“, damit Christus auf irgendeine Weise zu unserem Herzen sprechen und uns etwas sagen kann, was wir absolut nicht im Sinn hatten.
Prosperi: Vielleicht haben wir eine etwas makabre Vorstellung von Martyrium, aber dieses Wort bedeutet im Griechischen „Zeugnis“. Es ist das, wozu wir alle aufgerufen sind, unter den Bedingungen, die jedem von uns zu leben aufgegeben sind. Keiner von uns strebt das Blutzeugnis an. Aber wir wollen uns so weit wie möglich auf Christus einlassen. In den ersten Jahrhunderten der Kirchengeschichte wurden die Christen verfolgt, was auch heute noch in vielen Teilen der Welt der Fall ist. Und viele von ihnen hatten nicht den Mut, sich von den Löwen zerfleischen oder kreuzigen zu lassen. Aber es hatte sich, auch durch das, was die ersten Päpste lehrten, die Vorstellung verbreitet, dass das Blut der Märtyrer auch die Sünden und das Versagen der anderen wegwäscht, so groß war das Bewusstsein für die Communio. So konnte das Blut der Märtyrer auch zur Quelle der eigenen Veränderung werden: Ich bin du, du bist ich. So beginnt dein Zeugnis auch die Art zu verändern, wie ich mit der Wirklichkeit umgehe, in der ich tagtäglich lebe. Wenn wir uns dessen jedoch nicht bewusst sind, dann sehen wir auch unser Zeugnis als Ergebnis einer Kraftanstrengung.
Lali, Ukraine: Ich würde gerne ein Zeugnis für den Frieden ablegen, aber leider herrscht in meinem Land immer noch Krieg. Ich bin sehr dankbar für das, wozu wir in diesem Jahr aufgerufen wurden. Vor einem Jahr hat uns Monsignore Camisasca hier gesagt, wir sollten unsere Stimme erheben und Zeugen der Wahrheit sein. „Wahrheit“ ist immer ein Wort, das mich herausfordert. Wenn wir nicht von der Wahrheit, der Gerechtigkeit ausgehen, dann können wir nicht zur Communio, zur Einheit gelangen. Ich verstehe, dass viele Menschen, die einem nahestehen, einen nicht verletzen wollen durch die Wahrheit. Aber ohne Wahrheit, ohne Gerechtigkeit, ohne dass man sich den Wunden stellt, weiß ich nicht, wie Communio möglich sein soll. Meine Schwester hat mir an meinem Hochzeitstag gesagt, für sie sei mein Mann nicht tot, sondern nur auf Geschäftsreise. Ich kann nicht so tun, als sei er auf Geschäftsreise. Das reicht mir nicht. Denn es handelt sich nicht um eine Reise, es handelt sich um den Tod. Das sind zwei völlig verschiedene Wirklichkeiten. Deshalb ist es überhaupt keine Selbstverständlichkeit, sich der Wahrheit zu stellen und für sie Zeugnis abzulegen. Das erfordert großen Mut. Dieser Durst nach Wahrheit fordert von mir, den Blick nicht abzuwenden von dem Grauen, das in meinem Land geschieht. Ich fühle mich wie die Person, die in Auschwitz Geige spielt, in dem Lied von Claudio Chieffo. Denn wir sind jetzt hier zusammen und es ist sehr schön. Aber ich bin in Auschwitz, und ich frage mich, wie ich weiter mit denen eins sein kann, die in der Ukraine bombardiert werden. Ich bitte Gott, dass er mir die Kraft gibt, die Dinge beim Namen zu nennen und einer Wirklichkeit standzuhalten, die weh tut.
Prosperi: Wenn das, was wir hier sagen, nichts mit dem zu tun hätte, was unseren Brüdern und Schwestern in der Ukraine widerfährt, dann wären es Dummheiten. Entweder gibt das, was wir hier sagen und gemeinsam erleben, uns die Möglichkeit, auf das, was in Auschwitz geschieht, nicht wie der Geigenspieler zu schauen, also entweder erkennst du, dass die Tatsache, dass du jetzt hier bist und nicht in Auschwitz, dazu beiträgt, dass du deine Freunde begleiten und sie wirklich lieben kannst – oder wir werden immer hin- und hergerissen sein zwischen Schuldgefühlen und einem Gefühl der Nutzlosigkeit. Auch die konkrete Hilfe, die wir leisten, entspringt diesem Bewusstsein, dass wir schon eins sind. Denn die Gerechtigkeit erkennt man innerhalb der Communio, sie ist nicht eine Folge daraus. Nicht wir können ja Gerechtigkeit schaffen. Wir haben zwar ein Gerechtigkeitsgefühl in uns, aber die letzte Gerechtigkeit ist der Blick Gottes auf die Geschichte. Und unsere Freundschaft muss uns helfen zu erkennen, was diesen Blick ausmacht. Ich danke dir für dein Zeugnis, denn es ist wichtig, uns bewusstzumachen, dass das auch mit uns zu tun hat.
Yana, Russland: Es ist schwer für mich, jetzt hier nach Lali zu sprechen. Aber ich möchte mich nicht verschließen und die Wunde nicht ausblenden, auch wenn sie sehr weh tut. Ich arbeite mit Kindern, und mir ist klar, dass die, wie viele in meinem Land, nicht im Mindesten die Chance haben zu erkennen, dass es etwas gibt, das sich von dem kulturellen Klima unterscheidet, an das sie gewöhnt sind. Doch ich merke auch, dass ich, einfach indem ich mein Leben lebe, schon deutlich mache, dass es doch etwas anderes gibt. Das schien mir offensichtlich, und das ist auch der Grund, warum ich dort bleibe. Aber dann sagte mir : „Das ist das erste Mal in zwei Jahren, dass du mir das sagst.“ Auch unter uns ist es nicht leicht, darüber zu sprechen. Wir neigen dazu, uns abzuschotten und nicht darüber nachzudenken, was da vor sich geht, selbst innerhalb unserer Gemeinschaft. Wir können ja nicht jede Woche ins Seminar der Gemeinschaft kommen und über all das reden. Jeder weiß alles, wir sprechen auch darüber. Aber es ist, als fehle uns die Kraft, das nicht zu „vergessen“, was da passiert.
Ferrari: Wenn man an die Überschrift denkt, unter der diese Tage stehen („Gerufen, das heißt gesandt: der Beginn der Mission“), dann ist die erste Frage, die sich stellt, wie diese Weggemeinschaft einem dort hilft, wo man lebt. Und das zweite ist, dass die Mission auch die Form eines Opfers haben kann.
Was die erste Frage betrifft, so kann ich, wenn ich an meine eigene Erfahrung denke, bestätigen, dass diese Gemeinschaft uns immer trägt. Denn das, was wir uns sagen, die Texte, die wir lesen, die Veranstaltungen, die wir vorschlagen, ist kein Selbstzweck, sondern es geht um den Gehalt und das Herz dieser Begleitung, nämlich die Gegenwart des lebendigen Christus. All diese Texte, Gesten und Worte sind der Ort, das Instrument, die Herausforderung, die uns immer wieder dazu führen und dabei unterstützen will, den lebendigen Christus zu entdecken. Vorhin hat jemand gefragt, wie die Vorschläge ins Leben übersetzt werden können, aber das Herz unseres Lebens ist Christus, der auferstandene Christus! Christus macht unser Leben wahr, ob wir nun allein sind oder zusammen, hier oder dort. Diese Momente und diese Gemeinschaft werden zu einer Dimension unserer selbst. Sie begleiten uns immer, so dass man sich nie allein fühlt, weil diese Weggemeinschaft der Ort der Begegnung mit dem lebendigen Christus ist. Alles, was wir tun und sagen, sollten wir – auch wenn es Spannungen gibt oder jemand es nicht gleich versteht – als Gelegenheit begreifen, Schritte zu machen und dem wahren Leben zu begegnen, das das Leben Christi unter uns ist.
Ich denke, dass dies auch die Sichtweise ist, mit der wir auf das Opfer schauen sollten, das von uns verlangt sein mag, das vielleicht sogar die Form des Martyriums annehmen kann. Aber, wie Davide gesagt hat: Das Martyrium ist ein Zeugnis, zu dem wir alle aufgerufen sind. Das Leben ist, wie Pizzaballa uns gelehrt hat, Leben, wenn es geschenkt ist, wenn es uns gegeben wird. Ich denke, dass das Opfer, das, was es einem ermöglicht, Zeugnis abzulegen, nicht unbedingt die schwierigen Umstände sind. Sonst müssten wir sagen, dass heute von uns kein Opfer verlangt wurde. Das ist nur der offensichtlichste Aspekt des wahren Opfers unseres Lebens. Das Opfer des Martyriums ist in erster Linie der Gehorsam gegenüber der Wahrheit der Wirklichkeit, in der man sich befindet, der vielleicht nicht unmittelbar, aber letztlich immer Gehorsam gegenüber Gott ist.
Das ist das Drama und die Schönheit unserer Gemeinschaft: Der Gehorsam gegenüber Gott ist niemals abstrakt, sondern er ist Gehorsam, Nachfolge gegenüber dem Ort, an dem Gott mir nahegekommen ist, an dem er mir begegnet ist, an dem das Leben des auferstandenen Christus gegenwärtig geworden ist. Die Tatsache, dass hier unsere Freundin aus der Ukraine und sofort danach die aus Russland gesprochen haben, sollte uns zumindest ahnen lassen, dass sich unter uns ein Sieg vollzieht, der sich vielleicht auch, wer weiß wann, in der Welt zeigen wird. Aber er ist schon gegenwärtig: Es gibt ein neues Leben, das unter uns schon beginnt. Der Gehorsam gegenüber Gott, das Opfer des Gehorsams gegenüber der Wahrheit, der Wirklichkeit, und damit auch gegenüber Gott, ist also das Opfer des Gehorsams gegenüber einem Ort. Wie einer von uns gesagt hat: Zu dieser Weggemeinschaft zu gehören wird zu etwas, das dann auch in deine Arbeit einfließt. Und das kann nicht selten die Form eines Opfers haben, weil du dann das in Frage stellen musst, was du da tust. Neulich rief mich eine Studentin an: Sie wollte eigentlich Medizin studieren, hat aber den Zulassungstest nicht bestanden. Daher hat sie zunächst mit Biotechnologie angefangen. Dieses Jahr hat sie den Test wiederholt und war unter den Besten. Wenn man in Italien so gut abschneidet wie sie, kann man sich die Universität aussuchen, an die man gehen will. Sie wohnt im Süden, aus dem die jungen Leute eher wegziehen. Und viele Leute haben ihr nahegelegt, nach Norditalien zu gehen. Sie hat mir aber etwas erklärt, was mich sehr beeindruckt hat: Obwohl so viele ihr sagten, sie solle in den Norden gehen, entsprach ihr das irgendwie nicht. Im vergangenen Jahr war sie gezwungenermaßen in ihrer Heimatstadt geblieben, in der es eine kleine Gemeinschaft von CL gibt, die gerade wieder aufblüht, und hat dort Großartiges erlebt. Daher fragte sie sich, ob das einzige Kriterium die Qualität der Universität sei, oder ob es noch ein andere gäbe, zum Beispiel die Möglichkeit, diese Gemeinschaft aufzubauen. Abgesehen von dem, was ich ihr dazu gesagt habe, hat mich bewegt, dass ein Mensch sich bei solch einer Entscheidung fragt, was für unsere Geschichte nützlich sein könnte. Offensichtlich kann das auch ein Opfer verlangen. Das bedeutet für mich Gehorsam gegenüber dem Ort, an dem Gott einem begegnet ist. Und das bedeutet in der Tat nicht nur, Dinge zu wiederholen, sondern zu versuchen, sich in das Herz unserer Gemeinschaft hineinzuversetzen. Und das wird zum Zeugnis für alle, zum missionarischen Einsatz, bis zu dem Punkt, an dem einer sagt: „Ich bleibe da, wo ich die Gemeinschaft aufbauen kann.“
Wir müssen dankbar sein, dass es diese Weggemeinschaft gibt, in der der lebendige Christus uns entgegenkommt und unser Leben hinterfragt, damit es schöner wird. Und wir müssen auch dankbar sein, dass wir unser Leben hingeben können, dass wir es nicht für uns zu behalten brauchen. Wir haben das Privileg erhalten, dass wir dazu berufen sind, etwas Großes aufzubauen. Ich denke, dass auch das Versagen, von dem hier die Rede war, nicht so sehr durch persönliche Anstrengung überwunden wird, wie auch Davide gesagt hat, sondern in dem Maße, in dem man sich immer mehr auf das Geheimnis dieser Gemeinschaft einlässt, das der gegenwärtige Christus ist. Wie es in dem Lied von Chieffo heißt: „Nichts kann mich mehr aufhalten, denn du Christus bist wahr“. Je mehr wir gemeinsam unterwegs sind und den Sieg des gegenwärtigen Christus erkennen, desto durchsichtiger werden wir für das, was uns begegnet ist.