
„Er hat den Menschen ernst genommen, er hat Christus ernst genommen“
Ein Beitrag über Don Giussani vom Präfekten des Dikasteriums für Laien, Familie und LebenZwanzig Jahre nach seinem Tod wurde ich gefragt, welchen Beitrag Don Giussani für Kirche und Welt geleistet hat. Ohne mich in eine tiefergehende historische Analyse zu begeben, kann ich alles, was in mir beim Nachdenken über seine Person und über sein Werk auftaucht, in einem einzigen Gedanken zusammenfassen, den ich wie folgt formulieren würde: „Er hat den Menschen ernst genommen, er hat Christus ernst genommen.“
Don Giussani war von Jugend an mit einer ausgeprägten menschlichen, existenziellen, ich würde sogar sagen, „philosophischen“ Sensibilität beschenkt, die es ihm erlaubte, die Tiefe der menschlichen Seele zu begreifen. Er war in der Lage, die Größe der Sehnsüchte des menschlichen Herzens zu erfassen, die in jedem Menschen vorhanden sind. Er brachte sie ans Licht, machte sie zum Gegenstand der Betrachtung, sprach mit Bewunderung, Staunen und Respekt über sie. Viele junge Menschen, die ihm zuhörten, sind sich ihrer selbst bewusst geworden, haben die eigene Innenwelt, die Größe ihres eigenen Herzens besser kennengelernt. Vielleicht hatten sie die Würde ihrer Seele, die „Größe“, die sie unbewusst anstrebten, nie wahrgenommen. Sie fanden sich aber in der Beschreibung des Menschen, eines jeden Menschen, wieder, von der Don Giussani ausging, um sich auf der Suche nach dem Sinn des Lebens zu machen. Ich vermute, dass viele Jugendliche bei ihrer ersten Begegnung mit ihm eine mit Überraschung gemischte Freude empfanden und sich innerlich gedacht haben werden: „Was dieser Priester sagt, ist wahr! Es ist genau das, was ich fühle. Es ist die Realität, die ich gerade erlebe. Das bin ich! Manchmal habe ich es erahnt, aber ich habe nie gewusst, wie ich es so ausdrücken soll!“. Das meine ich, wenn ich sage, dass Don Giussani „den Menschen ernst genommen hat“. Er hat sich an die tiefste menschliche Wirklichkeit herangewagt, die sich nie verändert, die weder an eine besondere historische Epoche noch an eine bestimmte Kultur oder an einen bestimmten Ort gebunden ist.
Don Giussani verstand es, den Menschen als solchen anzusprechen, den Menschen, der eine nicht zu unterdrückende Sinnfragen hat, der den Wunsch in sich trägt, jeden Aspekt des Lebens in vollen Zügen zu leben: die Liebe, die Freundschaft, die Beziehungen, die Arbeit, das Engagement in der Gesellschaft, und so weiter. Der Mensch, der letztlich offen ist für eine transzendente Dimension des eigenen Lebens und der sich rastlos fühlt bis er eine „allumfassende Antwort“ auf seine Fragen findet; dieses Etwas, das allem einen Sinn gibt, das so sehr mit Sein, mit Güte, mit Wahrheit „erfüllt“ ist, dass es jedes Verlangen befriedigen kann, das zum Fundament jedes Aspekts der Wirklichkeit werden kann sowie jeder menschlichen Erfahrung Tiefe verleihen kann, einschließlich eben der gewöhnlichsten und „weltlichsten“ Aspekte des Lebens: die Zuneigung für andere, die Freundschaft, das Studium, die Wissenschaft, die Arbeit usw.
Mit diesem „den Menschen ernst nehmen“ verband Don Giussani „Christus ernst zu nehmen“. Seinen ersten Studenten präsentierte sich Don Giussani als „Priester in Soutane“ und als jemand, der offen und freimütig über seinen Glauben an Jesus Christus sprach. Er verbarg also nie seine Identität, seine Mission, seine Überzeugungen. Die Entdeckung von Jesus als Zentrum der Geschichte und des Kosmos, als Dreh- und Angelpunkt von allem, was existiert, und als Sinn-Erfüllung für den Menschen, traf ihn wie ein wahrer „Blitzschlag“ in seinen jungen Jahren. Diese persönliche Entdeckung vermittelte und verkündete er unablässig, allen, denen er begegnete. Giussani betonte mit großem Nachdruck die bedingungslose und überraschende Initiative Gottes, der uns entgegengekommen ist, der sich im konkreten, menschlichen Leben seines Sohnes, im historischen Ereignis des „Jesus von Nazareth“, das für immer eine historische Tatsache bleibt, „nahbar“ und „erfahrbar“ machte. Daher das starke Beharren auf dem Christentum nicht als Gefühl, nicht als philosophische Intuition erhabener Wahrheiten oder als starres ethisches Gerüst, sondern als „Ereignis“, das immerwährend in der Geschichte präsent ist. Gott, seine Wirklichkeit, seine Existenz, seine Liebe sind uns im „menschlichen Fleisch“ des menschgewordenen Wortes begegnet. Das Wort, das immer noch und für immer „fleischgeworden“ ist, dank der Kirche, die der „Leib“ Christi ist, seine sichtbare Fortsetzung durch die menschliche Geschichte hindurch. Don Giussani hat sich nie gescheut, über Christus zu sprechen, selbst in Umgebungen, die dem religiösen Diskurs nicht wohlgesonnen waren. Und er hatte nie Angst, zu sagen, dass man Christus in der Kirche begegnet, nicht in einsamen Erfahrungen angeblicher „Spiritualität“. Man begegnet ihm in der „realen“ Kirche, die aus gläubigen Männern und Frauen besteht, die ihren Glauben gemeinsam leben, die aus Seelsorgern besteht, die aus der „Tradition“ besteht – der allumfassenden Interpretation der Wirklichkeit, die uns das christliche Glaubensbekenntnis liefert – und die aus „Traditionen“ besteht – den historischen, liturgischen und andächtigen Modalitäten, durch die der Glaube zum Ausdruck kommt – Traditionen, die Don Giussani weise aufwertete und seinen Jugendlichen wieder nahebrachte.
Alles andere, würde ich sagen, kam von selbst. Sobald die Menschen in Christus die Fülle der menschlichen Existenz entdeckten und ihn durch die „Überfülle“ und „innere Kohärenz“ fast natürlich aufnahmen, brachten sie die neue Gegenwart Christi in sich selbst zum Ausdruck, in allem, was sie taten: in der Arbeitswelt, im Berufskontext, im schulischen Umfeld, in den Caritativa-Vorschlägen, die im Laufe der Jahre aufblühten.
Don Giussani schaffte es also, „die Fragen des Menschen“ und die „Antwort Gottes“ zu verbinden und so die Vernünftigkeit der christlichen Verkündigung als vollkommene Erfüllung des Menschlichen zu zeigen. Sein Charisma als Pädagoge verstand es, die großen Fragen des Herzens zu erwecken, die Sehnsüchte des Menschen ans Licht zu bringen und zu zeigen, dass Christus die endgültige Antwort auf all diese Fragen ist. Und genau das faszinierte Tausende von Menschen im Laufe seines Lebens.
Wenn wir gut darüber nachdenken, können wir in diesem Aspekt seines Charismas eine von der Vorsehung vorbestimmte Initiative des Heiligen Geistes entdecken, der in ihm vorwegnahm, was auch das Zweite Vatikanische Konzil inspirieren sollte. Die Konzilsväter machten sich nämlich auf den Weg, um mit Wahrheit und Offenheit neu zu den Menschen von heute zu sprechen und die immerwährende Gültigkeit Christi vorzuschlagen. Denken wir an die bekannten Aussagen in Gaudium et spes, in denen die grundlegenden Fragen aufgelistet sind, die in uns vorhanden sind: „Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Schmerzes, des Bösen, des Todes - alles Dinge, die trotz solchen Fortschritts noch immer weiterbestehen? Wozu diese Siege, wenn sie so teuer erkauft werden mussten? Was kann der Mensch der Gesellschaft geben, was von ihr erwarten? Was kommt nach diesem irdischen Leben?“ (GS 10). Angesichts dieser Fragen betonten die Konzilsväter: „Die Kirche aber glaubt, [dass] Christus […] dem Menschen Licht und Kraft durch seinen Geist schenkt, damit er seiner höchsten Berufung nachkommen kann; […] im Licht Christi will das Konzil alle Menschen ansprechen, um das Geheimnis des Menschen zu erhellen […] “ (ebd.). Genau das hat Don Giussani sein ganzes Leben lang getan und es bleibt der große Beitrag, den er für die Kir-che geleistet hat.
Das außergewöhnliche Werk der Bildung und Evangelisierung dieses leidenschaftlichen Priesters und treuen Dieners der Kirche, das ich in dem Ausdruck „den Menschen ernst nehmen – Christus ernst nehmen“ zusammenfassen möchte, bleibt auch für die Kirche heute ein Wegweiser. Denn einerseits läuft die Kirche Gefahr, den Menschen „nicht ernst zu nehmen“, wenn sie ihn trivialisiert, wenn sie ihn auf seine oberflächlichsten Bedürfnisse reduziert und damit in ihren Aktivitäten leere und flüchtige Erfahrungen religiöser Emotionalität anbietet oder sich darauf beschränkt, an der Seite der Welt zu stehen, indem sie nur das psychologische und materielle Wohl der Gemeinschaft fördert.
Andererseits – und das ist noch schwerwiegender – läuft die Kirche immer wieder Gefahr, Christus „nicht ernst zu nehmen“, weil sie über ihn schweigt, weil sie ihn nicht in den Vordergrund stellt, indem sie ihre Verkündigung auf „Werte“ oder „zivile Pflichten“ oder äußere „moralische Normen“ reduziert und manchmal fast den Eindruck erweckt, sich für Christus zu „schämen“, in der falschen Überzeugung, ihre Ideen nicht „aufzwingen“ zu müssen, in ihren Vorschlägen nicht „dogmatisch“ und „arrogant“ sein zu wollen.
Don Giussani lehrt uns auch heute noch, diesen falschen Ängste nicht zu erliegen, unsere Lampe, die Christus ist, nicht zu verstecken, nicht „ein Gefäß darüberzustülpen“ (vgl. Mt 5,15), sondern vielmehr, sie deutlich sichtbar auf den Leuchter der Kirche zu stellen. Sein Charisma und sein unermüdliches Apostolat sind nicht nur ein Geschenk für die Kirche, sie sind auch Don Giussanis Beitrag für die Welt, denn die ganze Welt wartet auf die Wahrheit, auf Versöhnung, auf Hoffnung, die nur von Christus kommen können.
- Kard. Kevin Joseph Farrell über Don Giussani 128 KBKard. Kevin Joseph Farrell
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