
Pater Ielpo. „Brüderlichkeit ist eine Notwendigkeit“
Der Kustos des Heiligen Landes über seine neue Mission. „Manchmal reicht schon eine zufällige Begegnung, selbst angesichts eines Terminkalenders voller Verpflichtungen, um mir bewusst zu machen, dass Christus mich nie allein lässt.“Wir treffen uns in Mailand, im Sitz der Vereinigung Pro Terra Sancta, einer NGO, die seit Jahren die Arbeit der Kustodie des Heiligen Landes unterstützt. Pater Francesco Ielpo, vor wenigen Monaten zum Kustos gewählt worden, ist für einige Tage in Italien, bevor er wieder nach Jerusalem zurückkehrt. Sein Zuhause ist jetzt dort, im Kloster St. Salvator, wo er zusammen mit 78 anderen Franziskanern lebt. Die Kustodie jedoch umfasst auch Syrien, Jordanien, den Libanon, Zypern und Rhodos sowie einige Klöster in Ägypten, Italien, den Vereinigten Staaten von Amerika und Argentinien.
Es hat eine Weile gedauert, bis wir dieses Interview bekommen haben. Nicht weil Ielpo ungern mit der Presse spricht, sondern weil er genau das verkörpert, was er auch am Leibe trägt: das Wesentliche. „Ich spreche nur, wenn ich etwas zu sagen habe.“, sagt er leise, fast, als wolle er sich schützen. Doch heute gibt es einiges zu erzählen.
Pater Francesco, Sie haben eine schwierige und verantwortungsvolle Position inne, und das während einer der vielleicht heikelsten Phasen für das Heilige Land und den Nahen Osten. Wie gehen Sie damit um?
Von Anfang an habe ich ein Missverhältnis zwischen dem, was ich bin, und der Aufgabe, die ich ausübe, gespürt. Wenn ich vergesse, dass ich im Dienst des Ordens der Minderen Brüder und der Christen im Heiligen Land stehe, beginne ich zu taumeln, weil meine Kräfte nie auszureichen scheinen. Und natürlich kann die Verantwortung Angst machen, auch weil die Situation heikel ist. Oft kamen mir Worte aus dem Tagebuch von Kardinal Giovanni Montini, dem späteren Papst Paul VI., in den Sinn. Ich zitiere aus dem Gedächtnis, denn es ist mehr als fünfzehn Jahre her, seit ich sie gelesen habe. Er sagte sinngemäß, je mehr die Verantwortung innerhalb der Kirche wachse, desto mehr laufe man Gefahr, immer mehr den Statuen auf den Türmen des Mailänder Doms zu ähneln: Alle sehen dich, aber du bist allein. Das ist ein treffendes Bild, denn man hat niemanden mehr, mit dem man alles teilen kann, man bleibt allein vor Gott. Allein, nur mit seinem Gewissen und den Entscheidungen, die man treffen muss. Was ich jedoch erlebe, ist eine bewohnte Einsamkeit. Denn an meiner Seite sind immer Gesichter neuer Freunde, die mir geschenkt wurden – die ich vielleicht nicht ausgewählt hätte und die nicht wie meine Freunde für ein ganzes Leben sind, die der Herr mir aber zur Seite stellt, um mich daran zu erinnern, wer wirklich alles tut. So fehlt es mir, im Gegensatz zu den Statuen auf dem Dom, in dieser neuen Mission nicht an Gesellschaft. Manchmal reicht schon eine zufällige Begegnung, selbst angesichts eines Terminkalenders voller Verpflichtungen, um mir bewusst zu machen, dass Christus mich nie allein lässt.
Sie haben im Übrigen mehrfach betont, dass Ihre Mission eine Aufgabe ist, die in Brüderlichkeit gelebt werden muss. Gelingt Ihnen das?
Durch die Gnade Gottes, ja. Man kann nicht ohne Begleitung leben, ohne die konkrete Manifestation der Nähe Christi. Oft offenbart sie sich auf unvorstellbare Weise. Eines Abends war ich zusammen mit einigen Provinzialen der Franziskaner in Rom, bevor ich nach Jerusalem zurückkehrte. Als ich mich von einem von ihnen verabschiedete, den ich zwar nicht sehr gut kenne, aber sehr schätze, fragte ich ihn, ob er mir vor meiner Abreise noch etwas sagen wolle. Er antwortete mir nur: „Such dir einen Freund.” Das war der schönste Ratschlag. Man kann kein Leben ohne Freunde führen. Ich glaube, man kann, wie das geweihte Leben oder das Priesterleben zeigen, ohne Ehefrau oder Ehemann leben, aber niemand kann ohne Freunde leben. Auch Jesus konnte das nicht.
Sie leben im Kloster St. Salvator, also in einer täglichen Gemeinschaftserfahrung...
Ja, wir sind 78 Brüder, dazu kommen noch die Theologiestudenten und die älteren Brüder. Wir sind viele, und es ist wertvoll, sich bewusst zu machen, dass auch das Gemeinschaftsleben Regeln braucht. Denn Regeln helfen dabei, Grenzen zu setzen, die das Herz eines jeden schützen. Die Einhaltung von Terminen, gemeinsamen Gesten und Gebeten ist eine riesige Hilfe, um nicht auseinanderzufallen und sich nicht zu isolieren. Brüderlichkeit ist eine Notwendigkeit.
Welche Schwierigkeiten sind in diesen ersten Monaten als Kustos aufgetreten?
Eine ist sicherlich die Sprache. Ich kann kein Arabisch, muss also immer über einen Dolmetscher sprechen, muss mir wichtige Konzepte auf vereinfachte Worte reduzieren... In deinem Wortschatz steckt schließlich deine ganze Kultur, und damit deine Tradition und deine Geschichte. Das hat mich sehr gequält, aber ich habe entdeckt, dass es eine universelle, eine noch direktere Sprache gibt: die Person selbst, die Art und Weise, wie man sich gibt. Manchmal ist es nicht ein Gespräch, das bleibt, sondern ein Lächeln, ein Schulterklopfen, eine Umarmung. Als Franz von Assisi und der Sultan sich vor achthundert Jahren trafen, sprachen sie nicht dieselbe Sprache, aber sie hatten vielleicht dieselbe Haltung im Herzen. Und genau darin liegt die Möglichkeit der Begegnung. Ich lerne gerade, dass der Herr keine besonderen Fähigkeiten von uns verlangt, sondern unsere Bereitschaft, sodass Er durch uns wirken kann. Deshalb sage ich, dass die Aufgabe des Kustos‘ – und davon bin ich immer mehr überzeugt – darin besteht, die Haltung seines Herzens zu bewahren.
Woher kommt diese Ahnung?
Eine Freundin sagte mir einmal: „Denk daran, dass das erste Werk du selbst bist.“ Letztendlich geht es darum, das eigene Herz zu bewahren, d. h. die Offenheit für das Geheimnis. Die eigene Berufung zu bewahren, denn wenn das erste Werk ich selbst bin, dann ist die erste Aufgabe, die ich habe, die Arbeit an mir selbst. Ginge ich sie nicht an, würde ich zu einem Beamten, einem Diplomaten werden, sprich zu jemandem, der viele Dinge verwaltet, aber die Wahrheit über sich selbst verliert. Diese Aufgabe ist anspruchsvoll, und oft erlebe ich Momente der Ohnmacht. Es gibt Dinge, die man nicht ändern kann – den Krieg zum Beispiel, aber auch die kleinen Unzulänglichkeiten, die jeder von uns haben kann. Es klingt banal, aber manchmal muss man sich daran erinnern, dass bestimmte schlimme Dinge so bleiben werden, wie sie sind, egal wie viel Mühe, Ideen und Gehirnschmalz wir aufbringen. Das bedeutet nicht, dass man sich nicht dafür einsetzen soll, dass sich die Umstände verbessern. Das wäre falsch. Aber ich lerne, wie entscheidend es ist, sie in ihrer ganzen Dramatik zu betrachten und sie so zu tragen, wie Christus sie getragen hätte. Nicht verzweifelt, sondern mit einem Blick, der die Hoffnung nicht verliert.
Können Sie uns diesen Abschnitt näher erklären? Haben Sie Beispiele?
Ich denke an den Sonnengesang. Wir stellen ihn uns als ein fröhliches Lied vor, aber Franziskus schrieb ihn, als er bereits blind war, die Stigmata hatte und von seinen eigenen Brüdern verstoßen worden war. Er war gekreuzigt und sang dennoch. Wenn man den Sonnengesang liest, versteht man, dass das Kennzeichen der Hoffnung das Lob ist. Nur wer hofft, kann lobsingen. Auch im Krieg, selbst dann, wenn alles dunkel erscheint, gibt es immer eine Schönheit, die sich aufdrängt, die man nicht ignorieren kann. Vor einigen Tagen erst gab es, Sie werden es alle gesehen haben, einen Anschlag in Jerusalem. Einer der Attentäter stammte aus Emmaus, einem Dorf, in dem sich eines unserer Klöster befindet. Ich habe sofort die dortigen Mitbrüder angerufen, um zu erfahren, wie es ihnen geht. Der Tag war chaotisch gewesen, das Militär hatte die Häuser auf den Kopf gestellt, um nach den Terroristen zu suchen. Am gleichen Abend aber schickte mir einer der Brüder dieses Klosters ein Foto eines atemberaubenden Sonnenuntergangs. Dieses Foto spiegelte die Haltung eines Mannes wider, der all das Gute, das es gibt, das real ist, wahre Gnade ist, erkennen kann. Deshalb kann er auch an einem so schrecklichen Tag wie diesem einen schönen Sonnenuntergang preisen und für ihn danken. Wenn wir aufmerksam sind, sehen wir, dass es im Leben eines jeden von uns ein Versprechen des Guten, der Erfüllung, gibt, das stärker ist als jedes Übel. Und das ist kein schwacher Trost! Wie schön ist es, zu wissen, dass jeden Tag weiterhin Wunder auf dieser Erde geschehen. Es gibt eine Hoffnung in der Schöpfung, die für alle ist.
Ein viel diskutiertes Thema ist das der christlichen Präsenz im Nahen Osten. Was bedeutet es, zu bleiben, während alles um einen herum zusammenbricht?
Unsere wichtigste Aufgabe ist es, da zu sein. Das ist die Lehre aus acht Jahrhunderten Kustodie: Die Kirche verlangt keine Superhelden, sondern eine Präsenz, die bleibt. Die Ordensleute, von denen viele einen internationalen Pass haben, hätten Gaza nach dem 7. Oktober verlassen können – doch sie sind bei den Menschen geblieben. Sie werden den Konflikt nicht lösen, aber sie bezeugen, dass Gott niemanden im Stich lässt. Auch in Syrien blieben unsere Brüder während der Jahre der dschihadistischen Besatzung in den christlichen Dörfern am Orontes und mussten Entführungen und Bedrohungen erdulden. In diesem Moment schien alles schwierig und düster für uns. Mit der Zeit jedoch mussten sich auch die Dschihadisten mit der christlichen Präsenz, die sich von jeder anderen unterscheidet, auseinandersetzen. Sie haben dies anerkannt. Und jetzt, da sie in Syrien an der Regierung sind, haben sie eine Vorstellung davon, was das Christentum ist – dank jener Jahre. Wir verändern die Welt nicht mit Gewalt, sondern mit der Treue einer Präsenz.
Viele Christen entscheiden sich jedoch dafür, das Heilige Land zu verlassen. Wie erleben Sie dieses Phänomen?
Das ist natürlich schmerzhaft. Aber es steht uns nicht zu, einer Familie zu sagen, sie müsse bleiben oder gehen. Die Kustodie begleitet diejenigen, die bleiben, ohne diejenigen zu verurteilen, die gehen. Aber ich habe eines verstanden: Es reicht nicht aus, Schulen, Gesundheitsversorgung oder Arbeit zu garantieren, damit die Menschen bleiben. Natürlich bemühen wir Brüder uns – auch durch unsere NGO Pro Terra Sancta – um konkrete Unterstützung, vor allem im Westjordanland, wo seit zwei Jahren 80 Prozent der Bevölkerung arbeitslos sind, wo es keine Sozialhilfe gibt und wo die Familien Schwierigkeiten haben, die Schulgebühren zu bezahlen und den Monat zu überstehen. Doch um zu bleiben, braucht es einen tieferen Grund. Als Kustos verspüre ich die dringende Notwendigkeit, den Menschen dabei zu helfen, Gründe zu finden, warum es unter allen Lebensumständen und in jeder Situation möglich ist, zu leben und ein freier Mensch zu sein.