Zwei Männerköpfe von Angesicht zu Angesicht durch Zahnräder verbunden.

NEUROWISSENSCHAFTEN: DER NEUE GRENZBEREICH (Teil 2)

Ich habe dich im Kopf. Wie revolutioniert die Hirnforschung unsere Vorstellung von Verantwortung und Erkenntnis? Und welche Rolle spielen menschliche Beziehungen dabei?
Alessandra Stoppa

Spuren setzt seine Artikelreihe fort mit GIACOMO RIZZOLATTI, dem Entdecker der Spiegelneurone. Er sagt: „Verstehen ist nicht nur etwas Verstandesmäßiges. Das Erkennen der anderen erfolgt über die Empathie.“

Die Entdeckung, mit der er Wissenschaftsgeschichte geschrieben hat, ist aus einer Krise entstanden. „Es war mehr als eine Krise, es war ein schwerer Schlag für mich.“ Giacomo Rizzolatti ist 1937 in Kiew in der Ukraine geboren. Ende der Achtziger Jahre hält er in den Vereinigten Staaten eine Vortragsreihe und trifft dabei auf Vernon Mountcastle, „damals einer der berühmtesten Neurowissenschaftler der Welt“, der ihm eine unangenehme Frage stellt: „Was hast du in der letzten Zeit entdeckt?“ Ich untersuchte das Sehen. „Mit welchen Tieren?“ Mit Katzen. „Ich lese nie Arbeiten über Katzen. Die sind irrelevant.“

„Ich hatte die Wahl, entweder den Mut zu verlieren oder etwas daraus zu lernen“, sagt Rizzolatti heute. „Ich dachte: Es stimmt, Katzen sind völlig okay, wenn man das Schlafen erforscht. Aber für das Sehen oder für kognitive Probleme braucht man Affen. Ich bin nach Hause gefahren und habe meinen Direktor gefragt, ob er damit einverstanden wäre, an anderen Tieren zu forschen. Ich hatte Glück, weil er mich sofort unterstützt hat.“ Denn auf diesem Weg ist es Rizzolatti gelungen, die Spiegelneurone zu identifizieren, eine der wichtigsten Entdeckungen der Neurowissenschaft in den letzten 20 Jahren.

Im letzten Spuren-Heft haben wir uns damit beschäftigt, wie man die intellektuelle Herausforderung angehen kann, die der vielversprechendste Grenzbereich der modernen Wissenschaft uns stellt. Diesmal erklärt uns Giacomo Rizzolatti, der seit 2002 Leiter der Abteilung für Neurowissenschaften an der Universität Parma ist, inwiefern die Hirnforschung unsere Vorstellung vom Menschen revolutioniert. „Es geht um das Konzept der Verantwortung und noch mehr um den Wert der Beziehungen. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass es wissenschaftlich falsch ist, den Menschen als eine Monade zu betrachten. Das ist eine verrückte Idee, die zerstörerisch wirkt.“ Rizzolatti erläutert, dass das Glück einer empathischen Beziehung mit anderen bedarf, und zitiert dazu einen Abschnitt aus der Schönen neuen Welt von Aldous Huxley: „Die Idee der Familie ist Pornographie; die Liebe, die romantischen Beziehungen sind veraltet und überflüssig. Ehe, Geburt, die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, Schwangerschaft, all das sind Obszönitäten, die man nicht einmal in einer saloppen Unterhaltung erwähnen darf.“

Giacomo Rizzolati

Professor Rizzolatti, was sind Spiegelneurone?
Das sind Hirnzellen, die sowohl aktiv werden, wenn wir eine bestimmte Handlung durchführen, als auch wenn wir diese Handlung bei einem anderen beobachten. Die Spiegelneurone erlauben uns, die Handlung des anderen unmittelbar zu verstehen, und bereiten unser Nervensystem zur Imitation und zur Empathie vor.

Wie haben Sie sie entdeckt?
Meistens entdeckt man etwas, was man nicht gesucht hat. So war es auch bei uns. Wir untersuchten mit einer unorthodoxen Vorgehensweise den Aufbau des motorischen Cortex von Affen. Üblicherweise erforscht man das Tier in einer nicht ethologischen Umgebung und lässt es in schematischer Art und Weise handeln. Wir wollten aber mit dem Affen frei interagieren, um seine Leistungsfähigkeit zu beobachten. Wir waren sehr überrascht, als wir entdeckten, dass das motorische Areal im Gehirn viel komplexer ist, als man damals glaubte.

Wieso?
Wir haben grundlegende Eigenschaften der Neurone dieses Areals entdeckt. Nach der physiologischen Tradition sollten die Neurone nur die Bewegungen kodifizieren, wir haben aber beobachtet, dass die meisten das Ziel der Handlung kodifizieren. Die Neurone der prämotorischen Rinde werden aktiv, wenn ich nach einem Gegenstand greifen will, sei es mit der linken oder mit der rechten Hand oder auch mit dem Mund. Sie kodifizieren also den motorischen Akt, der aus Bewegung und Ziel besteht. Das war eine große Neuigkeit, weil es bedeutet, dass die Neurone uns etwas auf höherem Niveau „sagen“; das Ziel ist ja ein philosophischer Begriff. Darüberhinaus werden viele motorische Neurone auch aktiv, wenn man Gegenstände gezeigt bekommt. Das heißt, dass sie auf visuelle Reize reagieren, obwohl sie sich im motorischen Areal befinden. Die Sehfelder befinden sich im hinteren Bereich der Großhirnrinde, im Okzipitallappen; der Motorkortex liegt in den hinteren Zonen des Frontallappens. Diese beiden Areale müssen irgendwie miteinander kommunizieren. Die Forschung über die Neurone hat uns gezeigt, dass man, wenn man einen Gegenstand sieht, auch automatisch bereit ist, ihn zu ergreifen. Es kommt zu einer visuell-motorischen Umwandlung, denn man geht vom Anblick des Gegenstandes über zu dem motorischen Plan, mit diesem Gegenstand zu interagieren. Um es fachsprachlich auszudrücken: Das Nervensystem bereitet sich auf eine affordance vor [das heißt, der Gegenstand hat einen „Aufforderungscharakter“]. Denn die Art und Weise, wie man auf einen Gegenstand zugreift, hängt vom Gegenstand ab. Der Gegenstand dient dazu, benutzt zu werden; seine Anwendung hängt davon ab, wie er beschaffen ist.



Dann sind Sie auf die Spiegelneurone gestoßen.
Ja. Als wir die oben beschriebenen Neurone erforschten, heute bezeichnet man sie als „kanonische“ Neurone, sind wir auf Neurone gestoßen, die sowohl feuern, also aktiv werden, wenn ich ein Objekt nehme, als auch wenn du es nimmst. Wer handelt hier? Ich oder du? Im Gehirn gibt es ein Vokabular für Aktivitäten, die ich ausführe, die aber „wiedererkennen“, das heißt aktiviert werden, wenn du etwas ähnliches tust.

Unsere Entdeckung besagt, dass das Erkennen der anderen über die Empathie erfolgt. Verstehen ist nicht nur etwas Verstandesmäßiges.

Was sagt das über die Weise, wie wir etwas erkennen?
Unsere Entdeckung besagt, dass das Erkennen der anderen über die Empathie erfolgt.  Einige unserer neuesten Daten weisen darauf hin, dass ich nicht nur die Bewegung des anderen verstehe, sondern auch seine Intention auf die Zukunft hin. Das gilt für sogenannte „kalte“ Aktivitäten – wenn jemand nach einem Objekt greift. Aber ich verstehe auch die „warmen“ Aktivitäten, die Gefühle. Wenn der andere leidet, leide ich mit. Diese Daten sagen uns also, dass Verstehen nicht nur etwas Verstandesmäßiges ist. Wir haben auch eine unmittelbare Erkenntnis, eine empathische, durch die das, was ich sehe, in mich eindringt: Ich nehme am anderen teil. Marc Jeannerod von der Universität Lyon formuliert es so: „Nach der Entdeckung der Spiegelneurone dient das motorische System nicht mehr dazu, ‚Dinge zu tun‘, sondern ist Mittel zur Kommunikation. Es beginnt bei mir, dann geht es zu dir und du kannst antworten. Es ist ein kommunikatives System, weil dein Nervensystem in eine Resonanz zu meinem tritt. Es ruft in mir etwas hervor, was ich in mir habe und was ich wiedererkenne.“

In diesem Sinne sagt uns also die Hirnforschung, dass das Ich keine Monade ist?
Das mit der Monade ist eine vollkommen irrige Konzeption des Ganzen. In den Sechziger Jahren ist sie wieder aufgetaucht, als man den Verstand als einen Computer, als eine Informationsverarbeitungszentrale  betrachtete, die das, was der andere sagt, analysiert und dann adäquat darauf antwortet.  Aber die Gefühle, der Leib, die Beziehung mit dem anderen wurden überhaupt nicht mit einbezogen. Genau da haben wir einen ganz anderen Ansatzpunkt: Der Mensch wird geboren mit einem außergewöhnlichen Instrument, nämlich seiner Fähigkeit zur Empathie. Die ist ein naturgegebener Mechanismus, dem nach und nach soziale und kulturelle Faktoren hinzugefügt werden. Wir sind eine Mischung aus  kulturellen und naturgegebenen Faktoren. Ich sage nicht genetisch, denn heutzutage denkt man leicht, dass bei uns alles genetisch vorprogrammiert sei. Aber so ist es nicht. Deshalb ist es besser, man sagt naturgegeben. Ich mache ein Beispiel: Ich liebe meine Mutter sehr. Sie wird älter und ich liebe sie immer noch. Dann wird sie krank und ich sehe, wie sie leidet. Und was tue ich? Offensichtlich leide ich auch. Aber um nicht noch mehr leiden zu müssen, bringe ich sie in ein Altersheim. Ich wiederhole, es ist ein Beispiel. Ich will damit nur sagen, dass das alles mit der Erziehung zu tun hat, der Kultur, der Vorstellung, die ich von mir selber und von ihr habe. Im Namen einer solchen Liebe kann man auch so weit kommen, den anderen zu eliminieren, natürlich „auf zivilisierte Art“.

Das andere wichtige Thema, auf das Sie angespielt haben, ist die Verantwortung.
Dieses Thema ist absolut grundlegend, besonders in juristischer Hinsicht. Es besteht allgemeiner Konsens, dass jemand, der einen Hirnschaden hat, für das, was er tut, nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Adrian Raine aus Philadelphia hat nun das Hirn von Triebtätern untersucht und dabei gezeigt, dass bei ihnen die vorderen Hirnteile unterentwickelt sind. Das ist aber der Teil, der unser „instinktives“ Verhalten bremst und unterdrückt. Unter anderem hat er über einen Mann berichtet, der in Oregon eine Gruppe von Radfahrern überfahren und getötet hat, weil er es eilig hatte. Nun ist die heikle Frage natürlich: War dieser Mensch schuldfähig oder nicht? Ist das alles vom Gehirn bestimmt? Und wenn der Mensch nicht schuldfähig ist, was machen wir dann? Wenn man die Verantwortung ausschaltet, dann wäre auch das Gefängnis als Resozialisierungsmöglichkeit sinnlos.

Giacomo Rizzolatti nimmt 2011 in Oviedo (Spanien) den Prinz-von-Asturien-Preis für wissenschaftliche und technische Forschung entgegen.

Können Sie von sich behaupten, dass Sie die Natur des Menschen besser kennen?
Was wir entdeckt haben, ist, dass das Nervensystem positive Aktivitäten wie die Empathie bestimmt. Das Nervensystem zu studieren bedeutet nicht, den Menschen auf einen Automaten zu reduzieren. Es heißt vielmehr, die Erkenntnis über sich selbst, seinen Nächsten und das Zusammenleben mit den anderen zu erweitern. Unsere Daten stimmen mit der normalen Lebenserfahrung überein. Mir scheint, dass sie hingegen weniger mit einer Ideologie übereinstimmen, für die nur das einzelne Individuum zählt. Die heutige Tendenz zum Egoismus ist offensichtlich, und die Krise entsteht dadurch, dass sich das gesamte Sozialgefüge zugunsten des Individualismus auflöst. Leider gehen die meisten Intellektuellen in diese Richtung. Sie stellen die Person nicht als Beziehung in den Mittelpunkt, sondern als einzelnes Individuum, das das Leben so weit wie möglich genießen soll in einer Freiheit, die keine Grenzen kennt. Während es doch ziemlich eindeutige Grenzen gibt, in denen die Freiheit sich bewegt.

Das Bewusstsein bleibt ein großes Geheimnis: ein Stück Materie, das sich selbst und die Welt denkt.

Wie stellt sich dies in den wissenschaftlichen Ergebnissen dar?
Sie sagen uns das, indem sie auf die Notwendigkeit von Beziehung und Gefühlen verweisen. Eine Mutter kann nicht aufhören, Mutter zu sein, sie braucht diese Beziehung zu ihrem Kind. Die Biologie erklärt nicht alles, aber auch die Kultur hat ihre Grenzen. Das ist eine Wechselwirkung. Die Kultur kann die Grundbedürfnisse nicht ersetzen. Daher ist es auch ein Irrtum, nicht zwischen den Geschlechtern zu unterscheiden. Die Differenz ist nicht zu leugnen. Ein einfaches Beispiel: Wir haben die Freiheit, zu essen, was wir wollen. Aber wir müssen dabei auf die Glukose achten, denn der Blutzuckerwert sollte um die 70/80 liegen. Wenn er zu niedrig ist, kollabieren wir, wenn er zu hoch ist, fallen wir ins Koma. Es gibt eine Aussage von Hume, die für viele Wissenschaftler Evangelium ist: „Aus dem Sein lässt sich kein Sollen ableiten, aus Erkenntnissen kann man keine Vorschriften herleiten, aus Fakten keine Werte.“ Dies führt zu einem kompletten Relativismus. Und ich glaube nicht, dass das richtig ist. Denn eine wissenschaftliche Tatsache (wie der Blutzuckerwert von 70 oder 80) gibt uns auch einen zu erstrebenden Wert an. Das gilt für das Blut, und das gilt für die Freiheit. Ich bin abhängig davon, wie ich geschaffen bin. Wenn ich leben will, muss ich das akzeptieren. Ich bin nicht nur Seele, sondern auch Leib. Der Leib spielt eine grundlegende Rolle in unserem Leben.

Heute scheint der Materialismus vorzuherrschen, gleichzeitig steht aber die Behauptung im Raum, dass die Kultur alles vermag.
Das genau ist das Paradox: Die Mentalität der meisten Intellektuellen ist antireligiös und gleichzeitig spiritualistisch. Man glaubt, die Kultur könne alles, und vernachlässigt die Materie, die Wirklichkeit, in der wir geschaffen sind.

Was sagt uns die Hirnforschung über das Bewusstsein?
Nichts. Es ist zwar sehr viel über das Bewusstsein geschrieben worden, aber – wie jemand treffend resümiert hat – nothing worth reading [nichts Lesenswertes]. Das Bewusstsein ist ein Geheimnis, eine schwierige Frage, bei der wir nicht wissen, wie wir sie angehen sollen. Wie Sie wissen, fangen wir heute an, das Gehirn von Menschen, die sich in tiefem Koma befinden, zu untersuchen. Es gab eine Studie, in welcher bei jemandem, der im Koma liegt, statt der üblichen Tests eine Magnetresonanztomographie durchgeführt wurde, nachdem man ihn aufgefordert hatte, ans Tennisspielen zu denken. Die für Motorik zuständigen Gehirnbereiche eines Menschen, der komplett gelähmt war und als tot angesehen wurde, wurden aktiv!   Da gibt es noch viel zu entdecken. Wir wissen ungefähr, wie die Wahrnehmung vonstatten geht, oder wie wir es schaffen, andere zu verstehen. Aber dieses große Geheimnis bleibt: ein Stück Materie, das sich selbst und die Welt denkt.