AUF WAS WIR STUDENTEN SETZEN
Was bedeutet es, seinen Glauben in der Universität zu leben – beim Lernen, in den Beziehungen mit den Dozenten, mit den Kommilitonen?Von Udine bis Reggio Calabria haben wir Studenten von CL besucht und wollten sehen, wie sie ihren Weg gehen und was sie reifen lässt.
Wie entsteht eine Präsenz? Wir haben uns diese Frage noch einmal gestellt. Und Antworten gesucht in Gemeinschaften des CLU (CL-Studenten) in verschiedenen Teilen Italiens. Wir wollten wissen, was es heißt, Vorlesungen zu besuchen, Kommilitonen zu treffen oder einfach den Alltag zu leben mit dem Wunsch, die Bedeutung des Glaubens für das ganze Leben zu prüfen. Wir sind dazu nach Mailand und Bologna gefahren, wo die zahlenmäßig größten Gemeinschaften sind, aber auch nach Udine oder Reggio Calabria, die als „Randgebiete“ der akademischen Welt gelten. Und gerade dort zeigt sich, dass die Chance, präsent zu sein und in der Erfahrung zu reifen, nicht von den Zahlen oder den mehr oder weniger günstigen Umständen abhängt. Sie ist untrennbar mit jener Frage verknüpft, die vor einigen Wochen das Thema der Exerzitien des CLU war: Wie kann man leben? „Nur indem man diese Frage lebendig hält“ und lernt, die Wirklichkeit zu beurteilen, kann „eine neue Art, in der Welt zu sein“, entstehen, hatte Don Carrón den mehr als fünftausend Studenten in Rimini gesagt. Ein paar Beispiele dafür, wie diese Herausforderung aufgenommen wird, wollen wir hier zeigen.
UDINE UND TRIEST WIR ZWÖLF (VON 15.000)
„Warum? Was soll hier anders sein?“, fragt Giovanni, der Medizin studiert an der Universität Udine. „Uns fehlt nichts, auch wenn wir nur zwölf sind unter 15.000. Wir tauschen uns mit vielen aus. In letzter Zeit diskutieren wir in unserer Fakultät zum Beispiel oft über das Ende des Lebens. Da muss ich immer wieder meine Position verteidigen. Oder wir reden darüber, wie man mit seiner Freundin umgeht ... Darauf kommt man fast immer, beim Sprizz oder beim gemeinsamen Abendessen. Wir setzen uns mit allen auseinander und verfolgen keine bestimmte Strategie. Die Vorkurse für die Abiturienten zum Beispiel, die haben wir Leuten anvertraut, die nichts mit der Bewegung zu tun hatten. Oft waren wir selbst überrascht, wie die sie dann gehalten haben. Wieso sollte das ein Problem sein?“ Man muss hier mit einem anderen Maßstab herangehen. Das weiß auch Anna, die Jura studiert. „Ich habe Freundinnen vom CLU, die in Mailand studieren. Die Situation läßt sich nicht ganz vergleichen, wegen des intensiven Gemeinschaftslebens, das sie dort haben. Ich bin allein unter 170 Kommilitonen in der Vorlesung. Darüber kann ich mich aufregen – oder mir überlegen, ob die, die ich vor mir habe, und das, was mir gegeben ist, wirklich für mich ist. Einmal kam in der Vorlesung eine Studentin und fragte mich, ob ich ihr nicht einen Job vermitteln könne. Sie wusste, dass ich durch die Bewegung viele Leute kenne. Doch dann fing sie an, von sich zu erzählen, von den Problemen in ihrer Familie. Sachen, die sie noch nie jemandem erzählt hatte, und jetzt mir.“
Giovanni leitet das wöchentliche Seminar der Gemeinschaft. „Manchmal erwarte ich, dass die Leute Dinge sagen, wie ich sie jahrelang gewohnt war ... Aber ich merke, dass die wenigen hier kommen, weil sie wirklich das Bedürfnis haben. Hier kann man sich nicht in der Masse verstecken und einfach mitziehen lassen. Das ist eine Gnade. Sicher verliert man sich leichter, wenn man in den Kursen oder im Fakultätsrat alleine ist. Aber man kommt auch schneller wieder zum Wesentlichen. Da reicht ein Gesicht, ein Gruß, und man erkennt das wieder, was einen trägt. Derartige Beziehungen sind in der letzten Zeit sehr viele entstanden, auch außerhalb von Udine.“ Mit Padua zum Beispiel. Oder Triest, wo die Gemeinschaft kaum größer ist. „Doch das Entscheidende ist auch hier nicht die Zahl“, sagt Tommaso. „Es geht immer darum, wie unsere Beziehung zu Christus ist.“ Auch wenn man sich manchmal nicht bewusst ist, was für ein Geschenk man bekommen hat. „Wir hatten einen japanischen Doktoranden zu unseren Ferien eingeladen. Bei der abschließenden Versammlung schilderte einer von uns, wie mühsam es ist, andere zu einem solchen Gestus einzuladen ... Und der Japaner sagte: ‚Aber was habt ihr denn? Wo ist das Problem? Es ist doch wirklich wunderschön hier!‘“
MAILAND / ARCHITEKTUR - GIOVANNI UND DER STAR-ARCHITEKT
„Alles läuft nach meinen Wünschen“, sagt Giovanni. Er studiert Architektur in Mailand und ist im letzten Semester. Vor kurzem war er in Amsterdam, wo er einen berühmten Architekten getroffen hat: Herman Hertzberger. „Er hat mir zugesagt, meine Abschlussarbeit zu betreuen.“ Aber das war nur die unerwartete Frucht von etwas anderem. „Der Ausgangspunkt war, dass ich mein Herz und die Wirklichkeit wahr- und ernstgenommen habe. Vor anderthalb Jahren habe ich mich mit Le Corbusier beschäftigt. Alle Kritiker und Forscher beschreiben ihn anhand von Details. Aber das war mir zu einseitig. Wie kann man jemanden nur anhand von Details seines Werkes beurteilen?“ Giovanni las Fachliteratur und begeisterte sich immer mehr für Le Corbusier. „Ich fand einen Briefwechsel zwischen ihm und Paul Claudel. Dadurch habe ich ihn als Menschen entdeckt.“ Mit einigen Kommilitonen von CL überlegte er, ein paar berühmte Architekten zu Vorträgen einzuladen. „Es ging nicht darum, irgendeine öffentliche Veranstaltung zu organisieren, sondern dem auf den Grund zu gehen, was uns interessiert.“ Zwanzig E-Mails verschickten sie. Fast alle Angesprochenen antworteten und nahmen die Einladung an. „Nun musste die Finanzierung des Projektes gesichert werden. So sprachen wir die Dekane des Bachelor- und des Master-Studiengangs an. Und da gab es die erste schöne Überraschung.“ Die beiden Dekane hatten sonst nichts miteinander zu tun. Ihre Büros lagen auf unterschiedlichen Etagen. Zwei ganz getrennte Bereiche. „Sie waren selbst überrascht, dass sie zusammenkamen, um über einen Vorschlag zu diskutieren, den wir ihnen unterbreitetet hatten.“ Die Dekanin des Bachelorstudiengangs bezeichnete die Universität, als sie später einen dieser Vorträge einführte, als eine „Gemeinschaft von Studenten und Dozenten“. „Diese Worte waren Fleisch geworden in dem, was geschehen war. Es war wirklich etwas Neues. Die Normalität sieht sonst so aus: Studenten bei den Vorlesungen, dann bei den Prüfungen; Dozenten, die ihr Wissen oft monoton vortragen und Power-Point-Präsentationen zeigen. Dann geht jeder seiner Wege. Als hätten alle ihre Sehnsucht verstümmelt.“ Und Giovannis Wünsche? Bei einem der Vorträge sollte er einen niederländischen Architekten vorstellen. Er hatte sich gut vorbereitet. Und dessen Konzept von öffentlichem und privatem Raum, seine Vorstellung von der Stadt hatten ihn sehr beeindruckt.
Der niederländische Star-Architekt kam mit seiner Frau. Und stellte nur eine Bedingung: Er wollte die Kirche Santa Maria delle Grazie sehen. „Während seines Aufenthaltes in Mailand habe ich ihn fast ständig begleitet. Oft lud ich auch Freunde dazu ein. Manchmal blamierten wir uns, weil wir den Gesprächen auf hohem architektonischem Niveau nicht folgen konnten. Wir bummelten durch Mailand, und er machte sich Notizen über das, was ich erklärte. Echt komisch.“ Am ersten Tag kam Giovanni früher als vereinbart ins Hotel. Am zweiten Tag wartete der Architekt bereits auf ihn in der Hotelhalle, obwohl Giovanni wieder zu früh kam. „‚Warum kommst du immer pünktlich?‘, fragte er mich. So erzählte ich ihm meine Geschichte, von der Erziehung, die ich genossen hatte, von der Begegnung mit einem tollen Menschen am Gymnasium, der mich dazu erzogen hatte, alles zu lieben und mit Sorgfalt zu behandeln.“ Auch ihn.
Am Vortragsabend hörte der Professor aufmerksam der Einführung von Giovanni zu. „Ich hatte erwähnt, dass ich im letzten Semester sei und bald meine Abschlussarbeit schreiben würde. Am nächsten Tag, als wir zum Flughafen fuhren, bedankte er sich bei mir. Eine solch aufmerksame Begleitung habe er mit seinen 80 Jahren noch nie erlebt. Er gab mir ein paar Tipps für meine Abschlussarbeit. Und empfahl mir, sie im Ausland zu machen. Damals habe ich ihn noch nicht gebeten …“ All dies geschah im Juni. Im September schrieb Giovanni der Sekretärin des Professors eine E-Mail und fragte, ob dieser bereit wäre, seine Arbeit zu betreuen. Als Antwort bekam er einen Termin im Dezember in dessen Büro in Amsterdam. Kein Anruf und keine weitere E-Mail. Drei Monate später flog Giovanni nach Amsterdam. Nur mit einer Adresse in der Hand. Er klingelte: „Ich bin der italienische Student …“. „Oh dear, come in“, sagte die Sekretärin. „Der Professor erwartet dich schon.“
MAILAND / TECHNISCHE UNIVERSITÄT „WAS HAT ES MIT DIESER GEMEINSCHAFT AUF SICH?“
Paolo studiert Bauingenieurwesen im ersten Semester. Er mag vor allem „die besonders Ausgeflippten“ unter seinen Kommilitonen, „die meiner Meinung nach ein großes Herz haben“. Und davon gibt es offenbar eine Menge. „Ich kann einfach nicht umhin davon zu sprechen, wer ich bin, wem ich begegnet bin und was mein Leben verändert hat.“ Vielen hat er auch vom Seminar der Gemeinschaft erzählt, das für ihn etwas sehr Schönes ist. Eines Tages fragte ihn einer dieser Freunde, einer der Verrücktesten: „Was hat es eigentlich mit dieser Gemeinschaft auf sich?“ „Das kann ich dir nur erklären, wenn du mir bis zum Ende zuhörst“, antwortete Paolo. Dann erzählte er ihm, wie er früher war, vor jenem 28. August 2011, als er am Grab von Don Giussani wieder angefangen hat zu beten. Und von seinen Freunden an der TU, von seinem „neuen Leben“. Am Ende sagte der Freund: „Paolo, du hast mich total verblüfft! So was habe ich noch nie gehört.“ Und er: „Schau, du machst immer so extreme Sachen, weil du damit deinen Wunsch nach Sinn erfüllen willst.“ Zum Seminar ist dieser Freund bisher noch nicht gekommen. „Aber das macht nichts“, meint Paolo. „Jeden Tag geschieht irgendetwas, das meinen Tag rettet. Und zwar oft mit den Leuten, die mich für ‚komisch‘ halten.“
Wenn man die Studenten fragt, wie das Leben an der TU ist, dann antworten sie: „Super! Da ist alles dran.“ Man spürt ihren Elan, der mit allen Aspekten des Lebens zu tun hat. Als vorweihnachtliche Spendenaktion für AVSI haben sie eine Lotterie gemacht. „Die Studenten der Ingenieurwissenschaften sind ganz pragmatische Leute. Viele haben das begeistert aufgenommen. Es war eine Gelegenheit zu interessanten Begegnungen“, sagt David. Als der Rektor dem Senat Vorschläge in Bezug auf Vorlesungen in englischer Sprache und Erasmus-Programme unterbreitete, nahmen die Studenten das sehr ernst und besprachen es untereinander. „Wir versuchen, von unseren Bedürfnissen auszugehen, von der Tatsache, dass wir an der Universität sind, um als Menschen zu reifen“, erklärt Simon. „Daher wollen wir alle Chancen ernst nehmen, die die TU uns bietet. Unsere Freundschaft ist auch dadurch tiefer geworden. Jeder hat seinen Beitrag geliefert.“ Die Arbeit an diesen Vorschlägen dauerte zwei Monate. Auch Dozenten waren involviert. „Es war nie unser Problem, eine Präsenz an der Uni zu werden. Wir sind zusammen und gehen von der Frage aus: ‚Was ist unser Bedürfnis?‘ So entsteht ein gemeinsames Urteil über die Dinge.“
Das Leben ist wirklich super. Wie der Vater von David zu einer Freundin sagte: „Ich verstehe nicht, was er da macht. Aber er kommt froh nach Hause.“
REGGIO CALABRIA - VALENTINAS ANTLITZ
„Es ist ein Risiko, hier zu studieren.“ In Reggio Calabria, ganz unten im Süden Italiens, wo man vom Hörsaal aus das Meer sieht. „Üblicherweise geht jemand, der studieren will, der Ehrgeiz besitzt, von hier weg“, sagt Tommaso. Er ist Architekt und schreibt hier seine Doktorarbeit. „Meine Kollegen leben entweder so, als wären sie nur auf der Durchreise, eine begrenzte Zeit, die man aushalten muss, oder sie bedauern es, dass sie hier sind. Aber ich werde nicht gehen. Ich entdecke immer mehr, dass das hier für mich ist.“ Der CLU von Reggio Calabria, das sind nur ungefähr 30 Studenten. „Ein Randgebiet“, sagt Marco. Er studiert Ingenieurswissenschaften und schreibt eine Abschlussarbeit über das Android-Betriebssystem. Und er sieht das Ganze hier als eine Gelegenheit für seine berufliche Zukunft. „Aber vor allem, um Mensch zu werden.“ Wieso? „Um immer besser zu verstehen, was mich im Leben wirklich interessiert.“ Statt einer Erklärung stellt er uns Lorenza vor, die Sprachen studiert. Allerdings in Messina, daher muss sie immer mit der Fähre hin- und herfahren. Sie ist eine der Neuen in der Gemeinschaft. „Ein paar Leute aus meiner Pfarrei haben mich eingeladen. Damals dachte ich, es ginge mir gut, so wie es war. Ich hatte seit sieben Jahren einen Freund. Studierte. Machte Pläne für die Zukunft, irgendwann eine Familie gründen ...“ Dann ging sie doch zum Seminar der Gemeinschaft und fuhr mit auf die Freizeit in den Bergen. „Da ist mir klargeworden, dass das, was ich dort fand, für mein Leben unerlässlich war. Mehr brauchte es eigentlich nicht. Dort in den Bergen habe ich nichts vermisst, weder meine Familie, noch meinen Freund. Es war alles da.“
Ähnlich ging es auch Valentina, nachdem sie Agata begegnet war. „Wir begannen gemeinsam zu lernen. Je besser ich sie kennenlernte, desto mehr faszinierte mich, dass sie in genau derselben Situation war wie ich: Sie musste dieselben Prüfungen absolvieren, hatte mit denselben Ängsten zu kämpfen. Sie stellte sich dieselben Fragen und fand keine Antwort darauf.“ Valentina lädt sie zum gemeinsamen Angelus-Gebet ein, hat aber Angst, wie sie reagieren wird. Doch Agata sagt zu. Lorena, eine Freundin von Valentina, versucht ihr die Geste zu erklären: „Die Geschichte von Jesus ist nicht vor über zweitausend Jahren zu Ende gegangen. Sie ist auch heute noch immer präsent, mitten unter uns, und manifestiert sich im Antlitz unserer Freunde, in diesem Fall in dem von Valentina.“ Für Valentina ist das wie ein Faustschlag in die Magengrube. Wie kann sie ein Instrument Gottes sein? „Ich habe Agata dann auch zum Seminar der Gemeinschaft eingeladen. Am Abend nach dem Treffen hat sie mir eine SMS geschickt: ‚Gott hat mir Dich geschickt ... Darf ich auch zum nächsten Treffen kommen?‘“