NEUROWISSENSCHAFTEN (Teil 3): DIE SPRACHE - DER URKNALL DER WÖRTER
Die syntaktischen Regeln sind sehr kompliziert, trotzdem erlernen wir sie im Kindesalter ohne Probleme. Welche Beziehung besteht zwischen Geist und Sprache? Warum „trägt jede Grammatik das Unendliche in sich?“ Eine Entdeckungsreise durch den Code, der dem menschlichen Gehirn „eingeschrieben“ ist. Spuren beendet seine Artikelreihe mit dem Neurolinguisten ANDREA MORO*, der uns erklärt, warum wir „ganz speziell konstruiert“ sind.
„Die Sprache ähnelt eher einer Schneeflocke als einem Giraffenhals.“ Andrea Moro weiß, dass er seinen Gesprächspartner damit verwirrt. „Es hört sich komisch an, ich weiß. Aber da es um das Unendliche geht, kann es nicht anders sein.“ Der italienische Neurolinguist wirkt sehr poetisch, wenn er von Wörtern spricht. Er erfindet Redewendungen, lustige Verben, verschachtelte Sätze, um dadurch zu zeigen, dass die Grammatik jeder Sprache das Unendliche in sich trägt. „Die Sprache wird wie eine Schneeflocke geboren. Sie entsteht aufgrund von Naturgesetzen, nicht aus einer Anhäufung historischer und evolutionsbedingter Fakten. Ihre Regeln, die mit dem Unendlichen untrennbar verbunden sind, können nur plötzlich und vollständig im Gehirn entstehen.“
Andrea Moro kann sich seine zum Beruf gewordene Leidenschaft selbst nicht erklären. „Seit meiner Jugend habe ich sie. Vielleicht war ich von der Idee fasziniert, Geheimsprachen zu entschlüsseln. Und die geheimnisvollste Geheimsprache ist die, mit der wir konstruiert sind.“ Er hält sich für einen verhinderten Mathematiker, der sich nicht nur in die Wörter, sondern auch in das Gehirn verliebt hat und der an der Universität einen komplizierten Weg gegangen ist. Viermal hat er die Studienrichtung gewechselt. Bis zu dem Tag, als er eine seiner Arbeiten einem der größten Sprachwissenschaftler der Welt schickte und der ihn daraufhin treffen wollte. „Noam Chomsky hat mir zu verstehen gegeben, dass ich nicht ganz verrückt war. Oder wenn, dass wir beide verrückt sind …“
Der 51-jährige Moro, der heute stellvertretender Rektor der IUSS-Hochschule in Pavia und Direktor des NeTS (Zentrum für Neurokognition und theoretische Syntax) ist, begleitet uns auf der letzten Etappe unseres Durchgangs durch die Neurowissenschaften, die der Beziehung zwischen Gehirn und Sprache gewidmet ist. Er verliert keine Zeit mit akademischem Geplänkel und kommt gleich zum Kern der Sache: „Wenn man die Sprache betrachtet, redet man vom Menschen als ganzem. Und man kann nicht vom Menschen reden, ohne von Sprache zu reden.“
Wieso?
Erstens, weil die Sprache das Werkzeug ist, mit dem der Mensch nicht nur alles kennzeichnet, was er tut, sondern auch alles, was er denkt über das, was es tut. Ohne Sprache wäre also das Selbstbewusstsein schlichtweg unmöglich. Zweitens, weil die Struktur der menschlichen Sprache einzigartig ist unter den Lebewesen. Die Menschen und nur die Menschen können, um es mit Wilhelm von Humboldt zu sagen, „von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen“. Das ist Syntax: aus endlichen Mitteln (den Wörtern) entstehen Strukturen, die sich unendlich kombinieren lassen.
Ist also die Syntax die Grenze zwischen der Sprache der Menschen und der der Tiere?
Jedes Tier kommuniziert. Wenn Kommunikation heißt, Informationen auszutauschen, dann können das auch Mohnblumen. Aber die Codes aller anderen Lebewesen haben keine Struktur, die der menschlichen Sprache ähnlich wäre. Nur Menschen können potenziell unendlich viele Wortketten bilden, in denen die gleichen Elemente je nach Reihenfolge unterschiedliche, teilweise gegensätzliche Bedeutungen ergeben: Kain tötete Abel, Abel tötete Kain. In den siebziger Jahren hat man beobachtet, dass Schimpansen, die uns ja recht ähnlich sind, relativ viele Wörter lernen können (etwa 130). Aber sie können sie weder unendlich umstellen noch ihnen unterschiedliche Bedeutungen geben. Sie haben Zeichenketten, die nicht erweiterbar sind und deren Bedeutung nicht verändert werden kann.
In welcher Weise ist die Sprache vom Gehirn abhängig?
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entdeckte Paul Broca ein spezifisches Areal im Gehirn, das die Sprache steuert. Und in den fünfziger Jahren entdeckte Noam Chomsky die grundlegenden mathematischen Eigenschaften menschlicher Sprachen. Diese Entdeckung führte zu der Hypothese, dass auch die Syntax biologisch determiniert sei, und nicht das Ergebnis freier Entscheidungen oder Konventionen. Das heißt, die Regeln, auf denen sie basiert, sind keine Erzeugnisse der Kultur, sondern hängen von der neurobiologischen Hirnstruktur ab. Sie sind also angeboren. Diese Entdeckung hat nicht nur die Sprachwissenschaften revolutioniert, sondern auch die Neurowissenschaften im Allgemeinen. Das zeigt auch die „Bibel“ dieses Forschungsbereichs, die Prinzipien der Neurowissenschaften von Eric Kandel, die in ihrer neuesten Auflage diese Themen aufgenommen hat.
Wie lässt sich das beweisen?
Ein erstes Experiment, um zu beweisen, dass die Syntax mit einer spezifischen Neuronenaktivität zusammenhängt, ist das Folgende: Man baut syntaktische Fehler in eine Sprache ein, die keine semantischen Bezugspunkte hat, um die Reaktion des Gehirns zu testen. Wenn ich den Satz: Der Gulk ganeging die Brale lese, werden andere Netze aktiv, als wenn ich lese: Gulk der ganeging Brale die, wo die Syntax verletzt wird.
Heißt das also, dass die Sprache unserem Gehirn „eingeschrieben“ ist?
Ja, wir sind ganz speziell „konstruiert“. Wir haben eine neurozerebrale Architektur, eine Vernetzung von Schaltkreisen, die den Code der Sprache beeinflussen. Es ist offensichtlich, dass diese Fähigkeit Fragen aufwirft, die die Wissenschaft nie wird beantworten können. Zum Beispiel, warum uns und nur uns die einzigartige Fähigkeit verliehen ist, das Unendliche zu denken und uns bewusst eine Vorstellung davon zu machen.
Die Entdeckungen, welche die Sprache betreffen, beeinflussen auch unser Bild vom Menschen.
Sie bestätigen unsere Einzigartigkeit in der Schöpfung. Es gilt folgender Syllogismus: a) Unsere Sprache ist einzigartig unter allen Lebewesen, die ihrerseits einander ähnliche Sprachen besitzen, und zwar ohne Syntax. b) Diese Sprache ist Ausdruck unserer biologischen Struktur. c) Ergo ist unsere biologische Struktur einzigartig. Aber Achtung! Das ist keine Feststellung, die nur auf Daten aus dem Vergleich verschiedener Sprachen gründet. Dank einer Reihe von Experimenten und durch die Brain-Imaging-Technologie ist es gelungen, die syntaktischen Strukturen in der biologischen Architektur des Gehirns zu verankern. In den fünfziger Jahren, als das Gehirn mit einem Rechner und wir Menschen mit Maschinen verglichen wurden, hatte man die Illusion – wie das berühmte Zitat von Yehoshua Bar-Hillel es ausdrückt –, dass wir „uns im letzten Tunnel befinden, auf dem Weg zu einem vollständigen Verständnis der Komplexität der Kommunikation beim Tier und bei der Maschine.“ Der Mensch war faktisch als irrelevant eliminiert worden. Chomsky hat ihn wieder auf die Bühne gebracht. Und zwar in seiner „schwachen“ Variante: als Kind.
„Bei der Geburt ist unser Geist für alle mögliche Sprachstrukturen offen. Es ist also ein ‚totipotenter‘ Geist.“
In welchem Sinne?
Er hat die biologische Natur des Spracherwerbs unterstrichen. Von der Idee einer tabula rasa, auf der das Kind durch Versuch und Irrtum seine Grammatik aufbaut, ist man zu der Vorstellung übergegangen, dass das Gehirn die Regeln aller möglichen Sprachen beinhaltet. Das Kind erwirbt dann aber endgültig nur die Regeln, die ihm seine Umwelt suggeriert. Man nennt diesen Prozess „Lernen durch Vergessen“. Als Kinder können wir alle Laute aller Sprachen lernen. Wenn wir aber ungefähr die Grenze der Pubertät überschritten haben, kommen wir nicht mehr von den Lauten unserer Muttersprache los. Wenn wir dann andere Sprachen lernen, prägen wir ihnen einen Akzent auf. Und vor allem lernen wir das Sprechen schnell und problemlos in einer Phase des Lebens, in der logische und kulturelle Denkschlüsse weit außerhalb unserer Reichweite sind. Im Gegensatz dazu ist ein Erwachsener, der kognitiv und kulturell viel besser ausgestattet ist, nicht in der Lage, eine Sprache „durch Nachahmen“ zu lernen wie ein Kind. Dies bedeutet, dass wir biologisch zum Spracherwerb „entworfen“ sind. Es geht dabei nicht um intellektuelles Verstehen, sondern ähnelt eher der Art und Weise, wie wir das Essen verdauen, auch wenn wir keine Ahnung von organischer Chemie oder von Gastroenterologie haben.
Haben Sie deswegen den Begriff des „totipotenten Geistes“ eingeführt?
Ja. Heute spricht man von totipotenten Stammzellen und verbindet das Wort dabei nur mit dem biologischen Potenzial. Aber ich glaube, dass es wichtig ist zu unterstreichen, dass auch der Geist seine „Stammzelleigenschaft“ hat. Bei der Geburt ist unser Geist für alle möglichen Sprachstrukturen offen. Irgendwann festigen sich diese Strukturen, wie die Zellen sich auf bestimmte Gewebearten festlegen. Allerdings wird nicht alles festgelegt. Was beim Menschen „stammzellartig“ ist und immer bleibt, sind die Neugierde und die Liebe.
Wenn die Sprache biologischer Natur ist, in welchem Sinne ist sie dann trotzdem eine Erfahrung?
Wenn sie keine Erfahrung wäre, dann würde sie uns nicht zum Spracherwerb antreiben. Die Erfahrung ist der erste Propeller der Sprache und ein unumgänglicher Bestandteil der Wirklichkeit. Wir arbeiten gerade an der Definition der „Grenzen von Babel“, wie ich sie gerne nenne, innerhalb derer wir uns bewegen können und die unserem Körper eingeschrieben sind. Wir versuchen festzustellen, welche Freiheiten wir haben. Ein Beispiel macht das deutlicher: Die Anatomie erklärt, wie das Auge funktioniert, aber aufgrund der Erfahrung entscheiden wir, was wir betrachten wollen.
Sie haben oft gesagt, dass die Sprache ein Geheimnis ist. In welchem Sinne? Und welche Bedeutung hat dieser Gedanke in der Wissenschaft?
Die Sprache ist ein Universum. Wie im Universum der Physik, so lässt sich auch in der Sprache nicht alles erklären. Das, was Anstoß erregt, ist genau ihr Geheimnis. Denn der Anspruch, sie durch ein einziges Gesetz vollständig zu definieren, stößt hier auf die Undefinierbarkeit des Menschlichen. Man kann es nicht in einen Käfig aus verkürzenden oder deduktiven Formeln sperren. Außerdem ist die Sprache selbst das Werkzeug, mit dem wir versuchen, die Sprache zu beschreiben, was die Lage noch komplizierter macht. Vielleicht zu kompliziert für den menschlichen Geist, der sich damit abfinden muss, dass es so ist. Doch das Geheimnis zu akzeptieren ist fundamental für die Wissenschaft. Wer das Geheimnis nicht annimmt, geht von dem ideologischen Dogma der kognitiven Allmacht aus, das keinerlei philosophische oder empirische, ja nicht einmal eine logische Grundlage hat. Das Geheimnis zu akzeptieren ist ein vorübergehender oder endgültiger Bestandteil des Verständnisses der Wirklichkeit. Es muss zur wissenschaftlichen Methode gehören.
„Die Menschen und nur die Menschen lassen aus endlichen Mitteln (den Wörtern) unendlich viele Strukturen entstehen.“
Was ist das Wichtigste, das Sie durch ihre Arbeit lernen?
Ein Satz von Chomsky fasst meine Faszination für die Sprache sehr gut zusammen: „Es ist wichtig, dass wir lernen, über einfache Tatsachen zu staunen.“ Lernen, weil die Erkenntnis kein Talent ist, sondern durch eine Methode und Übung entsteht; Staunen, weil man ohne Neugierde und Staunen nicht einmal morgens aus dem Bett aufstehen würde; einfache Tatsachen, weil die Sprache, im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Gebieten, nicht unbedingt komplizierte Geräte braucht, um an die wichtigsten Daten zu kommen. In der Linguistik habe ich all das gefunden. Ich bin Meistern gefolgt und habe dabei gelernt, über einfache Tatsachen zu staunen und mir meine eigene Meinung zu bilden.
Was meinen Sie, wenn Sie sagen, dass wir „fleischgewordene Wörter“ sind?
Wir können heute nicht mehr denken – wie man das in den siebziger Jahren und darüber hinaus noch tat –, dass die Sprache irgendeine Software sei, die auf der neutralen Hardware unseres Gehirns laufe. Die Sprache ist jene einzigartige Software, die die Hardware des Gehirns hervorbringt. Mit größter Wahrscheinlichkeit ist es dann sinnvoll zu denken, dass die Gene, die den Aufbau unseres Gehirns steuern, also die neurobiologische Struktur, welche die Sprache zur Entfaltung bringt, nicht vom Rest des Organismus abgekoppelt sind. Wäre es anders, so wären schon verschiedentlich Menschen geboren worden, die uns in allem gleich sind, aber nicht unsere Sprachfähigkeit besitzen. (Natürlich spreche ich hier nicht von Taubstummen, die in der Gebärdensprache vergleichbare Ausdrucksmöglichkeiten haben.) Vielleicht sind es dieselben Gene, wie sie auch in lebenswichtigen Organen vorkommen: Wenn nur eines von ihnen fehlt, dann kann das Individuum nicht geboren werden. Oft sage ich meinen Studenten, das Fleisch sei logos geworden.
„Auch die Syntax ist biologisch determiniert, und nicht das Ergebnis freier Entscheidungen oder Konventionen.“
Können Sie das näher erklären?
Es ist meine Art zu erklären, dass es sinnlos ist zu meinen, der menschliche Körper sei eine träge Hülle, in welche die Sprache magisch eingepflanzt werde. Die Sprache und unser Körper sind ein einziges Wunder. Uns scheinen sie getrennt, weil wir die neurobiologische Natur der Sprache nicht erkennen. Selbstverständlich aber – und es lohnt sich, das nochmals zu betonen – wird keine Sprachtheorie je etwas über die menschliche Kreativität aussagen können. Die bleibt, wie Descartes schon geahnt hatte, ein Geheimnis. Ich glaube sogar, dass man sich nicht einmal vorstellen kann, sie als etwas anderes zu betrachten. Und zwar für immer.
Vor welchen Herausforderungen steht die Neurolinguistik heute?
Es gibt mindestens zwei: Wir wollen versuchen, die formalen Grundeigenschaften der Syntax zu identifizieren (die Elementarteilchen und ihre Kräfte sozusagen), und feststellen, welche Art von Signalen die Neuronen im Rahmen der sprachlichen Aktivität austauschen.
Noch ein Letztes. Sie haben geschrieben: „Den Dingen einen Namen zu geben, das ist der wahre Urknall, der uns etwas angeht.“
Im Buch Genesis wartet Gott und hört zu, während Sein Geschöpf allem einen Namen gibt. Ich habe mich immer gefragt, was es eigentlich bedeutet, dass wir „nach Seinem Abbild, Ihm ähnlich“ geschaffen sind. Ich glaube, dass wir Gott darin ähnlich sind, dass wir den Dingen einen Namen geben, weil wir dadurch, wenn auch nur halbwegs, einen schöpferischen Akt vollziehen. Natürlich geht die Ähnlichkeit noch darüberhinaus, aber das gibt doch ein sehr schönes und überraschendes Bild von ihr. Jedenfalls finde ich das.
ICH SPRECHE, ALSO BIN ICH
*Andrea Moro (Jahrgang 1962) ist Professor für allgemeine Sprachwissenschaften an der Hochschule IUSS in Pavia und leitet dort das NeTS (Zentrum für Neurokognition und theoretische Syntax). Er war Fulbright-Student und mehrfach Visiting Scientist am MIT und in Harvard, hat Kurse und Seminare in Europa und den USA gegeben. Einige seiner wichtigsten Werke sind: The Boundaries of Babel. The Brain and the Enigma of Impossible Languages (MIT Press 2008); Breve storia del verbo „essere“. Viaggio al centro della frase (Adelphi, 2010); Parlo dunque sono. Diciassette istantanee sul linguaggio (Adelphi, 2012); The equilibrium of human syntax. Symmetries in the brain (Routledge 2013).
Weitere Informationen unter: www.nets.iusspavia.it