Eugenio Corti

EUGENIO CORTI

Er sprach vom Menschen an sich, indem er über einzelne Menschen schrieb. Eugenio Corti, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Italiens, kämpfte für den christlichen Sinn des Lebens. Tag für Tag.
Maurizio Vitali

Als Eugenio Corti kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs anfing zu schreiben und als erster über die Tragödie der italienischen Soldaten im Russlandfeldzug berichtete, erntete er dafür viel Lob von bedeutenden Intellektuellen und Literaturkritikern. Sein 1300-Seiten-starkes Meisterwerk Il cavallo rosso [Das rote Pferd - leider nicht auf Deutsch vorhanden], das er 1983 nach elf Jahren Arbeit daran publizierte, hat in Italien inzwischen 29 Auflagen erlebt. Es wurde in neun Sprachen übersetzt, darunter ins Englische, Französische, Litauische und Japanische, aber nicht ins Deutsche. In diesem Buch beschreibt Corti die Tragödie des 20. Jahrhunderts. Konzentrationslager und der Gulag stehen für die grausame und unübersehbare Präsenz des Bösen in der Geschichte. Er erzählt von den Wechselfällen im Leben mehrerer Jugendlicher aus der Brianza, der Gegend um die Stadt Monza in Norditalien, in der Zeit zwischen 1940 und 1974. Il cavallo rosso ist ein großer epischer Roman, der seinem Autor Vergleiche mit Tolstoi, Solschenizyn und Manzoni einbrachte.

Normalerweise würde man dann erwarten, dass der Schriftsteller von Verlagen hofiert, in den Feuilletons der Zeitungen hochgelobt und in die Talkshows des Fernsehens eingeladen wird. Das war aber bei Corti keineswegs der Fall. Die kulturellen Eliten Italiens hielten sich von ihm fern. Ein kleiner, mutiger, katholischer Verlag brachte seine Werke heraus. Und der gewaltige Verkaufserfolg kam nicht durch millionenschwere Werbekampagnen, sondern durch Mundpropaganda zustande. Die Macht der Ohnmächtigen!

Natürlich gibt es eine Erklärung für dieses Phänomen. Eugenio Corti war Christ, und sein Roman ist ein Werk christlicher „Menschwerdung“. Das war für das intellektuelle Establishment inakzeptabel. Ihm passierte das gleiche wie Giovannino Guareschi. Der ist zwar der italienische Schriftsteller, der in die meisten Sprachen übersetzt wurde, gilt aber unter Intellektuellen als Autor zweiter Klasse.

„Das war mein Traum: der Schönheit nachzujagen. Dieser Idee habe ich versucht, immer treu zu bleiben.“

Cortis christlicher Glaube hat tiefe Wurzeln in der Brianza der Vorkriegszeit. Ein Land der Werkstätten und kleinen Fabriken, eine noch eher bäuerlich geprägte Landschaft, auch kulturell. Die Menschen dort hatten noch Vertrauen in die Vorsehung. Ihr Leben war bestimmt durch Arbeit und Opfer: das lebendige Zeugnis eines Christentums, das eine bestimmte Art von Menschen und eine bestimmte Kultur hervorbringt.

Seine Welt. Eugenio Corti wurde 1921 in Besana geboren. Im selben Jahr wie ein anderer großer christlicher Schriftsteller, Giovanni Testori. Ein Jahr später wurde der aus Desio in der Brianza stammende Achille Ratti zum Papst gewählt. Und wiederum ein Jahr später kam in Desio Luigi Giussani zur Welt. In diesen Jahren lebte auch Don Carlo Gnocchi in der Brianza, der ab 1941 als Militärseelsorger den italienischen Gebirgsjägern in den Krieg folgte. Er war ein guter Freund Cortis und feierte 1951 dessen Trauung mit Vanda. Eugenio lernte von seinem Vater Mario den christlichen Sinn der alltäglichen Arbeit. Der war zwar von einem einfachen Arbeiter zum Unternehmer aufgestiegen, aber sein Herz war, wie der Schriftsteller später berichtete, „der Welt der einfachen Leute verbunden geblieben“. Mehr noch als der Glaube des Vaters hat die Mutter „uns alle, ihre Kinder geprägt. Sie trug viel Liebe in sich: für Gott, für die heilige Religion, für ihren Mann, für ihre Kinder, für den Nächsten.“

Pygmäen oder Eskimos. Die Brianza in den Vierziger Jahren, die der „praktizierenden Katholiken“, intakten Familien und allgemeinen Solidarität, wird am Anfang des Romans Il cavallo rosso beschrieben. Dort sind zwanzigjährige, durch dieses Ethos geprägte Männer aus der Brianza die Protagonisten dramatischer Kriegserlebnisse, in Afrika, in Albanien und besonders an der Ostfront. In dieser Hölle lernt der „Brianteo“, der Mann aus der Brianza, das Grauen kennen und die Abgründe, zu denen der Mensch fähig ist, wenn er Gott verleugnet und sich ganz den Ideologien hingibt. Aber er findet dort auch die gütige Hand des Herrn. Cortis Roman begleitet dann die Protagonisten (die, die überlebt haben!) weiter durch die Nachkriegsjahre, wo sie sich großherzig für den Wiederaufbau einsetzen, sozial und politisch engagieren in der neu geborenen Demokratie. Und er berichtet von ihrem persönlichen Erleben, von Liebe, Ehe, Wohlstand … bis in die Zeit, in der das Gewebe der christlichen Moral zerfällt. Corti identifiziert das vor allem mit der Auflösung der Familie, dem Gesetz zur Ehescheidung und der Niederlage bei dem Volksentscheid 1974, der dieses wieder aufheben sollte und bei dem sich der Schriftsteller persönlich engagiert hatte.

Eugenio Corti (Mitte, auf dem Wagen sitzend) mit Kommilitonen vor dem Aufbruch zum Russlandfeldzug.

In Cortis Werk ist das Subjekt immer der konkrete Mensch, nicht eine Idee vom Menschen. Die Charaktere sind alle „Ichs“, Hauptdarsteller, keine Prototypen. Er selbst erklärt das so: „Wie ich die Dinge sehe, kann man die Wirklichkeit jedes einzelnen Menschen beschreiben, den man sich aussucht. Einer spricht vielleicht über die Pygmäen und die Welt der Pygmäen in Afrika, ein anderer erzählt von Eskimos und lässt sein Buch im Land der Eskimos spielen. Hauptsache, er kennt die Eskimos oder die Pygmäen wirklich gut. Wenn er sie gut kennt, dann kommt der Mensch als Pygmäe, Eskimo, Amerikaner, Italiener oder Brianteo heraus; wenn er sie gut kennt, dann kommt der Mensch als solcher heraus.“ Dadurch, dass man von jedem einzelnen Menschen aufrichtig berichtet, scheint der Mensch als solcher auf. Der Mensch, den man durch Abstraktion erreicht, ist dagegen eine Lüge.

„Wenn ich lebend davonkomme, setze ich mein Leben für die Wahrheit ein“

Cortis Berufung zum Schriftsteller entstand aus zwei sehr starken Erfahrungen: aus der Begegnung mit Homers Ilias im Gymnasium und aus dem Russlandfeldzug, den er mit Anfang 20 mitmachte. Er erinnert sich: „Homer verwandelte alles, von dem er sprach in Schönheit. Egal, was das Thema war, selbst das kleinste Detail war von Schönheit geprägt. Ich war damals in dem Alter, in dem man beginnt, die großen Entscheidungen für sein Leben zu fällen. Und ich habe beschlossen zu schreiben. Das war mein Traum: der Schönheit nachzujagen. Dieser Idee habe ich versucht, immer treu zu bleiben.“

Die zweite Erfahrung war das Drama des Russlandfeldzugs und des anschließenden Rückzugs. Der junge Eugenio – den man mit dem Michele Tintori aus dem Cavallo rosso  identifizieren kann – erlebte Hunger, Müdigkeit, Kälte, Nächte in Schnee und Eis. („Am Morgen sind viele nicht mehr aufgestanden.“) Er begegnete dem grausamen Hass zwischen Russen und Deutschen. Er musste viele schreckliche Szenen, Grausamkeit und Perversion mit ansehen. In der Weihnachtsnacht 1942 „war ich wie durch ein Wunder noch am Leben und machte der Muttergottes dieses Gelübde: ‚Wenn ich lebendig davonkomme und nicht hier ende als ein Haufen gefrorenes Fleisch im Schnee, ein vom Schnee bedeckter, weißer Fetzen Uniform, dann setze ich mein Leben für die Wahrheit und das Kommen des Reiches Gottes ein.‘ In meinen Gedanken tauchten die Worte des Vaterunsers auf: Dein Reich komme …“

 „Das rote Pferd“ wurde 1983 veröffentlicht.

„Mein Schreiben hat sich immer auf diese beiden Pfeiler gestützt, die Wahrheit und die Schönheit“, sagte Corti einmal in einem Interview. „Alle Dinge in Schönheit verwandeln und für das Kommen des Reiches Gottes wirken. Diese Haltung hat mich in meiner Arbeit sehr frei werden lassen. Ich fühlte mich nie zum Erfolg gedrängt.“ Dabei war der Erfolg ihm hold, sobald er 1947 sein Buch I più non ritornano [Die meisten kehren nicht zurück], eine Erzählung über den Russlandfeldzug veröffentlicht hatte. 1951 folgte I poveri cristi [Die armen Kerle], in dem es um den Befreiungskriegs Italiens geht. Mit der Tragödie Processo e morte di Stalin [Prozess und Tod Stalins] beginnt der Ausschluss Cortis aus der Welt der „bedeutenden Kultur“. Denn die Aufführung des Stücks im Theater wurde „vom Regisseur selbst kastriert aus Angst vor den Kommunisten“. (Sie wurde auf eine reine Lesung, bei der die Schauspieler unbeweglich hinter Lesepulten standen, zurückgestuft.) Und eine an sich schon vereinbarte Verfilmung kam nicht zustande.

„Mein Schreiben hat sich immer auf diese beiden Pfeiler gestützt, die Wahrheit und die Schönheit“

Ab da konnte Corti nur noch in dem kleinen Ares-Verlag publizieren. Nach Il cavallo rosso kamen 1994 Gli ultimi soldati del re [Die letzten Soldaten des Königs], eine Umarbeitung von I poveri cristi, und 1996 Il fumo nel tempio [Rauch im Tempel]. Außerdem mehrere Essays über das katholische Italien in Zeiten der Säkularisierung. Später folgten noch einige „Bild-Erzählungen“ wie La terra dell’indio [Das Land der Indios] oder L’isola del paradiso [Die Paradiesinsel] (1998), ein Buch, dass den amerikanisch geprägten Traum des Menschen entlarvt, der glaubt, sich selbst das Heil schenken zu können, indem er zu seiner guten Natur zurückkehrt. Für Corti ist das Böse unweigerlich im Menschen aufgrund der Erbsünde. Er kann sich nicht selber glücklich machen, nur ein Anderer kann ihn retten. In dieser Lüge steckt für Corti die Wurzel jeden Totalitarismus.

Sein letztes Werk heißt Il Medioevo e altri racconti [Das Mittelalter und andere Erzählungen]. Das Mittelalter „ist die Epoche, die mir am besten gefällt, und ich habe nie darüber geschrieben …“ Genau die Epoche, die durch ihr christliches Weltbild einen bestimmten Menschentyp hervorgebracht und unsere ganze Zivilisation geprägt hat. Eugenio Corti starb am 4. Februar 2014 im Alter von 93 Jahren.