RHEIN-MEETING 2014: EUROPA, STRATEGIE ODER IDENTITÄT?

Das Ich zum Tragen bringen: Erstmals fand in Köln das Rhein-Meeting statt. Das Thema: „Europa, Strategie oder Identität?“ Mehr noch als alle Reden, Ausstellungen und Analysen gab das Ereignis selbst darauf eine Antwort.
Christoph Scholz

„Es war ein Wagnis“, räumte Pater Gianluca Carlin gleich zu Beginn des Rhein-Meetings ein. „Wir sind ein paar Freunde hier in Köln und Umgebung, und wir sind keine Profis in der Vorbereitung von Großveranstaltungen“, so Carlin, der das Meeting leitete. „Ob Krankenschwestern, Lehrer, Angestellte, Studenten, Hausfrauen, Mütter – oder Priester, wir sind alle von dem Wunsch getragen, dem großen Reichtum, dem wir in der christlichen Erfahrung begegnet sind, auf den Grund zu gehen.“ Dabei war das Thema nicht weniger anspruchsvoll als die Organisation der Veranstaltung: „Europa, Strategie oder Identität?“ Die erste und authentischste Antwort auf diese Frage war die Tatsache des Rhein-Meetings selbst.

Rund 750 Besucher fanden sich am Wochenende 15. und 16. März im Maternushaus der Erzdiözese unweit des Kölner Doms ein. Sie kamen aus allen Teilen Deutschlands, aber auch aus der Schweiz, Österreich, den Niederlanden, Spanien und Italien. Und ebenso international war die Zusammensetzung der Referenten.

Zu den Gästen gehörte auch Emilia Guarnieri, die Präsidentin des Meetings für die Freundschaft unter den Völkern in Rimini. Diese „Freundschaft unter den Völkern“ beflügelte auch die Zusammenkunft in der Dom-Stadt am Rhein. Errichtet auf einer Römersiedlung, gilt sie im Volksmund auch wegen ihrer fröhlichen rheinisch-katholischen Lebensart weiter als die nördlichste Stadt Italiens.



Die eigentlichen Protagonisten des Rhein-Meetings waren jedoch die zahlreichen freiwilligen Helfer. Nicht „Experten“ führten in die Vorträge ein, sondern jene Studenten oder „Laien“, die Tage, Wochen und Monate in die Vorbereitung investiert hatten. Für sie war es eine Herzensangelegenheit. Damit unterschied sich diese Zusammenkunft erfrischend von den üblichen akademischen Tagungen. Das galt auch für die beiden Ausstellungen: „Menschen, die Europa ein Gesicht gegeben haben“ und die Schau über die kulturschöpferische Kraft der Benediktinerklöster. Konrad Adenauer, einer der Väter der europäischen Einigung, hatte diese einmal als die eigentlichen Hauptstädte des Kontinents bezeichnet.

Der irische Publizist John Waters beklagte in seinem Vortrag allerdings, dass sich der Schwerpunkt für die meisten Bürger längst nach Brüssel verlagert habe, auf ein bürokratisches Projekt namens EU. Ohne inneren Gehalt sei dieses Projekt zum Scheitern verurteilt. „Kultur wird als irrelevant und unwesentlich, die Seele als ein rückständiger Anachronismus und Glaube als etwas angesehen, das eher toleriert als begrüßt werden muss. Daran droht Europa zu zerbrechen“, so Waters. Der Kontinent müsse „seine verlorene Seele wiederentdecken“.

Worin aber besteht die? Was macht Europa so einzigartig? Joseph Ratzinger führt die Besonderheit dieses Kulturraums auf die vorsehungshafte Begegnung zwischen christlichem Glauben und griechischer Philosophie zurück. Sie konnten sich treffen, „weil für beide die Frage nach der Wahrheit wesentlich war“. Das führte der Freiburger Theologe Joseph Zöhrer in seinem Vortrag zum Europaverständnis Benedikts XVI. aus. Dadurch entstand jene einzigartige Verbindung und gegenseitige Durchdringung von Glauben und Vernunft, die Ratzinger nicht zuletzt in seiner Regensburger Rede dargelegt hat.

John Waters und Pater Gianluca Carlin

Für den italienische Kernphysiker Lucio Rossi, der am CERN in Genf tätig ist, zeigte sich die Besonderheit Europas in seinem ungebrochenen Forscherdrang und in der Entwicklung, die die Naturwissenschaften hier nehmen. Bewegt vom unauslöschlichen Streben, das Geheimnis der Wirklichkeit mit der Vernunft zu ergründen, dringe der Mensch zu den kleinsten Bausteinen der Materie wie zu den Grenzen des Universums vor. Dabei stehe die Erforschung der Wahrheit selbst an erster Stelle, so betonte Rossi, erst an zweiter Stelle komme der Nutzen. Der Elementarteilchenphysiker gehört zu dem Team, dem es kürzlich gelungen ist, das Higgs-Boson, das sogenannte „Gottesteilchen“, nachzuweisen. Das Staunen über die Gestalt der Wirklichkeit, so meinte Rossi, stelle den Wissenschaftler vor die Herausforderung, diese als Zeichen für das hinter ihr stehende Geheimnis anzuerkennen.

Neben diesem gelungen Projekt europäischer Integration, das aus dem Geist der Tradition die Grundlagen für die Zukunft schöpft, steht unverkennbar die Krise der geistigen Identität Europas. Der spanische Dogmatiker Javier María Prades, Rektor der Universidad San Dámaso in Madrid, veranschaulichte dies anhand von Werken der Malerei, Bildhauerei, Literatur und Musik des 20. Jahrhunderts. Für ihn haben beispielsweise die Portraits von  Francis Bacon oder Max Beckmann eine eigenartige Ambivalenz: Sie zeigen einerseits den Zerfall des Subjekts und veranschaulichen gleichzeitig die unauslöschliche Sehnsucht des Menschen nach dem „Unendlichen“. Eine Sehnsucht die auch den argentinischen  Schriftsteller Ernesto Sábato umtrieb.

„Es ist eine rastlose Suche, sehr mühevoll, voller Irrwege, die aber niemals aufhört, sondern immer wieder von Neuem beginnt“, erklärte Prades. Diese Suche kommt in der abendländisch geprägten Gegenwartskunst auf teilweise schmerzhafte Weise zum Ausdruck. Christen haben „immer schon zu dieser Auseinandersetzung beigetragen und tun es auch weiterhin, indem sie über ihre Erfahrung berichten, über die Begegnung mit einem  einzigartigen, einmaligen Antlitz“, so Prades weiter. Hier liegt für ihn der Ansatz zu einer Überwindung der eigentlichen Krise des alten Kontinents, die eine Krise des Ichs ist, eine Krise der Gewissheit des Menschen über sich selbst und die Wirklichkeit.

Auch für Benedikt XVI. ist die Überwindung dieser Herausforderung keine Frage von Strategien, Appellen oder eines konservativen „Rollback“, wie Zöhrer ausführte. Ratzinger setze stattdessen auf kreative Minderheiten und Einzelpersönlichkeiten. Die Christen sollten sich als eine solche schöpferische Minderheit in der Gesellschaft begreifen. Der Kölner Weihbischof Dominikus Schwaderlapp warnte dann auch in seiner Predigt bei der Sonntagsmesse in Sankt Ursula vor einem Rückzug des Glaubens ins Private.



Bernhard Scholz, Präsident des italienischen Unternehmerverbandes Compagnia delle Opere, wandte diesen Aufruf ins Positive. Es gehe darum, das eigene Ich, die eigne Person wieder zum Tragen zu bringen, kurz: Verantwortung zu übernehmen. Dies sei aber nicht in erster Linie eine ethische, sondern eine existenzielle Frage. Man müsse seine Sehnsucht nach Erfüllung, seine Freiheit wieder ernstnehmen, um das zum Tragen zu bringen, was einem am Herzen liegt.

Welche Ergebnisse dies hervorbringen kann, zeigten die beiden Tage des Rhein-Meetings auf eindrucksvolle Weise, zumal es schon im Vorfeld auf große Resonanz gestoßen war. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, hatte gemeinsam mit dem Erzbischof von Köln die Schirmherrschaft übernommen. Kardinal Joachim Meisner kam auch persönlich, um ein Grußwort zu sprechen, und zeigte sich sehr erfreut über diese Initiative in seiner (inzwischen ehemaligen) Bischofsstadt.

Mehr noch als alle Worte und Analysen brachte vielleicht die Musik die Einheit Europas zum Ausdruck. Die spanische Sopranistin Manoli Ramírez de Arellano sang Volkslieder aus ihrer Heimat. „Mi cantar, flor de melancolia …“ („Mein Singen, eine Blüte der Sehnsucht …“) war das Konzert am Samstagabend überschrieben. In den Volksliedern kommt einerseits das Ureigenste eines Landes zum Ausdruck, so erklärte der Gitarrist Rafael Andreo, einer der Instrumentalisten, die sie begleiteten. Doch das bedeutet keine Abgrenzung, sondern führt im Gegenteil zu einer tiefen Verbundenheit mit allen Menschen und einer Wertschätzung für andere Kulturen.  Ein besonderes Zeichen „europäischer Verbundenheit“ und Freundschaft war wohl auch die Tatsache, dass Manoli Ramírez nach Köln gekommen war, obwohl dieser Termin nur wenige Tage vor ihrer Hochzeit lag. Auch dafür erntete sie am Ende „standing ovations“.

Als ein Völker und Kulturen verbindendes Ereignis erwies sich dieses Meeting nicht zuletzt in den Pausen und „am Rande“, wo man die Besucher aus den unterschiedlichen Ländern in lebhaftem Dialog sah. Viele Beobachter zeigten sich auch besonders beeindruckt von der Tatsache, dass die junge Generation so zahlreich vertreten war und sich so engagiert beteiligte. Das erste Meeting in Deutschland war also insgesamt ein so großer Erfolg, dass Carlin gleich eine Fortsetzung für das kommende Jahr ankündigte. Das nächste Rhein-Meeting in Köln wird am 7. und 8. März 2015 stattfinden unter dem Titel: „Das Wagnis der Erziehung“.