ENCUENTROMADRID 2014: „Gute Gründe für die Zusammenarbet“

Welche Gründe haben wir für unser Zusammenleben? Das internationale EncuentroMadrid stellte sich dieser Frage mit Teilnehmern aus Politik, Kultur, Bildung und Erziehung. Dabei war das viertägige Kulturfestival bereits selbst eine lebendige Antwort.
María Serrano

„Wir sprechen über Gründe für das Zusammenleben, darüber, wie ein gemeinsames Leben möglich ist. Wir sprechen davon, dass wir die Krise überwinden müssen, dass das Menschsein auf dem Spiel steht, von Problemen und Schwierigkeiten. Halten wir doch in unserem Alltag, bei diesem EncuentroMadrid einmal einen Augenblick inne und genießen die Schönheit.“ Marcelo Cesena sollte keinen großen Vortrag halten. Er war nicht eingeladen worden, um den Titel des diesjährigen Festivals zu erklären. Und auch nicht, um die Schlussveranstaltung zu moderieren. Doch das Klavierkonzert, das er am Samstagabend gab unter dem Titel „Der Grundton. Das Herz und die Bestimmung“ lenkte die Aufmerksamkeit auf das, was wirklich wichtig ist.

„Nichts hilft mehr als die Erfahrung des eigenen, authentischen Ichs, um das gemeinsame Haus aufzubauen.“ So steht es im Schlusskommuniqué des 9. EncuentroMadrid. An jenem Abend machten die Teilnehmer in der Casa de Campo die Erfahrung des „Ich“, jenes Herzens, das, wie in dem Präludium von Chopin, vom ersten bis zum letzten Tag schlägt. Dabei verwandelt es sich in das „wunderbarste Werk, das Gott geschaffen hat“, wie Cesena sagte – ein Dichter, der sich mit seinen Händen und mit Worten ausdrückt.

Dieses Jahr versuchte das EncuentroMadrid Antwort auf eine Frage zu geben, die in dieser verworrenen Zeit interessanter ist denn je: Kann man miteinander leben? Welche Gründe haben wir dafür? Der Erzbischof von Mailand, Kardinal Angelo Scola, sollte den Weg zu einer Antwort bahnen. „Wir stehen, wie alle in der Postmoderne, vor einem Dilemma. Der postmoderne Mensch ist wie ein angeschlagener Boxer. Er taumelt, aber er steht noch. Wollen wir uns auf unsere persönlichen Kräfte und Fähigkeiten verlassen, oder wollen wir in Beziehung zu den anderen leben?“ Scola ging dann auf das Problem des heutigen Individualismus ein und betonte, dieser könne nur überwunden werden durch ein Zeugnis, das eine „angemessene Erkenntnis der Wirklichkeit sei, die sich – wie der heilige Thomas sagt – in eine Mitteilung der Wahrheit übersetzt“.

Das beste Beispiel für ein solches Zeugnis, für dieses „von sich Erzählen und Sich-Erzählen-Lassen“ lieferte Scola selbst, als er von seinen Pastoralbesuchen als Patriarch von Venedig berichtete. „Berichten ist die Folge der Kraft des Zeugnisses; die Kraft des Erzählens besteht im ‚Wir‘, in dem ‚Ich-in Beziehung‘. Dieses ‚Wir‘ ist freilich ein gemeinsames Gut. Aber wir können nicht mehr nur einfach mechanisch zusammenleben. Das Leben, das wir teilen, muss einen politischen Wert erhalten. Es muss von der Gesellschaft getragen werden.“ Die Zivilgesellschaft soll also zur Protagonistin einer neuen Lebensweise werden.

Scola sagte, er spreche nicht gerne von „Krise“, sondern lieber vom „Schmerz der Wehen einer neuen Geburt“. Ihr Ziel sei eine Form des Gemeinschaftslebens, die der Natur des Menschen besser entspräche. Angesichts der Ideologien und der Politikverdrossenheit „genügt das gute Beispiel nicht mehr. Es muss eine Lebendigkeit ins Spiel kommen, aus der ein neues politisches Handeln erwachsen kann. Man muss das Leben der Gesellschaft und der Parteien neu austarieren. Die Gesellschaft muss der Politik eine neue Richtung geben.“

Eine Veranstaltung der gemeinnützigen Organisation Cesal.

Ohne Schablonen. Die Idee des Titels „Gute Gründe für das Zusammenleben“ stammt aus einem Beitrag von Julián Carrón, in dem er eine etwas provokante Aussage über die gesellschaftliche und kulturelle Lage Europas, vor allem Spaniens, macht: „Der Andere ist ein Gut“. Das erfordert auch ein Zusammenleben über alle Unterschiede hinaus, und dass man das Zusammenleben mit anderen als ein Gut und ein Bedürfnis aller betrachtet. Aber die beste Erklärung des Titels und des Ereignisses EncuentroMadrid ist die konkrete Erfahrung dieses Zusammenseins, dieses „gemeinsamen Lebens“. Und genau das geschah in diesen vier Tagen, in denen wir feststellen konnten, dass der Dialog alle Schablonen durchbrechen, Unterschiede überwinden und die Vernunft erweitern kann. Wir hörten Politiker, Intellektuelle, Journalisten aus dem In- und Ausland, junge Menschen, die bis vor kurzem ihr Leben als verpfuscht betrachteten, Musiker, berühmte Köche ... Alle bezeugten, dass, wenn man von den unausrottbaren Wünschen des Herzens ausgeht, andere sich öffnen und „jeder die leidenschaftliche, leider oft verdunkelte Verheißung und Fruchtbarkeit entdeckt, die er in sich trägt“, wie Rafael Gerez, der Präsident des EncuentroMadrid, es formulierte.

Der gleichen Ansicht war auch Franco Nembrini, der die Schule „La Traccia“ in Bergamo leitet. „Gott hört nicht auf, unsere Herzen und die unserer Kinder zu erneuern. Er stellt uns immer wieder das Universum vor Augen und ermöglicht es uns, nach dem Guten und Schönen zu suchen und ihm nachzujagen.“ Er und José María Alvira, der Generalsekretär der Vereinigung der katholischen Schulen in Spanien, sprachen bei der Veranstaltung zum Thema „Zeit der Erziehung“. Beide betonten, dass die heutige Krise zugleich eine Krise der Erziehung sei. „Die heutige Jugend ist mit dem gleichen Herzen und dem gleichen Wunsch nach Gewissheit geschaffen worden wie die vorherigen Generationen“, meinte Nembrini. Aber das wahrzunehmen muss ein freier Akt der Schüler sein. „Wenn ein junger Mensch weiß, dass der Erwachsene, der ihn erzieht, immer für ihn da sein wird, dann kann er in aller Freiheit immer wieder zurückkehren. Die Freiheit ist grundlegend für den Menschen. Sogar Gott respektiert diese Freiheit.“ Auch Alvira betonte die Notwendigkeit einer Wegbegleitung. Er definierte den Erzieher als „einen Erwachsenen, der da ist und den Schüler oder das Kind begleitet, sich aber nicht an seine Stelle setzen will. Er lässt ihm seine Freiheit, macht ihm aber deutlich, dass er immer für ihn da sein wird. Es ist ganz wichtig, dass wir die jungen Menschen lieben und nicht versuchen, sie zu erobern. In jedem Fall müssen wir aber bereit sein, uns von ihnen erobern zu lassen. Außerdem ist es notwendig, dass wir das leidenschaftlich lieben, was wir tun, zum Beispiel das Fach, das wir unterrichten. Nur so bekommt das, was sie lernen sollen, für die Schüler einen konkreten Sinn.“

Das Gerüst der Gesellschaft. Liebe und Leidenschaft für ihre Arbeit haben viele bezeugt und so diesem Wunsch ein konkretes Gesicht verliehen. Im Eröffnungsvortrag „Europa: Gründe für seine Einheit“ bekräftigten der spanische Abgeordnete Eugenio Nasarre und der italienische Senator Mario Mauro ihre Leidenschaft für das gemeinsame europäische Projekt. „Ein Volk ohne Gedächtnis kann nicht frei sein“, wie Mauro sagte. In dieser entscheidenden Stunde vor den Wahlen zum Europäischen Parlament am 25. Mai spielt sich das Match ab „zwischen denen, die auf den Aufbau Europas setzen, und denen, die ihn gefährden, beispielsweise durch überzogenen Nationalismus“, meinte Nasarre. „Dazu gehören aber auch diejenigen, die für eine verkürzte Europäische Union einstehen“, setzte Mauro hinzu.

Das Konzert beim Abschlussfest.

Wenn man sich mitten in einem Konflikt wie dem der Ukraine befindet, dann erkennt man, was die Länder gewonnen haben, die sich nach und nach dieser einzigartigen Erfahrung der europäischen Einheit angeschlossen haben. Um zu verstehen, was gerade in der Ukraine passiert, hatte EncuentroMadrid den Philosophen Konstantin Sigov aus Kiew eingeladen, einen der Gründer des Europäischen Forums. Er berichtete, was die Maidan-Bewegung verändert hat: „Wir wissen, dass der Auslöser der Revolution eine politische Entscheidung war, weit weg vom ukrainischen Volk. Janukowytsch machte klar, dass er Putin gehorchen wolle, als er das Abkommen zwischen der Ukraine und Europa ablehnte, auf das das Volk lange gewartet hatte.“ Daraufhin brachen die Proteste aus und Menschen aus dem ganzen Land demonstrierten auf dem Maidan. Sigov wies darauf hin, wie überraschend und schmerzhaft diese Entscheidung war, die die Ukraine von Europa wegriss und Putin auslieferte. „Trotzdem strahlten viele Gesichter vor Freude, weil sie eine gerechte Sache verteidigen durften. Es gab Vorträge, Debatten, Veranstaltungen in der Universität, die den Dialog fördern sollten, Begegnungen zwischen Medizinern, Theologen, Philosophen …“ Doch noch überraschender als dieser kulturelle Austausch war die Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit der Menschen: Sie brachten Lebensmittel, Medikamente, Kleider, Holz, opferten ihre Zeit und Kraft. „Durch Putin, der die Freiheit der Ukrainer beschränken wollte, wurde der Schatz der Einheit und Menschlichkeit des ukrainischen Volkes freigelegt. Aber das betrifft nicht nur sie“, meinte Sigov. Die Selbstlosigkeit kann zum Katalysator für eine neue Solidarität in ganz Europa werden. Daraus kann eine neue Menschlichkeit entstehen.

Übergang. Ein ähnlicher Dialog wurde auch in der spanischen Gesellschaft wieder in Gang gesetzt, nachdem vor kurzem Adolfo Suárez gestorben ist, der den Geist der „Transición“, des Übergangs vom Franco-Regime zur Demokratie, in besonderer Weise verkörperte. Darüber diskutierten Pedro Cuartango, der stellvertretende Chefredakteur der spanischen Tageszeitung El Mundo, César Nombela, der Rektor der Internationalen Universität Menéndez Pelayo, der Journalist Jon Juaristi und Fernando Abril, Mitglied im Aufsichtsrat des Medienkonzerns PRISA. Das Gespräch drehte sich um den Geist des Übergangs zur Demokratie, den Versuch, eine plurale Gesellschaft aufzubauen in einem Augenblick, da „die Leute das Schablonendenken schon ziemlich satt waren“, wie Juaristi meinte. Abril betonte die Notwendigkeit, „das Gerüst der Gesellschaft wieder aufzubauen“, in einem historischen Kontext, in dem „wir Spanier unsere Besitztümer selbstsüchtig bewahren wollen und die politischen Parteien sich letztendlich vorwiegend um sich selber drehen.“

Eine weitere Art, dieses neue Leben zu bezeugen, brachten die Veilleurs mit, eine Bewegung, die angesichts der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen der letzten Zeit in Frankreich das Bewusstsein der Menschen durch Musik, literarische Texte und persönliche Zeugnisse wecken will, also letztlich durch ihre eigene Geschichte und Kultur. „Durch diese Abende wurden wir uns bewusst, dass wir ein Volk sind und eine Einheit bilden“, berichtete Alex Rokvam, der in Paris Politikwissenschaften studiert und zu den Initiatoren der Veilleurs zählt. „Die herrschende Kultur begünstigt den Individualismus. Unsere Vorschläge sind deswegen etwas Neues und wecken großes Interesse, weil sie Ausdruck eines Volkes sind. Wir dürfen keine Angst haben, dem Ausdruck zu verleihen, was wir sind, auch wenn das Umfeld den Dialog erschwert. Dann kann jeder es annehmen oder ablehnen.“



„Wenn der Mensch das nicht findet, was seiner Sehnsucht, seinem Bedürfnis entspricht“, sagt Carrón, „dann ist alles relativ, alles eine Frage der Meinung, und nichts kann sein Ich ganz ergreifen. Das beweist auch die merkwürdige Lethargie und unüberwindliche Langeweile unserer Zeit.“ Die Teilnehmer am EncuentroMadrid suchten nach einer solchen Antwort, und zwar gemeinsam. „Was mich hier hält, ist diese Gemeinschaft. Ich weiß, dass die Wahrheit in dem Geheimnis liegt, das verborgen hinter den Dingen steckt, und dass man sie nur in Begleitung anderer entdecken kann“, sagte einer der über 500 Freiwilligen, ohne die es das EncuentroMadrid nicht gäbe.

Die Beatles und Mutter Erde. Bevor die Podiumsdiskussionen und Vorträge beginnen konnten, trafen sich die unterschiedlichsten Menschen, um alles aufzubauen. „Es ist eine andere Art und Weise, an diesem Event teilzunehmen. Ich kann aber bestätigen, dass sie die beste ist“, sagt Juan, der schon im achten Jahr hier als Freiwilliger tätig ist. „Wie könnte ich sonst sagen, ich nähme intensiv am EncuentroMadrid teil, obwohl ich die Vorträge nicht hören kann, die mich am meisten interessieren?“ Aber auch die Unterhaltung kommt nicht zu kurz. Ein Konzert mit Liedern der Beatles und Ausstellungen über „Schwester Mutter Erde“ und „Das Gemeinwohl“ waren Gelegenheiten zur Begegnung, wie auch das Mittagessen mit Freunden oder die Besuche bei den verschiedenen Ständen in der Casa de Campo.

„Betet für mich, denn menschlich gesehen ist das unmöglich“, bat Grégoire Ahongbonon und berichtete von den Ketten, von denen er in Afrika zahlreiche Geisteskranke befreien konnte. Er war zum EncuentroMadrid gekommen, um um Unterstützung zu bitten. Er pflegt „die Vergessensten der Vergessenen“. Sein Werk, die Vereinigung San Camillo de Lellis, wäre ohne die Begegnung mit Christus nie entstanden. Und genauso wenig wäre das EncuentroMadrid möglich ohne diese Neuheit hier und jetzt, die das Menschliche aufblühen lässt und das Herz des Menschen zur Umkehr bewegt.