Prof. Joseph Weiler

INTERVIEW MIT JOSEPH WEILER
WO DIE EIGENTLICHE SCHLACHT TOBT

Er ist einer der bedeutendsten Rechtsgelehrten der Welt. Und ein Fachmann für Europa. Wir haben ihn gebeten, den Begriff der Moderne zu bewerten, wie ihn Julián Carrón in unserem „Aufmacher“ vom Mai 2014 entwickelt hat. Hier sind seine Antworten.
Luca Fiore

2010 vertrat er Italien im Streit um die Kruzifixe in Schulen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dabei trug er die kippah. Er, das ist Joseph H. H. Weiler, geboren 1951 in Südafrika, aufgewachsen in Jerusalem, seit vielen Jahren lebt er in New York. Weiler ist einer der bedeutendsten Experten für Europäisches Recht in den USA. Derzeit ist er Präsident des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz und Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls der Europäischen Union an der Juristischen Fakultät der New York University. Die Verträge der Europäischen Union sind ihm nicht weniger geläufig als die Torah. Das sagt alles. Er hat den Vortrag von Don Julián Carrón über das Dokument von CL zu den Europawahlen gelesen. Außerdem hat er am 15. Mai im Kulturzentrum von Mailand selber einen Vortrag zu diesem Dokument gehalten. Ein spanischer Priester und ein Jude aus New York. Zwischen beiden liegt ein Ozean, nicht nur geographisch. Trotzdem sind sie sich völlig einig, über alle Schemata hinweg.

Person, Arbeit, Fortschritt, Freiheit. Das sind Begriffe, die ihre ursprüngliche Bedeutung immer mehr verlieren. Warum ist das Ihrer Meinung nach so?
Das ist eine schwierige Frage. Denn oft ist auch die „ursprüngliche Bedeutung“ nicht klar. In einigen Fällen war die zunächst erschreckend aus heutiger Sicht. Zum Beispiel der Begriff der Person, der Sklaven nicht einschloss. Und selbst in der Bibel wurden Frauen nicht als Subjekte der Offenbarungen Gottes betrachtet. Daher sollten sich Gläubige bei ihrer Weltanschauung nicht auf eine „ursprüngliche Bedeutung“ berufen, sondern auf ein Verständnis der Welt, bei dem die Person demütig ist und die Grenzen der menschlichen Natur erkennt. Ein theozentrisches und kein anthropozentrisches Weltbild also. Aus diesem Blickwinkel ändert sich dann auch der Sinn der Begriffe Person, Arbeit und Freiheit.

Joseph Ratzinger hat gesagt, der Versuch der Aufklärung, eine Gesellschaft ohne die Gottesidee zu errichten, sei fehlgeschlagen. Sind Sie auch dieser Ansicht?

Der Gedanke von Papst Benedikt ist noch viel feinsinniger. In jedem Fall ist dieses Misslingen ein Ergebnis von Fehlinterpretationen der Aufklärung. Man könnte sie sogar als hochmütig bezeichnen. Wir dürfen nicht ebenso hochmütig sein. Wir haben kein Monopol auf die Konzeption einer guten Gesellschaft. Wir haben nur eine andere Vorstellung, die vor allem das immer mühevolle, immer unzulängliche und zum Scheitern verurteilte Streben nach Heiligkeit hochhält. Denken wir immer an die Worte des Propheten Micha: „Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott.“ (Mi 6,8)

„Das Problem liegt nicht im Einfordern neuer Rechte an sich. Manche sind gut, über andere kann man diskutieren. Das Problem ist eine Kultur, in der das Bekenntnis zur persönlichen Verantwortung verlorengegangen ist. Ein Recht mehr oder weniger zu haben kann nicht unser Beitrag zum heutigen Denken sein.“

Don Carrón betont, es gehe, wenn man die Fundamente für eine christliche Gesellschaft wieder festigen wolle, nicht darum, zum Konfessionsstaat zurückzukehren oder zu einem Europa, das auf christlichen Gesetzen fußt. Man müsse vielmehr Zeugnis dafür ablegen, dass ein christliches Leben sinnvoll ist. Was denken Sie darüber?
Dass er damit schon den Kern getroffen hat. Als Gott das gehört hat, hat er sicher zufrieden gelächelt.

Wir verfolgen die Debatte über die „neuen Rechte“ mit einer eigenartigen Mischung aus Faszination und Abscheu. Was glauben Sie, warum das so ist? Was liegt diesen Forderungen eigentlich zugrunde?
Das Problem liegt nicht im Einfordern neuer Rechte an sich. Manche sind gut, über andere kann man diskutieren. Das Problem ist eine Kultur, in der das Bekenntnis zur Pflicht, zur persönlichen Verantwortung verlorengegangen ist. Ich meine eine Kultur der Tugend, wie sie Aristoteles, Thomas von Aquin und Maimonides vertreten. Doch wenn ich das sagen darf, mir scheint diese Frage sehr an eine Denkweise gebunden, der es nicht gelingt, sich aus der Diktatur der Politik zu befreien. Sicher, die Politik ist sehr wichtig und man darf sie nicht links liegen lassen. Aber lassen wir nicht zu, dass sie unsere Seele in Besitz nimmt.

In welchem Sinne?
Der Logik zu erliegen, wonach das Schlachtfeld die einzelnen Rechte sind und der Krieg um ein Recht mehr oder weniger zu führen ist. Die wahre Schlacht spielt sich vielmehr auf dem Gebiet der menschlichen und persönlichen Verantwortung dem anderen gegenüber ab. Es geht um das Geben, und nicht um das Haben. Lesen Sie einmal das Kapitel 18 im Buch Levitikus: Lasst die rituellen Bräuche fahren, konzentriert euch auf die moralischen Vorschriften und Satzungen. Dann entsteht eine Gesellschaft, die auf Gerechtigkeit, Solidarität und sozialem Gewissen beruht. Und Sie werden etwas Interessantes feststellen: Das sind alles moderne Werte, aber sie basieren auf Verantwortung und Pflicht und nicht auf Rechten. Macht einen das nicht nachdenklich?! Ein Recht mehr oder weniger zu haben kann nicht unser Beitrag zum heutigen Denken sein.

Don Carrón sagt, man solle sich nicht der Illusion hingeben, dass der Wunsch nach Erfüllung, der Befürworter wie Gegner der „neuen Rechte“ antreibt, durch die Gesetzgebung befriedigt werden könne. Es gehe darum, so zitiert er Giussani, die Natur des Subjekts zu vertiefen. Was bedeutet das für Sie?
Dass wir arm wären, wenn wir meinten, jeder Wert müsse durch ein Gesetz geschützt werden. Dann würden wir tatsächlich wieder zu „Kleinkindern“.

Ist es notwendig, die Natur des Subjekts zu vertiefen?
Ich bin bescheiden: Mir reicht es, wenn wir wieder erwachsen werden.

Was heißt das?
Obwohl es wichtig ist, darf das vom Menschen gesetzte Recht, also das Gesetz und die einzelnen Rechte, nur einen kleineren Teil des menschlichen Lebens und der Beziehungen untereinander ausmachen.

Cesare Pavese sagt: „Was der Mensch in der Lust sucht, ist ein Unendliches, und niemand würde jemals die Hoffnung aufgeben, diese Unendlichkeit zu erringen.“ Die Erfahrung lehrt uns dagegen, dass die Sehnsucht nachlässt. Was ruft bei Ihnen diese Sehnsucht nach dem Unendlichen wieder wach?
Sicher hängt es davon ab, was für eine Art Sehnsucht es ist. Jedenfalls empfehle ich Ihnen, die Psalmen wieder zu lesen, und vielleicht auch das wunderschöne Buch Poesia dell`uomo e di Dio. I Salmi nella versione poetica di Davide Rondoni [„Dichtung über den Menschen und über Gott. Die Psalmen in der poetischen Version von Davide Rondoni“]. Dann werden Sie verstehen, warum die Frage, die Sie mir gestellt haben, schlecht gestellt ist. Ich persönlich suche nicht das Unendliche. Das Alltägliche ist für mich Herausforderung genug. Einen Tag zu leben, ohne unaufrichtig zu sein, ohne Gott zu beleidigen, ist für mich mehr wert als alles Unendliche, was man sich vorstellen kann. Traurigerweise habe ich bisher nur wenige solcher Tage gehabt. Wonach ich mich sehne? Machen wir einen Tausch: Sie geben mir 20 Tage in meinem Leben, an denen ich Gott nicht beleidige, und ich überlasse Ihnen das Unendliche. Das wäre für mich ein gutes Geschäft ...

Kleiner Geschäftsmann, der unter großen Geschäftsleuten läuft. ©Gary Waters

Auch Ihre Sehnsucht, Gott zu gefallen, ist noch nicht erfüllt, sie ist unendlich. Oder täusche ich mich? Vielleicht ist das, was wir meinen, gar nicht so verschieden voneinander. Was hilft Ihnen, sich immer wieder danach zu sehnen, sich nicht vor Gott schämen zu müssen?
Okay, Sie haben es verstanden. Aber auch die Art und Weise, wie man die Dinge tut, ist wichtig. Mir gefällt der Weg von Saul sehr: Er ging, um die Esel zu suchen, und ohne dass er es wollte, hat er ein Königreich gefunden … Aber denken Sie daran: Was er eigentlich suchte, waren die Esel!

Kann die Politik im Alleingang die Religionsfreiheit verteidigen?
Was die äußeren, sehr wichtigen Elemente betrifft, ja. Aber das innere Element hängt vom Bewusstsein des Menschen ab. Vor allem die Verinnerlichung der souveränen Möglichkeit, nein zu Gott zu sagen. Nur diese Verinnerlichung garantiert ein echtes Ja. Das ist echte religiöse Freiheit. Ein Kind weiß nicht, dass es nein sagen kann zu seinem Vater oder seiner Mutter. Die Eltern warten auf den Moment, in dem die Kinder sich gegen sie auflehnen. Denn ab da tun sie, wenn sie das befolgen, was man ihnen sagt, es wirklich freiwillig.

Wie kann Europa ein Ort der Freiheit werden für die Begegnung zwischen Menschen, die nach der Wahrheit suchen?
Europa bietet diese Möglichkeit schon. Diese Begegnung wird stattfinden, wenn die Gläubigen sich ihres Glaubens nicht mehr schämen werden. Und wenn immer mehr Leute sich, wie Don Carrón es vorschlägt, nicht mehr der Illusion hingeben, der Weg führe über eine Rückkehr zum Konfessionsstaat oder ein Europa, das auf christlichen Gesetzen fußt. Das Problem der Gläubigen in Europa ist, dass sie sich noch nicht ganz daran gewöhnt haben, dass sie eine Minderheit sind und täglich ihren Glauben verteidigen müssen.