Frankreich. Paris. Place de l'Europe. Gare Saint Lazare. 1932.

HENRI CARTIER-BRESSON

Interview mit Frank Horvat - „Ich bin ein (häretischer) Schüler von Cartier-Bresson”
Luca Fiore

„Er hatte ein Bewusstsein für die Fragen, die die Geschichte stellt.“ Das war die Größe von Henri Cartier-Bresson, dem Gründer der Fotoagentur Magnum. Zehn Jahre nach seinem Tod spricht FRANK HORVAT über seinen Lehrmeister, der überall hinwollte, Fotos verkehrt herum betrachtete und Bilder voller „staunenswerter“ Verbindungen schoss. So vermittelte er seinem Schüler, dass schöpferisches Tun im Leben ein echtes Bedürfnis ist und uns hilft, „wirklich in der Welt zu leben“.

„Für mich ist Henri Cartier-Bresson der Papst, auch wenn ich aus der Sicht seiner ‚Religion‘ immer ein Häretiker war. Und das wusste er.“ Ein Mann, der über eine Pfütze springt, der alte Matisse inmitten einer Schar von Tauben, ein Sonntag am Ufer der Marne: Diese Schwarz-Weiß-Fotografien gehören zu unserem Bilderkodex und haben unsere Vorstellung von Fotografie-Kunst geprägt.

Frank Horvat blickt auf eine lange Laufbahn als Fotograf zurück und kann seinen eigenen Werdegang nicht erklären ohne den Vergleich mit dem, den er für den Größten hält: Henri Cartier-Bresson. Der am 3. August 2004 verstorbene französische Gründer der legendären Fotoagentur Magnum beherrscht noch immer seine Gedanken: „Wenn ich mich mit ihm vergleiche, fühle ich mich sehr klein. Doch bei manchen Fotos sind mir Aufnahmen von der Art gelungen, wie er sie machte. Auf die bin ich sehr stolz.“ Horvat ist heute 86 Jahre alt und verspürt noch immer große Lust zu fotografieren. In seiner Jackentasche hat er immer eine handelsübliche kleine Digitalkamera. Er hat für Life, Elle, Glamour, Vogue und Harper’s Bazaar gearbeitet und war von 1958 bis 1961 Mitglied der Fotoagentur Magnum. Außerdem war er ein Early Adopter der digitalen Kommunikation. Bereits 1998 kreierte er seine persönliche Homepage, und 2010 eine App für iPad, die sein gesamtes Werk enthält.

Frank Horvat

Cartier-Bresson hat er mit 21 kennengelernt, nachdem er die Kunstakademie im Mailänder Stadtviertel Brera absolviert und erste Aufträge für italienische Zeitschriften erhalten hatte. Jede Woche kaufte er die Zeitschrift Life, und die Fotografen von Magnum waren für ihn die Götter des Olymp. An Ehrgeiz fehlte es ihm nicht. „Ich dachte: Wenn sie meine Fotos sehen, werden sie mich sicher nehmen. Ich bekam einen Termin bei Cartier-Bresson. Doch es lief nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte …“

Wie lief es denn?
Er drehte meine Aufnahmen auf den Kopf, um sie verkehrt herum zu betrachten. Das Sujet sollte ihn nicht „stören“, er interessierte sich nur für die Komposition. Er wies mich auf jeden Fehler hin und sagte mir: „Geh in den Louvre und versuche von Poussin zu lernen“. Dann riet er mir noch, meine Rollei-Kamera aufzugeben und mir eine Leica zu kaufen. „Du hast deine Augen nicht im Bauch.“

Was machte Cartier-Bresson zu einem so großen Fotografen?
Er hatte ein Bewusstsein für die Probleme der Welt, für die Fragen, die die Geschichte stellt. Er dachte viel nach und schrieb auch. Er hatte seine Vorstellungen und seinen Fimmel. Und er ist nicht nur überall gewesen, sondern er fühlte sich auch verpflichtet, an jeden Ort zu gehen.

Haben Sie Ihre Lektion gelernt?
Ich habe wahrscheinlich vierzig Jahre dafür gebraucht. Aber ich war mein Leben lang ein Outsider, denn ich hatte immer zwei Standbeine: Reportagen und Modefotos. Cartier-Bresson hielt mich immer für einen Häretiker, aber ein Häretiker, mit dem ihn wohl eine gewisse Freundschaft verband.

Inwiefern ein Häretiker?
Ich begann irgendwann, Modefotos zu machen, und zwar auf der Straße oder in Gaststätten. Er sagte: „C’est un pastiche.“ („Das ist Mischmasch.“) Seiner Meinung nach sollte man entweder Reportagen machen oder Fotomodelle im Studio ablichten. Er meinte, man könne die Genres nicht mischen. Außerdem wurde er wütend, als ich begann, in Farbe zu fotografieren. Er sagte: „Wenn ich farbig fotografiere, dann will ich meine eigene Farbpalette benutzen, nicht die, die mir der Kodak-Film aufnötigt.“ Aber das hat er mir noch alles verziehen. Erst als ich anfing, mit Hilfe von Photoshop Fotomontagen herzustellen, wurde er wirklich wütend.

Was sagte er?
Er sagte, das sei keine Fotografie mehr. Und er hatte vollkommen Recht. Doch ich antwortete: „Lass es mich ausprobieren!“ Ich habe sehr unterschiedliche Dinge gemacht. Doch ich war der erste, der seinen Stil übernehmen wollte, und ich war stolz, wenn es mir gelang, ihn umzusetzen.

Was ist sein Stil?

Vorstellungen im Kopf zu haben und sie im richtigen Augenblick „abrufen“ zu können. Ein Beispiel: Ich sehe Sie hier in dieser Position sitzen und mir kommt Rodins Denker in den Sinn. Das ist ein Archetyp, ein universales Bild. In unserem Kopf haben wir ein ganzes Arsenal an Bezugspunkten, die wir zum Einsatz bringen und kombinieren können, wenn wir ein Foto schießen. Dass dies ganz plötzlich und unvorhergesehen geschieht, im Bruchteil einer Sekunde, finde ich außerordentlich spannend.

NEONLICHT. Frank Horvat, Igoumenitsa, Griechenland, Szene im Café, 15. Oktober 1999.

Man hat Cartier-Bresson vorgeworfen, er sei ironisch-distanziert und suche selbst unter dramatischen Umständen immer nach dem schönen Bild …
Aber das ist ja gerade seine Größe! Außergewöhnlich an einem Foto von Cartier-Bresson ist nicht nur die gediegene Komposition aus Dreiecken, Kreisen und rechten Winkeln, in denen der Goldene Schnitt verwirklicht wird, sondern eine Aufnahme von Cartier-Bresson erzählt gleichzeitig wirklich immer eine Geschichte, ein Stück Menschsein. Dabei birgt sie in sich eine Fülle von Assoziationen. Je mehr Verbindungen, umso staunenswerter ist die Aufnahme. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich nachts daran denke und mir sage: „Es gibt keinen Größeren als ihn.“

Warum legte er so großen Wert auf den Goldenen Schnitt?

Das ist ein universales Motiv, eben ein Archetypus. Es ist wie mit dem lieben Gott, wenn man an ihn glauben möchte. Eine Religion im ursprünglichen Sinne des Wortes: etwas, das uns alle bindet. Wenn man in der Fotografie oder in der Malerei danach strebt, den Goldenen Schnitt zu verwirklichen, dann um das Kunstwerk rückzubinden an das Ganze, an die Welt des Geistes, bewusst oder unbewusst.

Es wird immer gesagt, Cartier-Bresson sei der Fotograf des „entscheidenden Augenblicks“ gewesen. Was bedeutete dieser Begriff für ihn?
Er selbst hat es am besten formuliert: Es bedeutet, die Augen, das Herz und den Geist in Einklang zu bringen. Genau das wollte ich vorhin erklären, als ich von den unterschiedlichen Ebenen sprach, die gleichzeitig bestehen.

Es ist schwierig, Cartier-Bresson selbst zu kritisieren, aber viele kritisieren seine Epigonen.
Sie tun es zu Recht.

Warum?
Weil es keine echten Epigonen sind. Wenn Cartier-Bresson selbst unterrichtete, erklärte er nicht, wie man die Augen, den Geist und das Herz in Einklang bringt. Denn was er machte, wenn er fotografierte, das lehrte er nicht, das konnte er gar nicht lehren.

War er ein schlechter Lehrer?
Nach der Qualität seiner Schüler zu urteilen, müsste ich sagen: ja … Die Technik kann man anderen leicht beibringen, aber wie man sein Herz ins Spiel bringt, nicht. Es ist ein bisschen wie beim Zen; der wird mit Stockhieben auf den Kopf gelehrt. Solche Hiebe habe ich von ihm bekommen. Für mich war er also ein hervorragender Lehrer.

MODELLE AUF DER STRASSE. Frank Horvat für Jours de France, Paris, Monique Dutto am Ausgang der Metro, 1959.

Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?
Eines der letzten Male war Ende der Neunziger Jahre. Ferdinando Scianna war auch dabei. Wir saßen in einem Café im Untergeschoss und plauderten. Irgendwann fragte ich ihn: „Würdest du nicht gerne einmal an einem solchen Ort ein Foto machen, bei diesem Neonlicht, mit diesen hässlichen Möbeln und diesen Farben?“ Er antwortete: „Jamais“, niemals. Ich sagte, auch ich könne mir das nicht vorstellen, und trotzdem existiere diese Welt und sei die Welt, in der wir lebten. Man müsse versuchen, sie mithilfe der Fotografie zu interpretieren. Scianna meinte: „Vielleicht ist die Welt zu komplex geworden für die Fotografie.“

Warum lohnt es sich, eine solche Herausforderung anzunehmen?
Es geht nicht darum, ob es sich lohnt. Das Leben ist diese Herausforderung. Wir müssen in dieser Welt leben und wir müssen sie interpretieren. Das ist kein Spiel. Der einzige Sinn der Kunst besteht darin, dass sie uns hilft. Uns zu helfen, wirklich in der Welt zu leben, in der wir leben. Das ist die natürliche Aufgabe von Kunst.

Gehören nach Ihrem Empfinden die Bilder, mit denen Sie vor vierzig Jahren Erfolg hatten, mehr zu Ihnen, oder die, die Sie heute schießen?
Wenn ich die Aufnahmen, die ich jetzt mache, nicht als zu mir gehörend empfände, könnte ich nicht mehr leben. Ich muss sie als mehr zu mir gehörend empfinden. Darauf kann ich also keine objektive Antwort geben. Ich kann Ihnen aber sagen, dass ich mich heute mehr als Pionier fühle als zu der Zeit, da ich noch für die Agentur Magnum arbeitete. Was ich damals gemacht habe, der Stil, den ich benutzte, fügte sich in eine Schule ein. Es war nicht mein Stil. Heute sind es nur ich und meine kleine Digitalkamera. Ich mache, was alle machen könnten. Welcher Unterschied besteht zwischen meinen Fotos und denen irgendeines anderen? Keiner, außer dass ich sie schieße.

Ist Fotografieren eine Frage von Leben und Tod?
Schöpferisch tätig zu sein ist es.

Inwiefern?
Verstehen und Verständlich-Machen ist lebensnotwendig. Dafür leben wir. Ein Tag ohne schöpferisches Tun wäre ein vergeudeter Tag.

Leben wir, um schöpferisch tätig zu sein?
Wir sind dazu gemacht, Dinge zusammenzubringen und das Wissen in der Welt zu vermehren. Sie sind bestimmt religiös, sonst würden Sie nicht für diese Zeitschrift schreiben. Ich dagegen bin überhaupt nicht religiös, aber es ist klar, dass das, was ich mache, ein Ersatz für die Religion ist.



Sie wurden in eine jüdische Familie geboren. Haben Sie sich je gefragt, warum ein so hoher Prozentsatz der großen Meisterfotografen jüdischer Herkunft ist?
Im Hochmittelalter, zur Zeit Karls des Großen, waren nahezu alle Christen Analphabeten, mit Ausnahme der Mönche. Die Juden hingegen konnten alle lesen und schreiben, auch die Frauen. Das ist also eine alte Geschichte. Im Grunde ist auch die Fotografie eine Form von Schrift. Für mich ist das ein Erbe an kultureller Erziehung, auch wenn ich persönlich nie an einem Gottesdienst in einer Synagoge teilgenommen habe und es auch in Zukunft nicht zu tun gedenke. Das bedeutet nicht, dass es nicht auch Gojim [Nichtjuden] geben kann, die hervorragende Fotografen sind. Vielleicht sogar größer als die großen Fotografen jüdischer Abstammung. Denn jene besitzen etwas, was diesen fehlt.

Nämlich?
Juden haben eine Neigung zur Abstraktion und sind schwächer im Gegenständlichen. Doch Gegenständlichkeit ist sehr wichtig für einen Künstler. Ich verallgemeinere, denn in Einzelfällen kann auch das Gegenteil der Fall sein. Manchmal denke ich mir aber: Es gab nie einen jüdischen Shakespeare, und auch keinen jüdischen Rembrandt oder Bach. Warum wohl?