Etty Hillesum (1914-1943) auf einem Foto von 1940.

Etty Hillesum: Das denkende Herz der Baracke

Die holländische Jüdin Etty Hillesum starb 1943 in den Gaskammern von Auschwitz. 2014 wäre sie hundert Jahre alt geworden .
Davide Perillo

Sie hat der Welt ein Tagebuch hinterlassen, in dem sie beschreibt, wie ihr Leben von Tag zu Tag mehr zu einem „ununterbrochenen Zwiegespräch“ mit Gott wird. Dadurch sieht sie auch die Welt um sich herum mit anderen Augen. Und beginnt, alles zu lieben. Sogar ihre Peiniger. „Denn die Dankbarkeit ist immer größer als der Schmerz.“

Ein Bauer fand die Postkarte neben den Eisenbahnschienen auf freiem Feld außerhalb von Nieuwenschans. Keine Abbildung, nur das Datum (7. September 1943), die Adresse („an Christine van Nooten, Deventer“) und ein Text in einer engen, runden Schrift. „Ich schlage die Bibel aufs Geratewohl auf und finde dies: ‚Der Herr ist mein Hort‘. Die Abreise kam trotz allem unerwartet. Wir haben das Lager singend verlassen. Auf Wiedersehen!“ Die Karte war von Etty Hillesum, einer holländischen Jüdin, 29 Jahre alt. Sie hatte die Nachricht aus dem Waggon Nummer 12 des Zuges geworfen, der sie nach Auschwitz brachte. Zwei Monate später war sie tot. 2014 wäre sie hundert geworden.

Kann man singend in den Tod gehen? Kann man den Horror des Holocaust am eigenen Leib erfahren, seine Freunde, Verwandten, Pläne und Träume sterben sehen, und trotzdem frohen Herzens in den Zug steigen, der einen in die Gaskammern bringt? Diese Karte ist das Siegel eines kurzen Lebens, dessen Intensität einen nicht mehr loslässt. Denn es wirft viele solcher Fragen auf. Über drei Jahre, zwischen 1941 und 1943, hat Etty Hillesum Tagebuch geführt und niedergeschrieben, was sie durch „Hineinhorchen“ in sich selbst festgestellt hat und wie sich ihr Leben dadurch verwandelte. Nachdem es fast vierzig Jahre später wieder aufgetaucht und in den Niederlanden veröffentlicht worden war, fand es eine ungeheure Resonanz (150.000 verkaufte Exemplare, unzählige Neuauflagen, sogar ein Film wurde nach Ettys Aufzeichnungen gedreht).



Esther „Etty“ Hillesum wurde am 15. Januar 1914 in Meddelburg, im Südwesten der Niederlande, geboren. Der Vater war Rektor eines Gymnasiums, die Mutter eine temperamentvolle Russin. Ettys jüngere Brüder waren ebenso außergewöhnlich begabt wie sie selbst. Mischa wurde ein vielversprechender Pianist, Jaap entdeckte bereits mit 17 Jahren ein neues Protein, was ihm den Weg zu einer herausragenden medizinischen Karriere geebnet hätte. Etty schloss zunächst ein Jurastudium ab, dann begann sie Slawistik und Psychologie zu studieren. Doch zu diesem Zeitpunkt hatten die Konzentrationslager schon ihre Tore geöffnet, der Holocaust hatte bereits begonnen. Eigentlich wollte Etty eine große Schriftstellerin werden, wie sie ihren Freunden oft gesagt und auch ihrem Tagebuch anvertraut hat. Sie merkte nicht, dass sie es bereits war.

Gegen-Drama. In ihrem Tagebuch, das sie zur gleichen Zeit und in der gleichen Stadt schrieb wie Anne Frank, steckt viel mehr als Geschichte und Erinnerungen. Es berichtet von einem  beeindruckenden menschlichen Weg, einem Weg, in dessen Verlauf die Vernunft, die Sinne und das Herz immer weiter werden, nach jeder Begegnung, nach jedem neuen Leid. Über die Jahre hinweg entsteht so, genau zu der Zeit, als Europa in der Tragödie versinkt, ein „Gegen-Drama“, wie Jan Gert Gaarlandt, der Herausgeber der Tagebücher, es nennt. Etty schildert ihren inneren Weg und die Welt um sie herum mit einer scheinbar mühelosen Klarheit und seelischen Kraft. Die Einsicht, wie die Dinge wirklich sind, regt sie immer wieder zum Nachdenken an. Nur, woher kommt diese Kraft?

Vor allem aus einem ausgesprochen unruhigen Herzen. Ein Herz, das in ihr die Begeisterung für Rilke und Augustinus, Michelangelo und Leonardo, und für Dostojewski geweckt hat. Das sie dazu antreibt, immer wieder und auf tausenderlei Arten zu sagen: „Das Leben ist schön und lebenswert und sinnvoll.“ Und dieses Herz wird noch größer, als sie den Mann kennenlernt, der ihr Leben verändern sollte: Julius Spier. Er ist doppelt so alt wie sie, hat bei C.G. Jung studiert und ist der Begründer der Psycho-Chirologie, der Kunst, aus den Handlinien eines Menschen dessen Fähigkeiten und Charakter herauszulesen. Das mag merkwürdig anmuten, aber Spier hatte offenbar unvergleichlich viel Charisma und große Tiefe. Und er übte eine starke Anziehungskraft auf diese junge Frau aus, deren Liebhaber er wurde, wenn auch nicht der einzige. „Er nahm mich sozusagen an die Hand und sagte, schau her, so musst du leben“, schreibt sie in ihrem Tagebuch, das sie wahrscheinlich auf Anregung von Spier begonnen hat. Auf dessen Seiten ist er immer und überall präsent. Doch sein besonderes Verdienst war es, dass er Gott in ihr „ausgegraben und zum Leben erweckt“ hat.

Deportation von Juden in ein Konzentrationslager.

Und dann begleitet er sie auf ihrem Weg. Ungewöhnlich, beinahe zufällig, so wie das Leben halt ist, aber real. Durch die Bindung an Spier und dessen Freunde, und dadurch, dass sie sich eng an ihre Erfahrung hält („das ist die einzige Gegenwart, die man nicht durch Diskussionen wegreden kann“), überwindet Etty die Zweifel, die durch die Tragödie um sie herum in ihrer Seele aufkommen. „Lebensangst auf der ganzen Linie“, so fasst sie ihre Stimmung am 10. November 1941 auf einer Zeile zusammen. Zweifel gibt es, und sie kommen wieder. Aber sie sind kein Hindernis mehr. Sie sind Schritte auf einem Weg.

Etty geht ihn, indem sie ihr ganzes Ich einsetzt, eine tätige, „offene“ Vernunft beweist, wie sie Benedikt XVI. gefallen hätte. (Nicht umsonst hat der emeritierte Papst in einer seiner letzten Audienzen als Pontifex im Februar 2013 von ihr gesprochen.) Man muss „mit dem Herzen denken“, sagt Etty, nicht nur mit dem Verstand. Sie möchte die Welt „wie mit einem neuen Sinnesorgan ergründen“. Dann sieht man Dinge, die man sich nie hätte vorstellen können. Man versteht sie besser und kann sie sogar umarmen. Etty wird immer bewusster, welche Aufgabe ihr aus einer solchen Sensibilität erwächst: „Lass mich das denkende Herz der Baracke sein. [...] Ich möchte das denkende Herz eines ganzen Konzentrationslagers sein.“ Das ist keine Anmaßung, sondern die Gewissheit, dass nur ein denkendes, sehendes und liebendes Herz dem Wahnsinn des Krieges und der Shoah widerstehen kann: für sich selbst und für andere.



Der Brunnen. Nach und nach werden die Seiten ihres Tagebuches immer mehr zu einem stetigen Dialog mit Gott („Nimm mich an deine Hand, ich gehe brav mit, ohne mich allzu sehr zu sträuben.“), zur Suche nach Ihm: „In mir gibt es einen ganz tiefen Brunnen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber oft liegen Steine und Geröll auf dem Brunnen und dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden.“ Jeder Tag wird zur hartnäckigen Suche nach dem Wesentlichen und verändert die Art, wie Etty sich selbst und das Leben sieht. „‚Ich hänge so an diesem Leben.‘ Was verstehst du unter diesem ‚Leben‘? Das bequeme Leben, das du zur Zeit führst? Ob du wirklich am nackten, am splitternackten Leben hängst, gleich in welcher Gestalt es sich dir darbietet, wird sich erst im Laufe der Jahre erweisen.“ Sie beginnt, das zu suchen, was ihr wirklich hilft zu leben. Auch in dem Bewusstsein, was sie erwartet. Es ist beeindruckend, wie dieser immer realer und persönlicher werdende Glaube aufblüht. Erst durch das Loslassen besitzt man die Dinge und lernt sie wahrhaft kennen. „Man muss auch ohne Bücher und Notizen leben können. Ein kleines Stück Himmel wird wohl immer zu sehen sein, und so viel Platz wird immer um mich sein, dass meine Hände sich zum Gebet falten können.“ Oder: „Irgendwann kann man nichts mehr tun, als nur noch zu sein und sich zu ergeben.“ Etty entwickelt eine ungeschuldete Liebe für das, was ist, weil es ist, nicht weil es unser ist oder sein sollte. Es gibt eine wunderschöne Stelle, wo sie beschreibt, wie sie das auf einem Spaziergang bei Sonnenuntergang entdeckt hat: Früher, „wenn mir eine Blume gefiel, hätte ich sie am liebsten an mich gedrückt oder sogar aufgegessen. [...] Nach dem, was ich schön fand, hatte ich ein zu großes körperliches Verlangen, ich wollte es besitzen. [...] Aber neulich an dem Abend reagierte ich anders. Ich gewahrte mit Freude, wie schön Gottes Welt trotz allem ist. Ich genoss die geheimnisvolle, stille Landschaft in der Dämmerung zwar intensiv, aber sozusagen sachlicher. Ich wollte sie nicht mehr ‚haben‘.“

„Irgendwann kann man nichts mehr tun, als nur noch zu sein und sich zu ergeben.“

Erniedrigung. Im christlichen Vokabular würde man diese Haltung „Jungfräulichkeit“ nennen. Es fällt auf, dass gerade an diesen Stellen im Tagebuch Zitate aus dem Matthäusevangelium auftauchen („Sorgt euch nicht um morgen ...“) und aus den Paulusbriefen. Doch diese Haltung ist zugleich Ursprung und Ausdruck einer stetig wachsenden inneren Freiheit, die zu prägnanten Urteilen über das führt, was um sie herum geschieht. „Zur Erniedrigung sind zwei Leute notwendig. Einer, der erniedrigt, und einer, [...] der sich erniedrigen lässt. Entfällt das letztere, [...] dann verpuffen die Erniedrigungen in der Luft.“

Etty beobachtet die Hölle nicht nur von außen, sie läuft vor ihr nicht davon. Im Juli 1942 findet sie Arbeit als Sekretärin beim Jüdischen Rat, einer Organisation, die zwischen den deutschen Besatzern und der jüdischen Gemeinschaft vermitteln und verhandeln sollte. Doch in Wahrheit half sie bei der Organisation der Deportation aus dem Durchgangslager Westerbork. Jeden Dienstag fuhren von dort Züge nach Auschwitz. Über Hunderttausend der niederländischen Juden endeten in den Gaskammern. Etty entscheidet sich bewusst, sich diesem Schicksal nicht zu entziehen. Auch als sich ihr die Gelegenheit bietet unterzutauchen oder als ihre Freunde ihr vorschlagen, eine Entführung vorzutäuschen. Im Lager kümmert sie sich um Kranke und Familien, organisiert die Verteilung von Hilfspaketen und spielt mit den Kindern. Sie gibt sich ganz hin. Und kommt dem Abgrund dadurch immer näher, beinahe freiwillig.

Die Familie Hillesum 1931.

„Ich muss gehen.“ In ihrem Tagebuch spricht Etty auch viel über Westerbork. Sie schreibt über die Größe und das Elend, das sie dort angesichts des Todes erlebt. Die Baracken, das Warten, der Kampf um Karten, die einem eine weitere Woche Leben schenken, die Sorge um ihre Eltern und Brüder. Es gibt Textstellen, die einem den Atem stocken lassen. („Ein Mädchen ruft nach mir. Sie sitzt auf dem Bett, die Augen weit aufgerissen. Ihre Knöchel sind dünn, das Gesichtchen abgemagert und durchsichtig. Sie ist halb gelähmt, hatte gerade erst das Laufen gelernt. ‚Hast du gehört? Ich muss gehen‘, flüstert sie. ‚Schade, nicht? Wenn man bedenkt, dass alles, was man im Leben gelernt hat, verlorene Mühe war?‘“) Es gibt auch viel Ironie. Als man ihr sagt, auch sie müsse nun gehen, und dann: „Nein, es war ein Irrtum“, kommentiert sie: „Der Ausdruck ‚Irrtum‘ mutet merkwürdig an, als ob es nicht für alle ein solcher wäre.“

Doch auch ihre Peiniger betrachtet sie mit Wahrhaftigkeit. Sie sucht in ihnen jedes Fünkchen Menschlichkeit, und sei es noch so klein. Ihr Blick ist rein, frei von Hass. „Ich weiß, dass derjenige, der hasst, gute Gründe dafür hat. Aber warum sollten wir uns immer für den leichteren Weg entscheiden?“ Und weiter: „Diese Erde könnte etwas bewohnbarer werden, allein durch die Liebe, mit der der Jude Paulus an die Einwohner von Korinth schreibt.“ Eine „Hymne auf die Nächstenliebe“. Und in diesem „merkwürdigen Zustand schmerzvoller Zufriedenheit“ taucht in Etty ein geheimnisvoller Wunsch auf: Gott zu helfen. Nicht nur, Ihm das absurde Leid zu verzeihen, das man beobachtet („die Tatsache, dass man so viel Liebe in sich trägt, dass man Gott verzeihen kann“, schreibt sie im August 1942), sondern Ihm zu dienen, an Seinem geheimnisvollen Werk mitzuwirken: „Wenn Gott mir nicht weiterhilft, dann muss ich Gott helfen.“ Das ist keine Blasphemie, sondern die Sehnsucht, Mensch zu bleiben und sich in dieser Tragödie nicht selbst zu verlieren. Das geht nur, wenn man die Beziehung zu Gott nicht aufgibt. Etty will Gott nicht verlieren, um sich selbst und andere zu retten: „Ich werde mich immer bemühen, Gott so gut wie möglich zu helfen, und wenn mir das gelingt, nun, dann wird es mir bei den anderen auch gelingen.“





Baracken und Stacheldrahtzäune in Auschwitz.
Das Pflaster. Das „Gelingen“ besteht am Ende darin, dass ihre freie Hingabe allumfassend und bedingungslos wird. Eine radikale Liebe zu anderen, die sich daraus ergibt, dass man auf dem Grund seiner selbst angekommen ist: „Wenn ich bete, bete ich nie für mich selbst, immer für andere [...] Wenn man für jemand betet, schickt man ihm etwas von der eigenen Kraft.“ Im Grunde ist das das letztlich Beeindruckende. Diese Haltung wird mit der Zeit auch immer tiefer. Es ist wie ein ständiges Crescendo. Der letzte Satz des Tagebuchs fasst es in acht Worten zusammen: „Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein.“

Danach hat Etty Hillesum tatsächlich gelebt. „Und dennoch komme ich immer wieder zu demselben Schluss: Das Leben ist schön“, schreibt sie auch noch aus dem Durchgangslager. Denn „die freie Hingabe wird immer größer sein als der Schmerz.“ Und an einem ihrer letzten Tage: „Der Himmel ist voller Vögel, [...] die Sonne scheint auf mein Gesicht, und vor unseren Augen spielt sich ein Massaker ab. Das ist alles so unbegreiflich. Es geht mir gut.“

Am nächsten Tag erhält sie den Befehl zur Abreise. In den Zug steigen Etty, ihre Eltern und ihr Bruder Mischa. Das letzte Wort, das man von ihr hört, ist ein fröhliches: „Taaag!“, gerufen aus dem Waggon Nummer 12, der von Westerbork wegrollt. „Wir sind singend abgefahren.“ Es stimmt.