DAS GENDER-U-BOOT

Ein Gespräch mit der Rechtsphilosophin Laura Palazzani über Gender-Theorien
Alessandra Stoppa

Die Gender-Theorien laufen in den Hafen der Rechtsprechung nicht wie ein „Schiff unter vollen Segeln“ ein, sondern getarnt als U-Boot. So beschrieb es die amerikanische Journalistin Dale O’Laery, die selbst an den Konferenzen von Kairo (1994) und Peking (1995) teilgenommen hat. Bei diesen Gesprächsrunden auf globaler Ebene kam das Thema „Gender“ für viele unbemerkt im Fahrwasser der allgemeinen Anerkennung von Frauenrechten auf die internationale Agenda. Das Wort selbst tauchte bereits in den vorbereitenden Dokumenten auf, in denen eigentlich die Ergebnisse schon festgelegt waren. Sowohl in gängigen Slogans wie in Gesetzesentwürfen und Schulbüchern begegnet man diesem Wort inzwischen immer häufiger. Auch Papst Franziskus stellte jüngst die Frage, ob die Gender-Theorie nicht oft Ausdruck von Frustration und Resignation sei und den Unterschied der Geschlechter auslöschen wolle, weil sie nicht fähig sei, sich damit auseinanderzusetzen. „Aber den Unterschied zu beseitigen, ist nicht die Lösung, sondern das Problem.“ Und er rief die Intellektuellen dazu auf, dieses Thema nicht zu vernachlässigen, als sei es weniger wichtig als „der Einsatz für eine freiere und gerechtere Gesellschaft“.

Der Aufruf des Papstes sei heute besonders wichtig, meint Laura Palazzani, Rechtsphilosophin und Expertin für Bioethik. „Er betrifft ein Thema, das sich heimlich in die Rechtsprechung und die Gesellschaft eingeschlichen hat. Anders als in Italien werden in der angelsächsischen Literatur die Ursprünge und Konsequenzen dieser Theorien bereits heiß diskutiert. Das ist dringend nötig, denn man muss sich die daraus resultierenden Probleme deutlich vor Augen führen und es bedarf einer angemessenen Information und Bildung der Gesellschaft in diesem Bereich. Dafür sind die Intellektuellen verantwortlich.“

Frau Professor Palazzani, wie sind die Gender-Theorien überhaupt entstanden?
Ihre Geschichte ist noch recht jung. Aber ich möchte vorausschicken, dass man den Ausdruck „Gender“ am besten nicht mit dem Wort „Geschlecht“ übersetzt, mit dem wir eine grammatikalische Kategorie (männlich / weiblich) oder die Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit ähnlichen Merkmalen (beispielsweise das Menschengeschlecht) bezeichnen. Seine Bedeutung bezieht das englische Wort gender vielmehr aus seiner Entgegensetzung zum Wort sex. Letzteres meint die biologischen Voraussetzungen des Mann- oder Frauseins. Gender dagegen kennzeichnet die psycho-sozialen Bedingungen und die Art und Weise, in der wir unsere sexuelle Identität und unsere gesellschaftliche Rolle verstehen. Die Gender-Theorien berufen sich dabei auf einen Satz von Simone de Beauvoir in ihrem Werk „Das andere Geschlecht“ (1949): „Man wird nicht als Frau geboren – man wird es.“ Obwohl sie selbst keine Gender-Theoretikerin war, unterstellt de Beauvoir mit diesem Satz einen Unterschied zwischen Sein und Werden, den Unterschied zwischen dem „Geboren-Werden“ (aus der Natur stammend) und dem „Gemacht-Werden“ (von außen oder durch individuellen Willen hervorgebracht).

Wer hat den Ausdruck gender zum ersten Mal in dieser Bedeutung gebraucht und warum?
Das war John Money, ein amerikanischer Psychologe und Sexologe. Obwohl er zugestand, dass man mit einem biologischen Geschlecht geboren wird, richtete er die Aufmerksamkeit auf das Werden zu einem gender. Seiner Ansicht nach ist die sexuelle und gesellschaftliche Identität nicht mit der Geburt festgelegt, sondern Resultat der Erziehung und genauer noch der Art und Weise, wie wir von unseren Eltern in den ersten 18 Lebensmonaten erzogen werden. Bekannt wurde sein „Experiment“ mit Zwillingen, die genetisch als Jungen geboren wurden. Einer von ihnen (John) erlitt in Folge eines missglückten medizinischen Eingriffes eine sexuelle Mutilation. Zusammen mit den Eltern beschloss Money daraufhin, das Geschlecht des Kindes chirurgisch in weiblich zu ändern. So wurde aus John eine Joan. Diese Entscheidung gründete auf der Überzeugung, dass man jedes gender durch eine den körperlichen Eingriffen angepasste Erziehung verändern kann. Durchgeführt wurde dieser Eingriff in der „Gender-Identity-Clinic“ in Baltimore, in der Money Kinder mit Anomalien im Bereich der sexuellen Differenzierung behandelte. Aus diesem psycho-sexologischen Kontext sind die Gender-Theorien entstanden. Später wurden sie dann weiterentwickelt von bestimmten feministischen Strömungen, die die Unterschiede zwischen Mann und Frau negieren und auf bloße gesellschaftliche Konventionen zurückführen.

Prof. Laura Palazzani

Welchem Bedürfnis entsprechen diese Theorien heute und wie werden sie weiterentwickelt?
Die Gender-Theorien haben sich heute mit dekonstruktivistischen Theorien verbündet, die gleichzeitig deren radikalste Ausdrucksformen darstellen. Bekannteste Vertreterin ist Judith Butler, die Autorin des Buches Undoing gender [deutscher Titel: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen], in dem sie die radikale Trennung zwischen sex und gender propagiert. Ihrer Meinung nach ist das, was wir als normal betrachten, nämlich als Mann oder Frau geboren zu werden und uns als solche zu verhalten sowie dementsprechend unseren Ort in der Gesellschaft zu bestimmen, nur das Produkt einer Normung, durch die wir dazu gebracht werden, eine Entsprechung zwischen unserem sex und gender zu empfinden. Mit dieser These bringt Butler den Wunsch einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung zum Ausdruck, die diese Normalität dekonstruieren und abschaffen will, um ausgehend von individuellen Bedürfnissen, dem eigenem Willen, den Instinkten und Trieben etwas Neues zu konstruieren. Dahinter verbirgt sich das Bedürfnis, den eigenen biologischen Körper (sex) so zu gestalten, wie man sich fühlt und wahrnimmt (gender).

Welches revolutionäre Potenzial birgt diese veränderte Beziehung von biologischem Geschlecht und gender?
Die Neuerung besteht zuerst und vor allem in der Feststellung, dass sex und gender trennbar sind und sich nicht länger entsprechen. Das Eine ist, was wir „sind“, und das Andere, was wir „werden“. Das zieht sich wie ein roter Faden durch alle Gender-Theorien und gipfelt in der Forderung, dass das gender das sex bestimmen solle. Wichtiger ist demnach, was wir „werden wollen“, und nicht länger, was wir „sind“. Es zählt, was wir gegenüber uns selbst und der Gesellschaft wollen. Das ist in erster Linie eine kulturelle und weltanschauliche Revolution, denn auf diesem Terrain erwachsen all die relativistischen Theorien, die die Bedeutungslosigkeit der Natur betonen. Ferner bedeutet es auch eine juridische Revolution, wenn dann spezifische Rechte eingefordert werden.

Eine Demo LGBT (Abkürzung für lesbisch, gay, bisex und transgender)

In kultureller Hinsicht wird dadurch das Verständnis von Liebe relativiert. Bedeutet der harmlos erscheinende Slogan „Love is love“, dass alles gleich ist und erlaubt?
Die Unterscheidung zwischen biologischer und psycho-sozialer Dimension macht sich tatsächlich auch im Hinblick auf die sexuelle Orientierung (sexual orientation) bemerkbar. Mit diesem Begriff wird die „Ausrichtung der Lust“ beschrieben, wobei Butler davon ausgeht, dass in der sexuellen Beziehung zum Anderen alle Orientierungen – egal ob hetero-, homo- oder bisexuell – absolut gleichwertig sind. Zentrales Argument für diese Einschätzung ist, dass das Wesentliche in einer Beziehung die Zuneigung sei, unabhängig von dem geschlechtlichen Unterschied, der auch zum Aufbau einer Familie als irrelevant angesehen wird. Von einem naturalistischen Modell der Familie – basierend auf der Verbindung von Mann und Frau, die noch heute die Bedingung dafür bildet, sich fortzupflanzen und daher die Gesellschaft aufbauen zu können, – gelangt man zu einem voluntaristischen Vertragsmodell. Darin besteht die große Revolution.

Ist diese Feindschaft gegenüber dem Körper und den vermeintlichen biologischen Fesseln nicht paradox innerhalb einer materialistischen Gesellschaft?

Die Gender-Theorien stellen den Willen über den Körper, der auf eine leblose Masse reduziert wird, ein je nach Wunsch veränderbares Objekt. Es entsteht eine Trennung zwischen der biologischen Dimension und der Dimension des Willens, die uns zu Descartes und seiner Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa zurückführt. Der Wille wird verabsolutiert, und alles, was wir wollen, müssen wir um jeden Preis erreichen können. Butler vergleicht den Körper mit einem „Kleiderbügel“, über den wir das Kleid, das wir tragen wollen, hängen können. Dem Körper käme damit nur noch die Rolle eines passiven Hilfsmittels zu, das man ausgehend von den eigenen Bedürfnissen nutzen und verändern kann.

Die Gender-Theorien stellen den Willen über den Körper, der auf eine leblose Masse reduziert wird, ein je nach Wunsch veränderbares Objekt.

Was ist problematisch an dieser Auffassung des Körpers?
Der problematischste Aspekt ist die Tatsache, dass der Körper nicht so einfach und spielerisch zu verändern ist. So zeigt zum Beispiel der oben angesprochene Fall von John/Joan die ganze Dramatik: Dieser ließ nämlich seinen Körper wieder umändern (von weiblich zu männlich) und beging schließlich Selbstmord. Wer heute das Recht auf „Intersexualität“ verteidigt, also darauf, eine Zwitterrolle zwischen männlich und weiblich einzunehmen, oder das Recht auf eine Anerkennung als Transgender (das heißt durch eine bloße Korrektur der Daten beim Standesamt zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht wechseln zu können), der setzt die Lust und das Wollen über die Natur. Aber die Einführung des „dritten“ oder „neutralen Geschlechts“ auf der Suche nach sexueller Ununterscheidbarkeit verhindert in Wahrheit unseren Identifikationsprozess. Der Körper ist nicht amorph, also gestaltlos, sondern transportiert eine Identität, die konstitutiv ist für unser Sein. Und all das setzt im Grunde das voraus, was hier verneint oder überwunden werden soll: den konstitutiven Unterschied der Geschlechter. Dies ist der Hauptwiderspruch der Gender-Theorien. Sie versuchen, die Natur zu negieren und bekräftigen sie gerade dadurch wieder.

Welche Rechte werden von den Gender-Theorien eingefordert?
Diese Rechte finden sich seit den Konferenzen von Kairo und Peking in vielen Dokumenten und gipfeln in den 2007 aufgestellten „Yogyakarta-Prinzipien“, in denen die Menschenrechte auf die Gender-Identität und sexuelle Orientierung angewandt werden. Sie fordern das Recht auf „Polysexualität“, also die freie Wahl der sexuellen Identität inklusive der neutralen, und das Recht auf „Pansexualität“, das heißt die Wahl der sexuellen Orientierung bei der Zusammensetzung von Familien. Die Gleichsetzung von hetero-, homo- und bisexuellen Beziehungen wird nicht nur im Bezug auf Ehe und eheähnliche Partnerschaften gefordert, sondern auch im Hinblick auf Adoptionen und medizinisch unterstützte Fortpflanzung. Man spricht von „Regenbogen-Familien“, die sich ausgehend von individuellen Wünschen und Vereinbarungen bilden.

John Money, Psychologe und Sexologe aus Neuseeland. Er gründete 1965 die Gender Identity Clinic.

Welche Schritte wurden in diese Richtung in Italien bereits unternommen?
In letzter Zeit beschäftigt sich die Rechtsprechung mit dem Thema der „geschlechtlichen Identität“ bei Individuen, die ihre Personendaten ändern lassen wollen, ohne dabei den Körper zu verändern. Darüberhinaus gab es Versuche, im Zusammenhang mit der Verschärfung des Strafmaßes für homophobe und transphobe Delikte, den Ausdruck „geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung“ in die Rechtsordnung einzuführen. Darüber wird derzeit noch diskutiert. Erst vor Kurzem hat der Rechtsausschuss im Senat einen entsprechenden Gesetzesentwurf im Bezug auf die Zivilehen verabschiedet, während sich in der Vergangenheit sowohl das Verfassungsgericht als auch das Oberste Gericht gegen eine Gleichstellung von heterosexuellen und homosexuellen Beziehungen auf der Grundlage unserer Rechtsordnung ausgesprochen hatten.

Noch schwerwiegender erscheint, was im schulischen Bereich geschieht ...
In der Tat: Wie in anderen Ländern auch hält das Thema „Gender“ Einzug in die Schulen. Die Kinder sollen mit der Vorstellung aufwachsen, dass es nicht „die“ Familie gibt, sondern unterschiedliche Familienformen, und dass das Geschlecht neutral ist. So kommt es zu einer Relativierung auf der Grundlage des Gleichheitsprinzips, das mit Gleichwertigkeit verwechselt wird. Man möchte, dass die Kinder jede sexuelle Orientierung oder auch Wahl des Geschlechts als gleichwertig empfinden. Ebenso sollen sie eine Familie aus Mutter und Vater mit einer aus zwei Müttern oder zwei Vätern bestehenden gleichsetzen. Man suggeriert darüberhinaus, dass jeder, der diese Optionen nicht als gleichwertig betrachtet, andere diskriminiert. Dieses alle Unterschiede verwischende Erziehungsideal wird mit dem Gleichheitsgrundsatz begründet. Dadurch verschleiert es seine relativistische Sichtweise. Was man den Kindern dagegen eigentlich klarmachen müsste, ist die Tatsache, dass die sexuelle Identität nicht ein Produkt der Erziehung, der Kultur oder des Willens ist, sondern konstitutiver Bestandteil unseres Seins. Es müsste auch verdeutlicht werden, dass die Familie eine natürliche Einheit ist, dass der Unterschied der Geschlechter die Bedingung für die Fortpflanzung darstellt und die Basis des gesellschaftlichen Zusammenlebens bildet. Dies ist grundlegend für den Prozess der Identitätsfindung einer Person.