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MEETING RIMINI 2015: Der Mangel ist Leben

 „Was ist das für ein Mangel, o Herz, von dem du ganz und gar erfüllt bist?“
Giuseppe Frangi

Dieser Mangel ist keine „Verstümmelung“ des Lebens, sondern er nährt die Sehnsucht und öffnet uns auf den Anderen hin. Der Psychoanalytiker Massimo Recalcati I setzt sich mit dem Thema des diesjährigen Meetings in Rimini auseinander und erklärt, was es mit der Liebe einer Mutter zu tun hat (und mit Widerstand gegen den Konformismus ...)

Massimo Recalcati ist Psychoanalytiker und schreibt für die Zeitung La Repubblica. Er beschäftigt sich viel mit der Verfasstheit des heutigen Menschen. Und es macht ihm Freude, Allgemeinplätze über den Haufen zu werfen. Der „Mangel“ bedeutet nicht weniger, sondern mehr Möglichkeiten, meint er. Denn gerade wenn man sich bewusst wird, was einem fehlt, wird die Sehnsucht in Gang gesetzt und damit das ganze Menschsein ... „Lacan behauptet, die eigentliche Schuld des Menschen bestehe darin, dass er seiner Sehnsucht nicht nachgeht. Und die klinische Psychoanalyse bestätigt, dass Unglücklich-Sein oft an die Tatsache geknüpft ist, dass unser Leben nicht mit dem übereinstimmt, wonach wir uns sehnen.“

Vor Kurzem hat Recalcati ein Buch veröffentlicht, das gleich zum Bestseller geworden ist (Le mani della madre, Feltrinelli 2015). Zum ersten Mal stellt er sich darin der Herausforderung, die Figur der Mutter zu beleuchten. Damit greift er ein faszinierendes Thema auf, das heutzutage leider allzu oft in ideologische Schemata gepresst wird. In Recalcatis Buch spielt das Thema des „Mangels“ in der Erfahrung des Mutterseins eine zentrale Rolle. „Die Mutter ist durch und durch vom Mangel geprägt, sie versteckt ihn nicht, sie verhehlt ihn nicht, sie beseitigt ihn nicht, sondern sie schenkt ihn hin“, schreibt Recalcati. „Seinen eigenen Mangel, das heißt sein eigenes Unvermögen und seine Verletzlichkeit hinzugeben, hat denselben unschätzbaren Wert, wie seine Hände und sein Gesicht anzubieten. Das ist nach Lacan die äußerste Definition der Liebe: Lieben bedeutet dem Anderem das zu geben, was man selbst nicht hat.“ Der Mangel ist das Thema des nächsten Meetings in Rimini, an dem Recalcati gerne teilgenommen hätte; leider wird es ihm aber aufgrund anderer Verpflichtungen nicht möglich sein.

„Die Beklemmung unserer Tage entspringt nicht einem Mangel, sondern einem Überfluss; sie entspringt dem Gefühl, in einem System gefangen zu sein, das uns umgibt, einengt und scheinbar keine andere Welt, keinen weiteren Horizont mehr zulässt – nicht einmal mehr in der Fantasie ...“

Der Titel des Meetings ist ein Vers von Mario Luzi: „Was ist das für ein Mangel, o Herz, von dem du ganz und gar erfüllt bist?“ Inwiefern kann Ihrer Meinung nach der Mangel etwas sein, das das Herz des Menschen erfüllt?

Der Mangel ist keine Niedergeschlagenheit, keine Strafe, keine Verstümmelung des Lebens. Das wäre eine rein nihilistische Sichtweise. Das interessiert mich nicht. Die Psychoanalyse zeigt dagegen, dass der Mangel etwas hervorbringt, weil er unsere Sehnsucht befeuert. Diese ist nicht einfach ein Wehklagen über die Unerreichbarkeit einer Fülle, sondern sie eröffnet Möglichkeiten, sie ist eine Kraft, ein Anstoß zum Wandel. Damit wird aus dem Mangel eine Vorbedingung, um sich dem Anderen zu öffnen, etwas, das die Fülle des Lebens und der Welt in sich trägt und unser Herz erfüllen kann, wie der Dichter es beschreibt.



Es fällt uns heute sehr schwer, die Erfahrung des „Mangels“ zu akzeptieren. Wir erheben immer den entgegengesetzten Anspruch auf Besitz. Wie kann man sich dem entziehen und die Erfahrung des Mangels ernstnehmen?
Wenn man zum Beispiel an die Erfahrung einer Mutter denkt: Eine gute Mutter zu sein bedeutet nicht, zu besitzen oder in Besitz zu nehmen, es heißt nicht, sich selbst zu bekräftigen. Mutter zu werden bedeutet im Gegenteil, dass man sich auf radikale Weise der Ankunft des Anderen öffnet. In diesem Sinne – um die biblische Erzählung vom Urteil Salomos aufzugreifen – ist diejenige eine gute Mutter, die es fertigbringt, auf das Kind zu verzichten, um ihm das Leben zu retten. Ist das nicht eines der größten Geschenke, die eine Mutter machen kann? Das Kind, das sie geboren hat, loszulassen? Es loszulassen und weggehen zu lassen und sich über seine Freiheit zu freuen?

Welche Beziehung besteht zwischen der Erfahrung des Mangels und der Sehnsucht?
Die Sehnsucht macht den Mangel deutlich, der in uns Menschen wohnt. Der Mangel ist die reinste Form, wie sich die Sehnsucht ausdrückt. So wie es beispielsweise Verliebten ergeht, die sich nach langer Zeit der Trennung wiedersehen: Man fragt den Geliebten bestimmt nicht als erstes, was er einem mitgebracht hat. Man fragt ihn nicht nach etwas, das mit Besitz zu tun hat. Die Frage der Liebe ist stets: Hast du mich vermisst? War dir meine Abwesenheit präsent?

Sie haben geschrieben: „Die Transzendenz der Sehnsucht der Mutter macht die Transzendenz der Sehnsucht des Kindes möglich.“ Was ist diese Transzendenz der Sehnsucht?

Die Sehnsucht der Mutter ist nicht der Wunsch, ein Kind zu haben oder zu bekommen. Sie ist vielmehr ein Sich-Öffnen auf das Kind hin. Die Mutterschaft ist keine Erfahrung des Selbstbezuges, sondern ein Aus-sich-Herausgehen. Wenn wir es paradox ausdrücken wollten, könnten wir sagen: Die Sehnsucht der Mutter besteht nicht darin, ein Kind zu besitzen, sondern es zu verlieren. Es ist die Freude, die eine Mutter empfindet, wenn sie sieht, dass ihr Kind gehen oder sprechen lernt, dass es in die Welt hinausgeht. Das Kind, das die Mutter in ihrem Leib getragen und mit ihrem Blut genährt hat, ist niemals ihr Eigentum; sie besitzt es nicht. Denn dieses Kind ist immer ein anderes, ein neues Leben, nicht das ihre, ihr unbekannt. In diesem Sinn stiftet die Transzendenz der Sehnsucht der Mutter, ihr Sich-Öffnen auf das andere Leben des Kindes hin, die Transzendenz der Sehnsucht des Kindes. Sie stiftet sein Leben als freies Leben, als Leben, das ihr nicht gehört.

Massimo Recalcati

Was die Sehnsucht betrifft – in Ihrem Buch sprechen Sie von einer „Sehnsucht, die nicht anonym sein darf“. Was ist eine anonyme Sehnsucht?
Die mütterliche Fürsorge ist eine Fürsorge, die es versteht, dem Besonderen einen Platz einzuräumen, dem besonderen Leben des Kindes. Sie gilt nie für alle, sie ist eben nicht anonym. Es ist immer das Sich-Kümmern um den einen, um das Kind, als wäre es das einzige. Die Betonung dieses grundlegenden Aspektes der mütterlichen Fürsorge ist die politische Dimension meines Buches: In einer Zeit, die vom Diskurs der Kapitalisten bestimmt ist, dominiert die absolute Vernachlässigung, das völlige Fehlen der besonderen Fürsorge, die anonyme Verallgemeinerung, die Entpersonalisierung, die Entmenschlichung sozialer Bindungen. Mich interessieren immer die Punkte, die dem nihilistischen Verfall unserer Zeit widersprechen und widerstehen. Kürzlich habe ich die Liebe als Widerspruch zum Diskurs des Kapitalisten betont. Und auch das Größte, was uns die Mutterschaft lehrt, die Fähigkeit zur besonderen Fürsorge, ist ein Punkt des Widerstands gegen den alles überschwemmenden Konformismus unserer Zeit, der dazu führt, dass wir uns selbst vernachlässigen.

Sie haben neulich in einem Artikel in La Repubblica geschrieben: „Was erbt man, wenn man kein Königreich erbt, wenn man kein Königskind ist? Was bei unserem Erbe zählt, ist die Weitergabe der Sehnsucht von einer Generation zur nächsten. Es ist die Art und Weise, wie unsere Väter auf dieser Erde lebten und versuchten, ihrer Existenz einen Sinn zu geben.“ Heißt Erbe zu sein also „ein freier Mensch“ zu sein?
Sohn beziehungsweise Tochter zu sein ist, wie die Worte Jesu verdeutlichen, nicht eine Verfasstheit unter mehreren, sondern definiert das menschliche Leben in seinem existentiellsten Bereich. Wir alle sind Söhne und Töchter. Und als solche haben wir alle auch die Aufgabe, zu Erben zu werden. Die Vermenschlichung des Lebens betrifft den Akt oder besser die Bewegung des Erbens. Was haben wir aus dem gemacht, was wir von unserem Schöpfer bekommen haben? Es gibt kein menschliches Leben ohne diese Bewegung des subjektiven Wiederaufnehmens dessen, was der Andere, von dem wir stammen, aus uns gemacht hat. Die Freiheit ist nicht die Abwesenheit von äußeren Zwängen. Sie ist nie absolut, sondern sie bezeichnet genau diese Bewegung des individuellen Wiederaufnehmens der Bestimmung, die der Andere in unser Leben eingezeichnet hat.

Was uns beim Meeting erwartet
Bei der Eröffnungsveranstaltung des diesjährigen Meetings für die Freundschaft unter den Völkern (das vom 20. bis 26. August 2015 im Messegelände von Rimini stattfindet) werden Jean-Louis Kardinal Tauran, Azzedine Gaci, der Rektor der Othmane-Moschee in Villeurbanne, und Haïm Korsia, Großrabbiner von Frankreich, über das Thema „Die Religionen sind Teil der Lösung, nicht das Problem“ diskutieren.Don Julián Carrón und Joseph Weiler sprechen über „Abraham, die Geburt des Ich und die heutigen Herausforderungen“. Die italienische Regierung wird vertreten sein durch Maurizio Martina (Landwirtschaftsminister), Giuliano Poletti (Arbeitsminister) und Pier Carlo Padoan (Finanzminister). Gemeinsam mit dem italienischen Außenminister Paolo Gentiloni sind seine Amtskollegen aus Tunesien, Taieb Baccouche, und Ägypten, Sameh Shoukry, eingeladen.Der Mittlere Osten und seine Märtyrer werden Thema einer Podiumsveranstaltung mit Pater Douglas Bazi, Pfarrer in Erbil, und dem Weihbischof von Garissa, Joseph Alessandro, sein. Über Islam und Demokratie diskutieren Rafaa Ben Achour, Richter am Afrikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Tania Groppi, Dozentin für Öffentliches Recht in Siena,  İbrahim Kaboğlu, Professor für Verfassungsrecht in Istanbul, und Adel Omar Sherif vom ägyptischen Verfassungsgericht.Noam Chomsky wird einen Vortrag über „Sprache und Verstehen“ halten. Mit dem Thema Armut beschäftigt sich Kardinal George Pell; über die Schule wird Luigi Berlinguer referieren und über Astronomie der Astrophysiker Duccio Macchetto und der Astronaut Roberto Vittori.