DIE NEUE LITERATURNOBELPREISTRÄGERIN SWETLANA ALEXIJEWITSCH
Dickköpfig um de Menschen Willen. Sie hat die Krise der postsowjetischen Welt dokumentiert und die Reportage zu einer Kunstform erhoben: Swetlana Alexijewitsch, die neue Literaturnobelpreisträgerin. Wir haben mit einem ihrer Freunde, dem weißrussischen Dichter Dmitri Strotsev, gesprochen. Er meint, diese Auszeichnung sei „eine gute Nachricht für die ganze Welt.“
„Aus den Kohlehaufen, / aus den Gräben / kommen wir selig heraus. / Küssen / eine ruhige Sonne / wie eine gute Nachricht.“ Diese Verse hat Dmitri Strotsev, der Dichter aus Minsk, 2012 verfasst. Sie sind einer Mitbürgerin gewidmet, die ihm viel bedeutet: Swetlana Alexijewitsch, die diesjährige Literaturnobelpreisträgerin. Die Nachricht, dass sie diesen Preis erhält, kam bei ihm genauso an: wie eine ruhige Sonne, eine gute Nachricht. Jetzt mischt sich die Begeisterung langsam mit Nachdenklichkeit, mit dem Bewusstwerden einer Verantwortung. Der Herausforderung, eine Aufgabe treu zu erfüllen, die gleichzeitig eine menschliche und eine künstlerische ist. Besser gesagt: künstlerisch, weil menschlich.
Wie haben Sie auf die Nachricht von dem Nobelpreis reagiert?
Die erste Regung meiner Seele war, sie weiterzuverbreiten. Ich habe den Link zu dem Artikel kopiert und auf Facebook eingestellt. Dazu musste ich einen kurzen Satz finden, der mir entspricht. Aber ich habe nicht das geschrieben, was ich hätte schreiben wollen. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, bedauere ich das.
Woran hatten Sie gedacht?
Ich hätte schreiben wollen: Christos voskres! Christus ist auferstanden. Stattdessen habe ich etwas geschrieben, was ein breiteres Publikum versteht: Zyvie Belarus! Lang lebe Weißrussland! Das ist eine Art Slogan der Opposition. Und ich habe ergänzt: Radujemsia i viesielimsia! Freuen wir uns und jubeln! Dann, als ich mit meiner Frau Anya darüber sprach, habe ich entdeckt, dass auch für sie diese Nachricht einen österlichen Gehalt hatte.
Warum haben Sie an die Auferstehung gedacht?
Ich weiß nicht, ob ich das erklären kann. Vielleicht verstehe ich es selber besser, wenn ich darüber rede.
Wer ist Swetlana Alexijewitsch für Sie?
Sie ist eine meiner Lehrerinnen. Wir haben uns vor mehr als 10 Jahren kennengelernt und seitdem sehen wir uns regelmäßig. Wir treffen uns oft in ihrem Haus in Minsk. Wir reden. In unserem Land gibt es nicht viele Persönlichkeiten, die eine so klare menschliche, staatsbürgerliche und literarische Haltung haben. Es ist eine Art Dickköpfigkeit, mit der sie an bestimmte Themen herangeht. Und sie hat eine ganz eigene Gabe der Präzision im Umgang mit Menschen.
Was meinen Sie damit?
Mich beeindruckt bei ihr die Offenheit dem Gesprächspartner gegenüber. Ihre spezielle Geduld, die bei den Leuten einen Weg zu Dingen öffnet, die sie nicht einmal selber über sich wissen. Sie hat einen unglaublichen Durst nach menschlicher Wahrheit.
Wie schafft sie es, zu diesem Punkt zu kommen?
Sie ist bereit, mit Hunderten von Menschen stundenlang zu sprechen und wie mit einer Stimmgabel ihren Geisteszustand zu erfassen. So kommt sie an die Menschen heran. Das ist keine Manipulationstechnik. Sie setzt tiefes Vertrauen und Hoffnung auf die Begegnung mit einer Person. Bei ihr gibt es keine Verschlagenheit. Man hat nie den Eindruck, dass sie einen täuscht oder einem etwas entreißen möchte. Wenn ich mit ihr spreche, dann habe ich das Gefühl, ich stehe einem Menschen wie mir selbst gegenüber. Manchmal hat sie mich um Erlaubnis gebeten, das, was wir sagten, aufnehmen zu dürfen.
Swetlana Alexijewitsch wurde 1948 in der Ukraine geboren. Ihr Vater war Weißrusse, die Mutter Ukrainerin. Als Chronistin hat sie die wichtigsten Ereignisse in der Sowjetunion seit der Mitte des 20. Jahrhunderts aufgezeichnet.Unter dem Regime von Präsident Alexander Lukaschenko wurde sie verfolgt und ihre Bücher verboten. Nach zwölf Jahren im Exil lebt sie jetzt wieder in Minsk. 2013 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2015 den Nobelpreis für Literatur. Ihre wichtigsten Werke:
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Und wer ist Swetlana Alexijewitsch für Mink und Weißrussland?
Die Antwort auf diese Frage ist die logische Fortsetzung dessen, was ich über meine Beziehung zu ihr gesagt habe. Swetlana hat eine Berufung zur Sensibilität für die Probleme des Menschen. Sie akzeptiert keine Gewalt als Methode der menschlichen Beziehungen und der Einflussnahme auf Menschen. Diejenigen, die im post-sowjetischen Umfeld leben, setzen oft auf Gewalt als einem Werkzeug des Lebens. Wir wissen selber nicht, bis zu welchem Punkt und wie leicht wir bereit sind, diese oder jene Form von Gewalt anzuwenden. Das ist ein grundlegendes Versagen unserer Menschlichkeit, das uns von der Sowjetmacht anerzogen wurde. Die jüngsten Ereignisse in Russland zeigen, dass wir uns noch nicht vollständig davon befreit haben. Auch die Tatsache, dass ein Großteil meiner Landsleute das autoritäre Regime von Lukaschenko unterstützt, ist ein Beleg dafür.
Es sind doch schon mehr als zwanzig Jahre seit dem Ende der Sowjetunion vergangen.
Von dem, was uns die Welt vermittelt, begreifen wir das am ehesten, was wir schon kennen. Und das ist in unserem Fall die Gewalt. Das Ende des Sowjetregimes kam ziemlich plötzlich. Und wir haben dann zum Beispiel die vulgärsten und grausamsten Geschäftsstrategien des Kapitalismus übernommen. Mit Begeisterung haben wir sie angenommen, als seien sie die Freiheit selbst. Sogar als die Kirche wieder aus der Deckung kam, waren die Priester, die man am ehesten verstand, die autoritären und despotischen. In diesem Umfeld ist Frau Alexijewitsch keine Kompromisse eingegangen. Und ich glaube, solche Zeugen brauchen wir hier.
Wie wird ihre Haltung hier wahrgenommen?
Sie ist unbequem für alle. Die Weißrussen wollen, dass sie auf Weißrussisch schreibt; die Christen wollen, dass sie offen ihre religiöse Haltung bekennt; die Russen wollen nicht, dass sie Putin kritisiert. Sie erklärt mit großer Geduld immer wieder ihren Standpunkt: Ihrem weißrussischen Vater ist sie dankbar für die Erziehung, die er ihr hat zukommen lassen. Sie liebt den menschlichen Typus des einfachen Weißrussen. Und sie fühlt sich der Ukraine nahe, weil ihre Mutter Ukrainerin war. Sie sagt, am Denkmal für die Gefallenen des Majdan in Kiew habe sie geweint. Der großen russischen Literatur ist sie zu Dank verpflichtet. Sie liebt die russische Welt, aber nicht die Stalins und Putins.
Eine Fundamental-Oppositionelle also …
Nein. Sie kritisiert auch die Opposition gegen das aktuelle Regime. Sie meint, die sei blind und unfähig, in irgendeine Richtung voranzukommen. Nicht einmal die Opposition schafft es, konkrete Schritte aus der Abhängigkeit von der Gewalt zu gehen. Auch die, so sieht Swetlana es, wartet nur auf den richtigen Moment, um ihre eigenen gewaltsamen Methoden anzuwenden.
Welche Alternative gibt es?
Für Swetlana hat auch das Leben eines einfachen Soldaten einen unendlichen Wert. Ihr gelingt es, in das eigentliche Herz des Leids vorzudringen. Sie verschließt ihren Blick nicht vor dem Schmerz der Menschen. Ihr erstes Buch, Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, ist eine überraschende Beschreibung des Krieges aus dem Blickwinkel der Frauen. Sie sagt: Die Männer können nicht über die Wahrheit des Krieges sprechen, sie erschaffen Mythen. Die Frauen dagegen beschreiben durch alltägliche Details das, was wirklich vorgefallen ist. In dem Buch Zinkjungen über den Krieg in Afghanistan in den 80er-Jahren ist sie dem Schicksal von Soldaten, Invaliden und deren Müttern nachgegangen. Sie hat die schmerzhaftesten und signifikantesten Begebenheiten ausgewählt und damit einen richtigen Skandal ausgelöst. Dann kam Tschernobyl und sie ist wieder ins Herz der Tragödie vorgestoßen.
Woran merkt man, dass sie eine andere Menschlichkeit besitzt?
Zu Beginn dieses Jahrhunderts habe ich eine Veranstaltung in einem großen Kino in Minsk moderiert. Swetlana hatte die Witwen der Feuerwehrleute und Polizisten, die durch die radioaktive Strahlung bei der Katastrophe gestorben waren, auf die Bühne eingeladen. Ich habe gesehen, wie diese Frauen ihr vertrauten und dankbar waren, nur weil sie ihnen in dieser tragischen Zeit nahe war.
Und als Schriftstellerin? Worin besteht da ihre Größe?
Für einen guten, präzisen und aufmerksamen Schriftsteller hätte ein einziges dieser Themen, eine solche Erfahrung gereicht: der zweite Weltkrieg oder Afghanistan oder Tschernobyl. Aber sie hat die überraschende Fähigkeit, die Aufmerksamkeit wachzuhalten. Außerdem ihre Methode: Sie schreibt und publiziert nicht nur Monologe, sondern sie bereitet Zeugnisse schriftstellerisch auf. Sie beschreitet einen schmalen Grat zwischen der Dokumentation und einem künstlerischen Text. Manchmal sagen die Leute: „Das habe ich nicht gesagt“, oder: „So habe ich das nicht gesagt“. Aber das bedeutet nicht, dass sie es nicht gesagt haben. Sie haben ihre liebe Mühe mit der Art, wie sie in einem künstlerischen Werk dargestellt werden. Es kann passieren, dass man sich in einem Foto nicht wiedererkennt. Oder man ist nicht bereit, sich so zu akzeptieren, wie man auf diesem Bild erscheint. Es kann ein Schock sein oder eine Überraschung. Swetlana musste erleben, dass einige der Mütter von Afghanistan-Soldaten sie verklagt haben. Damit ging auch eine ziemlich aggressive Pressekampagne gegen sie einher. Sie brauchte großen Mut und große Liebe zu diesen Frauen. Und es ist ihr gelungen, ihrer Haltung treu zu bleiben und gleichzeitig die Frauen nicht noch mehr zu verletzen.
Was kann die Lektüre der Werke der neuen Nobelpreisträgerin jemandem geben, der sie noch nicht kennt.
Die Menschen wollen dem Schmerz oft nicht ins Auge schauen. Sie neigen dazu, das an andere zu delegieren. Dadurch entsteht ein weiter Raum für Manipulationen. Man überträgt diese Aufgabe jemand anderem und ist bereit, dafür Kompromisse einzugehen. Frau Alexijewitsch mahnt uns, den Blick nicht von den Leidenden abzuwenden. Sie sieht nur in der Begegnung mit der Wirklichkeit die Chance, unsere Krise zu überwinden. Außerdem sind das für sie nicht nur Wunden, es kann auch eine große Freude sein. Vor ihren Augen haben sich schwerwiegende Dinge wieder abgespielt, und sie war gezwungen hinzuschauen. Das heißt, ihre Aufgabe war es, ohne Angst auf die Menschen zuzugehen. Nicht Figuren zu erschaffen, sondern sie kennenzulernen. Sie hat keine Gruppen von Opfern erfunden, keine Kategorien von Menschen, die wir zu Opfern machen können auf unserem Weg. Sie lehrt uns, niemanden abzulehnen, alle anzunehmen und uns zu bemühen, niemanden zu verlieren. Sie wird nie eine Schriftstellerin der großen Zahlen sein. Aber dass dank des Nobelpreises mehr Menschen ihre Bücher lesen werden, ist eine gute Nachricht für die Welt.
Wissen Sie, woran sie gerade arbeitet?
Sie hat mir von zwei Büchern erzählt. Es handelt sich um Material, dass sie seit einiger Zeit sammelt und dem sie sich jetzt aktiv widmet. Eines ist über die Liebe, das andere über das Alter. Über die Schönheit des Menschen, der liebt, und über die Schönheit des Menschen, der alt wird.