DAS CHRISTLICHE ZEUGNIS:
Menschen zwischen mir und Gott

Worin besteht das „christliche Zeugnis“? Und wieso ist es heute so dringend nötig? Der Theologe Prades erläutert, wie man die christliche Botschaft den Menschen unserer Zeit verkündigen kann. Und wieso eine Begegnung manchmal das ganze Leben verändert.
Alessandra Stoppa

„Menschen müssen mir sagen, was Gott gesagt hat. Ich hätte es lieber persönlich von Gott gehört. Es hätte ihn kein bisschen mehr Arbeit gekostet, und mir wäre jegliche Versuchung erspart geblieben … immer wieder menschliche Zeugnisse … zu viele Menschen zwischen mir und Gott.“ So formulierte Jean Jacques Rousseau sein Unbehagen über die Herausforderung, die das Christentum an jeden Menschen stellt. Sie hat das abendländische Denken 2.000 Jahre lang durchzogen und trifft nun auf die überreizten Nerven unserer Zeit.

Dass „sie sahen und glaubten“, ist ein Skandal, wenn Glauben und Wissen Gegensätze sind, wenn man nur das glaubt, was man nicht sieht und nicht weiß. Die Moderne lehnt den Wert des Zeugnisses im Namen eines absolut gesetzten Verstandes und einer von jeglicher Autorität emanzipierten Freiheit ab. Jemandem zu vertrauen ist nicht Wissen, sondern ein Gehorsam, der dem Menschen nicht gemäß ist. Dies gilt noch mehr, wenn das, was bezeugt wird, der christliche Glaube ist: eine Begegnung in Raum und Zeit, von Mensch zu Mensch, die universelle Vernünftigkeit und Wahrheit beansprucht. Joseph Ratzinger schreibt in seiner Einführung in das Christentum: „Wer heute über die Sache des christlichen Glaubens vor Menschen zu reden versucht, die nicht [...] im Inneren des kirchlichen Redens und Denkens angesiedelt sind, wird sehr bald das Fremde und Befremdliche eines solchen Unterfangens verspüren.“

Der Theologe Xavier Prades, Madrid

Kann die Verkündigung des Christentums trotzdem helfen, die Probleme unserer Gesellschaft zu lösen? Und wie kann man die christliche Botschaft den Menschen unserer Zeit verkündigen? Das haben wir Javier Prades López gefragt, den Rektor der Theologischen Hochschule San Dámaso in Madrid. Er hat soeben ein Buch mit dem Titel Dar testimonio. La presencia de los cristianos en la sociedad plural [Zeugnis geben. Die Präsenz der Christen in der pluralistischen Gesellschaft] veröffentlicht. Diese anthropologische, philosophische und theologische Abhandlung ist das Ergebnis langjähriger Studien zum christlichen Zeugnis. Und das ist keineswegs ein nebensächliches Thema. Es geht vielmehr um die Beziehung zwischen Vernunft, Wahrheit und Freiheit.

Warum ist Ihnen dieses Thema so wichtig?
Ich hatte immer den Wunsch, das Originäre und Einzigartige des christlichen Vorschlags besser zu verstehen. Durch ein Ereignis in der Geschichte, durch eine Begegnung soll sich der Sinn, die Wahrheit und das Heil aller Menschen mitteilen? Letztlich möchte ich mein eigenes Leben besser verstehen: Wieso kann eine Begegnung, die ich mit 17 Jahren gemacht habe, die Ausrichtung meines ganzen Lebens verändern, ihm einen neuen Horizont eröffnen und mich einen Weg einschlagen lassen, von dem ich vorher nie geträumt hätte? Dies geschah nicht aufgrund einer Analyse oder aufgrund meines Nachdenkens, sondern tatsächlich durch eine Begegnung, von der ich mit der Zeit festgestellt habe, dass sie unzweifelhaft meinem Wesen als Mensch entspricht. Und zwar so sehr, dass ich, selbst wenn ich hundertmal geboren würde, mich immer wieder nach dieser Begegnung sehnen würde.

Wieso ist das christliche Zeugnis heute so wichtig?
Wenn wir als Menschen, die mit anderen zusammenleben, uns die gegenwärtige Gesellschaft anschauen – das sage ich als Westeuropäer –, dann erkennen wir eine Fülle ungelöster Spannungen. Ein Hauptproblem ist die Spannung zwischen dem Wunsch nach Einheit, der sich zum Beispiel in der Globalisierung widerspiegelt, und der Verteidigung von Elementen bestimmter gesellschaftlicher Traditionen, wie sie im Multikulturalismus geschieht. Solche Phänomene müssen wir aufmerksam beobachten und versuchen, sie zu deuten.

Können Sie uns die Spannung zwischen diesen Phänomenen besser erklären?
Es gibt unzweifelhaft das Bedürfnis nach Universalität. Dies sieht man an den Bemühungen, allen gleiche Rechte und Chancen, Gerechtigkeit, wirtschaftlichen Fortschritt und so weiter zu garantieren. Doch diese Bemühungen bergen die Gefahr, dass sie unpersönlich werden und andere Dimensionen der menschlichen Erfahrung ausblenden, wie zum Beispiel die Zugehörigkeit zu bestimmten Dingen, die die eigene Identität ausmachen: die Sprache, die Familie, die Kultur ... Auch das sind grundlegende Bedürfnisse. Das Problem wird nicht dadurch gelöst, dass man das eine oder das andere ausblendet und partielle Lösungen sucht. Mir scheint ein interessanterer Weg, davon auszugehen, dass die grundlegende menschliche Erfahrung beides braucht: den Wert jedes Einzelnen, überall auf der Welt, ohne jegliche Diskriminierung, und gleichzeitig eine gemeinschaftliche Dimension, eine Zugehörigkeit, die den Einzelnen nicht erstickt, sondern ihn wachsen lässt. Diese Analyse ist dynamisch, das ist keine Theorie, sondern man entdeckt es, indem man lebt. Im Handeln enthüllt sich mir mein Bedürfnis nach Universalität und gleichzeitig mein Bedürfnis nach Bindungen, die es mir erlauben, wahrhaft ich selbst zu sein.

Was hat das mit dem Christentum zu tun? Was kann das Christentum dazu beitragen?
Eine Erfahrung wie die christliche beweist, wenn sie ihrer Natur treu bleibt, dass sie dem Menschen entspricht, da sie keinen dieser beiden Spannungspole ausblendet. Sie beinhaltet eine Zugehörigkeit – zu Christus und der Kirche –, die die Erfahrung des Menschlichen universell macht, und sie stärkt gleichzeitig das Selbstbewusstsein des Einzelnen. Der Glaube lässt uns spüren, dass unser Ich einen unendlichen Wert hat, ohne dass wir uns irgendwelchen Schemata unterordnen müssten, die tödlich für das Ich wären. Gleichzeitig wird deutlich, dass das Ich seine Erfüllung in einer Zugehörigkeit findet, so dass es in letzter Konsequenz sogar sein Leben für andere hingibt. Eine gelebte christliche Erfahrung ist der beste Beitrag zum Fortschritt unserer Gesellschaften.

Das Paradox der westlichen Welt besteht darin, dass die beiden großen Errungenschaften der Neuzeit – Vernunft und Freiheit – einander auszuschließen scheinen.

In der Tat hat die Neuzeit sich eine Vernunft auf die Fahnen geschrieben, die völlig unbeeinflusst, absolut neutral und steril sein muss, um ihre Aufgabe erfüllen zu können. Ähnlich verhält es sich mit dem langen Kampf um die Freiheiten und Rechte des Einzelnen, die in schier unendlichen Wahlmöglichkeiten gipfeln. Die letzte Stufe der Freiheit ist die absolute Autonomie. Aber es gelingt uns nicht, diese beiden Dimensionen, Vernunft und Freiheit, auf einen Nenner zu bringen. Wir müssen daher versuchen, zu einem Menschenbild zurückzukehren, bei dem die Vernunft nicht ab-solut, also losgelöst von allem anderen besteht und die Freiheit nicht reiner Wille zur Macht und Selbstbehauptung ist. Die Erfüllung der Freiheit erfordert, dass man sich öffnet, etwas annimmt, jemanden umarmt. Deshalb ist der Beitrag des Zeugen entscheidend, denn er bietet der Freiheit eine Botschaft, einen vernünftigen Vorschlag an.



Dann ist die Rolle des Zeugnisses nicht in erster Linie eine religiöse ... sondern eher eine Form der Erkenntnis?
Zunächst ist es eine Weise, die Vernunft zu gebrauchen. Das Zeugnis ist eine entscheidende Form der Mitteilung des Wahren unter Menschen. Menschliche Beziehungen gründen auf Vertrauen. Das müssen wir wieder als eine Eigenschaft der Vernunft – und nicht etwas für sie Hinderliches – wahrnehmen. Ich kann nicht erkennen, wer der andere ist, wenn er mir nicht frei und aufrichtig sein Herz öffnet und ich das nicht frei und aufrichtig annehme. Daher ist das Wiederentdecken des Zeugnisses selbst ein Beitrag für das gesellschaftliche Zusammenleben, für ein Zusammenleben in Gerechtigkeit und Frieden. Wenn wir nicht wollen, dass sich nur isolierte Individuen gegenüberstehen und der jeweils Mächtigere sich durchsetzt, dann sollten wir eine Gesellschaft anstreben, bei der der zwischenmenschliche Austausch sowohl einen erkenntnistheoretischen als auch einen affektiven Wert hat. Als Zweites ist festzuhalten: Das Zeugnis ist jene Weise, die das Göttliche gewählt hat, um sich in der Geschichte mitzuteilen. Wenn man sich also den Wert des christlichen Zeugnisses wieder bewusst macht, dann versteht man auch das Verhältnis von Vernunft und Glaube, von Glaube und Leben, von Wahrheit und Freiheit besser. Man versteht sogar besser, was der Mensch ist.

Besonders heute, da die meisten bezweifeln, dass der Mensch zur Wahrheit gelangen kann oder dass es überhaupt eine Wahrheit gibt. Welche Einsichten haben Sie noch über das christliche Zeugnis gewonnen?
Vor allem bin ich mir bewusst geworden, wie neu das eigentlich war: Gott hat eine Methode gewählt, die die relationale Struktur der Weitergabe von Erkenntnis zwischen Menschen aufwertet. Er verwendet sie, um uns eine an sich unvorstellbare Wirklichkeit zu vermitteln. Das Zeugnis Jesu wird immer von Zeichen und Wundern begleitet. Dies geschieht, um die Mitteilung einer Wirklichkeit, die jedes menschliche Maß – auch das religiöse, nicht zuletzt das des Volkes Israel – übersteigt, möglich und vernünftig zu machen. Das gleiche ist auch uns geschehen: Eine Begegnung hat uns dazu gebracht, unserem Leben eine neue Richtung zu geben, und unsere Denkweise verändert. Aber es war immer eine Mitteilung, die eine vernunftgemäße Zustimmung unserer Freiheit verlangte.

Wie vollzieht sich das christliche Zeugnis? Was ist sein Wesen?

Vor allem zeigt es ein Wesensmerkmal der Offenbarung und ihrer Weitergabe: Der Glaube ist ein Akt des Zeugnisses. Er nimmt in Freiheit die Wahrheit an, die vom Geist Gottes frei geoffenbart wurde. Der Zeuge wird für den Gesprächspartner zu einer Gelegenheit, dem lebendigen Christus, der fleischgewordenen Wahrheit Gottes, zu begegnen. Und jeder Umstand kann eine Gelegenheit für diese Begegnung sein. Das Zeugnis hat ein sakramentales Fundament (die Taufe). Ihm geht stets eine göttliche Initiative (ein Ruf, eine Berufung) voraus. Daher ist es eine Antwort. Es lässt sich nicht einfach auf die Lebensgeschichte des Zeugen zurückführen, da es stets auf eine andere Wirklichkeit, nämlich auf Gott verweist, ausgehend von geschichtlichen Tatsachen. Und es bezieht schließlich die ganze Person mit Verstand, Gefühl und Willen ein, denn es ist gleichermaßen ein Akt der Erkenntnis und ein moralischer Akt. Außerdem ist es immer ein einziger Akt, der aus Geste und Wort besteht: das überraschende Sich-Ereignen des gesprochenen Wortes.

Also ist das Zeugnis niemals rein menschlich?
Nein, es ist wirksames Zeichen des Göttlichen. Zeuge Christi zu sein ist Ausdrucks unseres Seins in Christus. Alle Dimensionen des christlichen Lebens, Liturgie, Gemeinschaft, Dienst am Nächsten und Lehre, können das Geheimnis Gottes weitergeben. Darüberhinaus gibt es Akte, die in der kirchlichen Tradition ausdrücklich als „Zeugnis“ angesehen werden. Der äußerste ist das Martyrium. Das ist die Form, seinen Glauben bis zu der Konsequenz zu bekennen, dass man denkt: Bevor ich dir die Wahrheit vorenthalte, lasse ich mich lieber von dir umbringen.

Johannes Paul II. hat gesagt: „Deshalb fasziniert uns bis heute das Zeugnis der Märtyrer, es weckt Zustimmung, stößt auf Gehör und findet Nachahmung. Das ist der Grund, warum man auf ihr Wort vertraut: Man entdeckt in ihnen ganz offensichtlich eine Liebe, die keiner langen Argumentationen bedarf, um zu überzeugen, da sie zu jedem von dem spricht, was er im Innersten bereits als wahr vernimmt und seit langem gesucht hat.“ (Fides et ratio, 32)

Don Giussani hat das mit dem Bild des „Funkens“ erklärt, der überspringt. Der Mitteilung der Wahrheit geht zunächst etwas voraus, das einen berührt, das die Einfachheit des Herzens weckt. Eine Armut des Geistes, die einem das erstrebenswert erscheinen lässt, was einem der andere bezeugt, und durch die man sich schließlich sogar selbst anders sieht.



Heutzutage ist man versucht zu meinen, das Zeugnis „von Mensch zu Mensch“ reiche nicht aus. Liegt das daran, dass der Erkenntnisgehalt der christlichen Begegnung nicht mehr gesehen wird?
Keine sozio-politische Revolution kann den unausweichlichen Primat der menschlichen Person ersetzen, zu dem man durch die Begegnung mit Christus in der Kirche gelangt. Der Zeugnischarakter des Glaubens ist daher ein entscheidendes Kriterium, wenn man den Beitrag zum sozialen Leben bewerten will. Sowohl im Handeln des Einzelnen wie auch bei den Initiativen der Gemeinschaft ist das Gesetz dieser Mitteilung die Liebe. Nur wer sich selber hingibt, um den anderen zu bejahen, kann zur Gelegenheit für eine Begegnung werden, die das Leben verändert. Nur so kann man einen Raum eröffnen, der den anderen mit der Wahrheit Gottes in Kontakt bringt.

Wie schafft man es, den Erfolg des Zeugnisses nicht an der Reaktion zu messen, die es hervorruft?
Beim Zeugnis geht es nicht darum zu messen. Ich wundere mich selber, wenn ich sehe, dass der andere staunt. Ich spüre, dass in ihm etwas erwacht ist, vielleicht obwohl wir nach wie vor unterschiedlicher Meinung sind. Aber irgendetwas hat schon begonnen, seine Selbstwahrnehmung zu verändern. Man sollte nicht versuchen zu bewerten, was man, salopp gesagt, „nach Hause tragen kann“, sondern dem folgen, was geschieht. Wenn es ein christliches Zeugnis ist, dann ist es sicher nicht etwas, das man messen kann.

Ist deswegen das Martyrium der Höhepunkt?
Der Märtyrer gibt alles hin, er verschenkt sich selbst. An den anderen. Selbst wenn der andere ihn umbringt. Das Zeugnis kostet nichts, es ist ungeschuldet. Und auch wenn man sein Blut nicht zu vergießen braucht, gibt es da einen Überschuss, ein „Mehr“. Dieses „Mehr“ öffnet einen Raum für den Dialog, erweckt den Wunsch, sich wiederzusehen; es bewegt, es setzt einen Prozess in Gang. Ich teile dem anderen den Inhalt des Glaubens mit, ohne irgendwelche Abstriche zu machen. Und der andere wird das aufnehmen, wenn in ihm eine Bewegung „darauf zu“, ein Inter-esse entsteht. Der Funke generiert eine Armut des Herzens, die ihn darauf vorbereitet, das Neue, das er hört, aufzunehmen. Daher sagte Paul VI., es werde keine Lehrer mehr geben, wenn es keine Zeugen mehr gibt.


Wenn das Wort, das man ausspricht, eine solche Wirkung zeigt, dann ist das auch für einen selbst ein Geheimnis ...
Ja, wenn das geschieht, dann staune ich genauso wie der andere. Und ich frage mich: wieso? Was hat er gesehen?

Kann man also sagen, dass das Zeugnis mit der Bekehrung zusammenfällt?
Es führt zu der „Erneuerung des Denkens“, von der der heilige Paulus im Römerbrief spricht und von der ich glaube, dass sie der Schlüssel zum Verständnis des Zeugnisses ist: „Angesichts des Erbarmens Gottes ermahne ich euch, meine Brüder, euch selbst als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott gefällt; das ist für euch der wahre und angemessene Gottesdienst. Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist.“ (Röm 12,1-2) Josef Zveřina hat das sehr schön erklärt in seinem Brief an die Christen des Abendlandes. Wenn man meint, das Zeugnis bestehe in einem „guten Beispiel“, dann verkürzt man es. Das Zeugnis ist Hingabe seiner selbst. Ganzhingabe: „euch selbst ... darzubringen“. Das ist Zeugnis, jeden Tag, in jedem Augenblick, in der Öffentlichkeit, oder wenn man alleine ist. Was bedeutet es, Zeugnis für Gott abzulegen? Sein Leben als Hingabe zu leben. Ein Leben, das in der Taufe geboren wird, in der Welt gelebt wird, vor allen, das alles einschließt, bis zum Opfer seiner selbst. Der „Gottesdienst“, von dem Paulus spricht, ist nicht nur der Gottesdienst im Tempel, der vom alltäglichen Leben getrennt ist. Der christliche Gottesdienst ist Eucharistie: Er weitet den sakramentalen Gestus auf das Opfer des eigenen Lebens aus. Und das ist, wie Paulus sagt, „wahr und angemessen“ für alle. Damit wird alles neu ...