„WAS IST LOS MIT DIR, EUROPA?“
„Was ist los mit dir, Europa?“, hatte Papst Franziskus bei der Verleihung des Karlspreises am 6. Mai 2016 gefragt. Professor Joseph Weiler, Präsident des Europäischen Hochschulinstituts, versucht eine Antwort*Eure Heiligkeit, in großer Demut möchte ich versuchen, auf Ihre Frage zu antworten, die so einfach, so direkt, so „typisch Franziskus“ ist.
Doch vorher erlaube ich mir, die Symbolkraft der Tatsache zu unterstreichen, dass Ihnen nicht nur der Karlspreis verliehen wurde, sondern „ganz Europa“ gekommen ist, um das zu feiern. Es sind erst wenige Jahre vergangen seit jener geradezu absurden Debatte über die Verankerung eines Bezugs auf die christlichen Wurzeln in der europäischen Verfassung. Er sollte neben dem – schon akzeptierten – Bezug auf die griechisch-aufklärerische Tradition stehen. Dieser Vorschlag, der mir ganz natürlich und von der Verfassung her mehr als legitim erschien, wurde abgelehnt. Dabei ist die europäische Seele, ihr Gespür für Werte doch eindeutig sowohl in Athen als auch in Jerusalem verwurzelt. So sehe ich in der Verleihung des Karlspreises an Sie nicht nur eine Ehrung und den Ausdruck der Zuneigung gegenüber Ihrer Person, sondern auch ein, wenn auch etwas verspätetes, Anerkennen dieser Tatsache.
Wir beide stehen in sehr alten Traditionen. Die Ihrige, die christliche, ist 2.000 Jahre alt, die meinige, die jüdische, fast 5.000. Wir sind es gewohnt, Erklärungen für die Verfasstheit des Menschen über lange Zeiträume zu suchen. So umspannt die Antwort, die ich auf Ihre Frage gerne anbieten möchte, drei Prozesse, die als Reaktionen auf den Zweiten Weltkrieg begonnen haben und in den letzten Jahren weiter ausgereift sind.
Der Erste. Aus allgemein verständlichen Gründen wurde das Wort „Patriotismus“ nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu zum Schimpfwort. Der Missbrauch dieses Wortes und des dahinterstehenden Konzeptes durch das Naziregime (und nicht nur durch dieses) führte letztlich dazu, dass „Patriotismus“ in unserem kollektiven Bewusstsein „verbrannt“ war. Und in vielerlei Hinsicht ist das auch gut so. Aber wir zahlen einen hohen Preis dafür, dass wir dieses Wort – und das Gefühl, auf das es verweist – aus unserem psychologischen und politischen Wortschatz verbannt haben. Denn der Patriotismus hat eigentlich eine noble Seite: die Disziplin der Liebe, die Pflicht, über unser Vaterland und Volk zu wachen, die staatsbürgerliche Verantwortung gegenüber dem Kollektiv. In der Tat ist der wahre Patriotismus das Gegenteil des Faschismus: „Wir gehören nicht dem Staat, es ist der Staat, der uns gehört.“ Dieser Begriff von Patriotismus ist integraler Bestandteil der republikanischen Version von Demokratie.
Nun bezeichnen wir uns zwar als „Republik“. Aber eigentlich sind unsere Demokratien de facto keine Republiken. Da ist auf der einen Seite der Staat, die Regierung, und auf der anderen Seite stehen wir. Wir sind wie die Aktionäre eines Unternehmens. Wenn die Geschäftsführung der AG, hier „Republik“ genannt, keine politischen und materiellen Dividenden ausschütten kann, dann wechseln wir das Management aus durch das Votum einer Aktionärsversammlung, die wir „Wahlen“ nennen. Egal, was in unserer Gesellschaft nicht funktioniert, wir wenden uns an die Regierung, genauso wie wir es machen, wenn zum Beispiel unsere Internetverbindung nicht funktioniert: „Wir haben doch bezahlt (die Steuern), und der Service, den wir dafür bekommen, ist katastrophal.“ Immer ist der Staat schuld, niemals wir. Das ist eine Kunden-Demokratie, die uns nicht nur die Verantwortung für unsere Gesellschaft und für unser Vaterland abnimmt, sondern auch für unser Menschsein.
Der zweite Prozess, der erklärt, was mit Europa geschehen ist, wurzelt wiederum in einer Reaktion auf den Krieg und ist eigentlich paradox. Wir haben sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene die ernsthafte und unwiderrufliche Verpflichtung übernommen – die auch in unseren Verfassungen verankert ist –, die Grundrechte des Einzelnen auch gegen eine mögliche Tyrannei der Mehrheit zu schützen. Allgemeiner gesagt bedeutet das, dass sich unsere politischen und juristischen Diskussionen vor allem um die Rechte drehen. Die Rechte eines italienischen Staatsbürgers werden geschützt durch die italienischen Gerichte und vor allem durch das Verfassungsgericht in Rom. Aber auch durch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und dann noch durch den Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Da kann man schon mal den Überblick verlieren.
Bedenken wir, wie sehr es heutzutage in der politischen Diskussion um die „Rechte“ geht; immer und überall wird darüber gesprochen. Natürlich ist das außerordentlich wichtig. Ich möchte nie in einem Land leben, in dem die Grundrechte nicht wirksam geschützt sind. Aber auch dafür zahlen wir – wie für die Verbannung des „Patriotismus“ – einen hohen Preis. Eigentlich sogar zwei.
Die edle Kultur der Rechte rückt zwar das Individuum ins Zentrum. Aber sie macht es nach und nach, beinahe unmerklich, zu einem ganz auf sich selbst zentrierten Individuum. Und der zweite Effekt dieser „Kultur der Rechte“ – die für alle europäischen Bürger gleichermaßen gelten – ist eine Einebnung der politischen und kulturellen Unterschiede und damit der jeweiligen nationalen Identität.
Der Begriff der Menschenwürde – die Tatsache, dass er als Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist – enthält zwei Aspekte gleichzeitig. Einerseits, dass wir alle in unserer Würde als Menschen grundsätzlich gleich sind: reiche und arme, Italiener und Deutsche ... Auf der anderen Seite verlangt die Wahrung der Menschenwürde aber auch die Anerkennung, dass jeder von uns ein Universum für sich ist, unterschieden und verschieden von jedem anderen Menschen. Und das gleiche gilt auch für unsere Gesellschaften. Wenn dieses Element der Verschiedenheit eingeschränkt wird, rebellieren wir.
Der dritte Prozess der erklärt, was mit Europa los ist, ist die Säkularisation. Damit wir uns richtig verstehen: Ich meine diese Beobachtung nicht als Rüge im Sinne des Evangeliums. Ich beurteile eine Person nicht nach ihrem Glauben oder ihrem Mangel an Glauben. Auch wenn ich mir die Welt nicht ohne den Herrn vorstellen kann – Er sei hochgepriesen und gebenedeit –, so kenne ich doch zu viele abscheuliche Gläubige und zu viele höchst moralische Atheisten ... Aber das Problem der Säkularisation besteht darin, dass eine ehemals universale Stimme, bei der der Akzent auf der Pflicht und nicht nur auf dem Recht lag, auf der persönlichen Verantwortung für das, was geschieht, und nicht auf einem instinktiven Rekurs auf die staatlichen Institutionen, fast vollständig aus dem Leben der Gesellschaft verschwunden ist.
Auch dieser Prozess hat mit dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Wer von uns hat nicht, nachdem er in Auschwitz die Berge von Schuhen tausender ermordeter Kinder gesehen hatte, die Frage gestellt: Gott, wo warst du? Und verzeihen Sie mir, Heiligkeit, wenn ich sage, dass ich nicht sicher bin, ob die Kirche zwischen dem Ende des Krieges und dem Konzil diese Glaubenskrise nicht in gewisser Hinsicht noch verstärkt hat ...
Es hat Jahrzehnte gedauert, bis diese drei Prozesse ihre „sauren Trauben“ (vgl. Jes 5,2) hervorgebracht haben. Die Folgen sind überall greifbar, aber sie sind noch schwerwiegender im Bezug auf die Europäische Union.
Abgesehen von ihren wirtschaftlichen Zielen ist die Europäische Union als „Schicksalsgemeinschaft“ konzipiert worden. Unser Schicksal als Europäer, die wir von unserer Geschichte – so schrecklich wie edel zugleich – geprägt sind, von den Werten, die wir ererbt haben, von unserer geografischen und kulturellen Nähe zueinander, erfordert ein Miteinander, eine Verantwortungsübernahme und Solidarität, die über die normalen Beziehungen zwischen Nationen weit hinausgehen. Ich möchte hier keine Friedenspredigt halten, aber ich stelle einfach fest, dass auch der Friede hier in Europa ein anderer ist: Es ist ein Friede, der auf Vergebung und Menschlichkeit basiert, und nicht nur auf Interessen und Garantien. Dabei würde ich sogar zu sagen wagen, dass der Begriff „Schicksalsgemeinschaft“ ein bisschen dem der Ehe ähnelt.
Und heute? Ist die Europäische Union etwas ganz anderes geworden. Sie wird als Bedrohung der nationalen Identität empfunden und ist zu einer Zweckehe verkommen, zu einer Union, die nach Vor- und Nachteilen kalkuliert wird. Die Solidarität besteht in Zeiten des Wohlstands, solange sie nicht auf die Probe gestellt wird, doch sie schwindet in Zeiten der Not. Es ist eine Union der Rechte, aber nicht der Pflichten.
Ich persönlich, Eure Heiligkeit, bin erst seit kurzem Italiener. Vielleicht kann ich mich deshalb ganz unbefangen als einen „italienischen Patrioten“ bezeichnen und dieses Land lieben, das mich adoptiert hat. Und da ich Italiener bin, bin ich erst recht Europäer. Ich verliere die Hoffnung nicht. Denn ob wir es wollen oder nicht, wir sind eine „Schicksalsgemeinschaft“ in Europa. Welches Schicksal es sein wird, das hängt von uns ab. Aber im Guten wie im Schlechten können wir niemals sagen, wir seien keine Europäer.
*Europäisches Hochschulinstitut