Rhein-Meeting 2017 - Christus oder Sisyphos

Das diesjährige Rhein-Meeting stand unter dem Motto: „Ein Mensch zu sein, das interessiert mich“.
Christoph Scholz

Marcus Schlemmer weiß, wie provokant seine Aussage ist. Der Chefarzt der Palliativmedizin am Krankenhaus Barmherzige Brüder in München will sie dennoch bewusst an das Ende seiner Ausführungen stellen: „Ich behaupte, dass die ärmste Krankenschwester in Kalkutta, die für einen Sterbenden betet und ihn begleitet, eine bessere Lebensqualität hat, als Gunther Sachs sie jemals hatte.“ Das ist gleichsam ein Kontrapunkt zu oder der Versuch einer Antwort auf jene Herausforderung, die der französische Existenzialist Albert Camus der Moderne in paradigmatischer Weise in seinem Roman Die Pest von 1947 gestellt hat. Dort ringt sein alter Ego, der Arzt Bernard Rieux darum, dem Leben angesichts des Leidens einen Sinn abzugewinnen. „Ein Mensch zu sein, das interessiert mich“ – das ist der Grund für sein Ringen.

 Rhein-Meeting 2017. Dr. Markus Schlemmer (Foto: Elisa Zocchi)

Dieses Interesse leitete auch die Initiatoren des Rhein-Meetings, als sie „mit einigen Freunden das Kulturtreffen ins Leben gerufen haben“, wie dessen Präsident, Dr. Gianluca Carlin, in seiner Einführung erklärte. In diesem Jahr stand das dreitägige Treffen im Schatten des Kölner Doms unter der Fragestellung: Wie kann ich Mensch sein in den Herausforderungen von Gesellschaft und Politik, in der Arbeitswelt? Was sagt die Wissenschaft dazu und was sagt der Glaube? Was denke ich? „Das eigene Menschsein ist die erste Gegebenheit – und doch so wenig selbstverständlich“, betonte P. Carlin, der zur Priesterbruderschaft der Missionare des heiligen Karl Borromäus gehört.

Der Erzbischof von Moskau, Paolo Pezzi
, verdeutlichte in seinem Grundsatzreferat, wie tief diese Frage nach dem eigenen Menschsein in das Herz eines jeden eingeschrieben ist, ja, dass das Herz letztlich aus dieser Sehnsucht nach Sinn besteht. Dazu zitierte er Verse des sowjetischen Vorzeigedichters Wladimir Majakowski (1893 – 1930), den offenbar selbst die verheißungsvollste unter den modernen Utopien nicht befriedigen konnte. „Es ist die Schönheit des Kosmos, die diese zutiefst religiöse Seele inspiriert hat“, sagte Pezzi über den Poeten des Futurismus. Vor allem aber sei es die ebenso leidenschaftliche wie schmerzlich unerwiderte Liebe zu Lilja Brik gewesen, die Majakoski bewusst gemacht habe, dass der Mensch nach etwas strebt, das nur ein Anderer erfüllen kann. Diese Liebe inspirierte ihn offenbar ähnlich wie Leopardi „das Bildnis einer schönen Frau, gemeißelt in ihr Grabmal“. Pezzi betonte aber nicht nur, wie sehr der Mensch von dieser Sehnsucht geprägt ist, sondern auch wie groß die Überraschung ist, wenn er der Antwort auf dieses Sehnen begegnet: „Was mich am meisten erstaunt, ist, dass Gott meine Bestimmung am Herzen liegt.“

Nur durch eine Begegnung, nur durch das Auftreffen auf eine Gegenwart kann der Mensch sich selbst entdecken. Denn der Mensch ist wesenhaft Beziehung – auch in Gesellschaft und Politik, wie der Verfassungsrechtler am European University Institute (EUI) in Florenz, Luís Miguel Poiares Maduro verdeutlichte. Politik ist nicht in erster Linie Sache des Staates oder der Regierung, sondern des einzelnen Menschen, der den anderen braucht um zu leben und der diesem Zusammenleben Regeln geben will. Dass dieses Bemühen um ein angemessenes Miteinander wiederum politische Leidenschaft und Berufung sein kann, verdeutlichte Jochen Ott, der stellvertretende Vorsitzende der SPD in Nordrhein-Westfalen.



Auch das Rhein-Meeting selbst erwies sich einmal mehr als ein Ort der Begegnung, an dem erfahrbar wird, wie sehr ich den anderen, wie sehr ich letztlich Christus brauche, um mich selbst zu entdecken, wie P. Carlin betonte. So war es alles andere als eine akademische Veranstaltung, sondern einerseits das Ergebnis der monatelangen Arbeit einer Gruppe von Freunden, die sich persönlich mit dem Thema befasst hatten. Andererseits war es geprägt durch das persönliche Interesse und den Dialog der Podiumsteilnehmer wie auch der rund 1.000 Besucher aus Deutschland und anderen europäischen Ländern. Besonders augenfällig wurde dieses persönliche Engagement bei den rund 80 freiwilligen Helfern, aber auch in dem hingebungsvollen Spiel der Musiker des Damascus String Quintet of Sepo, die mit traurig-schönen Klängen zeitgenössischer syrischer Komponisten die Hoffnung auf Frieden in ihrer gemarterten Heimat zum Ausdruck brachten.

Ohne dass die eigene Person ins Spiel kommt, „ohne dass ich mich auf den Patienten einlasse“, ist es nach den Worten von Dr. Marcus Schlemmer auch nicht möglich, als Arzt Sterbende zu begleiten. „Wenn mir das Schicksal des Menschen letztlich egal ist, dann geht das nicht.“ Angesichts extremer Fälle wie dem Tod einer jungen Mutter von zwei kleinen Kindern oder dem schmerzvollen Ringen eines Jugendlichen, der sich nicht helfen lassen will in seiner Agonie, kann dies auch einmal heißen, „dass ich sprachlos bin, in den Nymphenburger Park gehe und einfach weine“. „Es tut oft sehr weh, den Betroffenen wie den Helfern. Es wäre unaufrichtig, das nicht zu sagen.“ Aber ohne dieses Mitleiden wäre für Schlemmer auch jene andere Erfahrung nicht möglich: „Die geradezu intime Begegnung zwischen Menschen, bei der man das bewundernswert Humane jeden Tag sieht.“ „Sie wissen nicht, was diese Menschen uns zurückgeben“, so sein Fazit. „Ich habe noch niemanden erlebt, der glaubt, dass der Tod das absolute Ende ist.“ Alle Sterbenden in der Palliativstation bezeugten auf die ein oder andere Weise die Gewissheit: „Es gibt einen, der auf mich wartet.“

Pater G. Carlin (Foto: Elisa Zocchi).

Wie aber kann sich mein Menschsein im Alltag bewähren, in den Herausforderungen einer Arbeitswelt, die nach den Worten von Bernhard Scholz den Menschen auf vielerlei Weise von sich selbst entfremden kann? Und das geschieht paradoxerweise gerade dann, wenn sich jemand ganz mit seiner Arbeit identifiziert, „wenn die Arbeit zur Droge, zum Surrogat wird, um der Frage nach dem Wofür, dem Sinn meiner Tätigkeit aus dem Weg zu gehen“, meinte der Präsident des italienischen Unternehmerverbandes Compagnia delle Opere. Für ihn liegt darin auch ein Grund für die Zunahme des Burnout-Syndroms. „Denn wir können diese Frage zwar ausblenden, aber nicht ausschalten!“

Gibt es in der Arbeitswelt eine Antwort auf den Sisyphos, der zur sinnlosen Wiederholung des immer Gleichen verurteilt ist?

Gibt es in der Arbeitswelt eine Antwort auf den Sisyphos, der zur sinnlosen Wiederholung des immer Gleichen verurteilt ist? Charly Chaplin entdeckte ihn in dem modernen Fließbandarbeiter wieder und für Camus war er das Urbild eines sinnentleerten Lebens.

Gerade hier gewinnt der Vorschlag des Christentums seine ganze Aktualität, so Scholz. „Denn es eröffnet uns die Möglichkeit, in dieser Welt zu leben und doch nicht von dieser Welt zu sein.“ Die Politik könne zwar Rahmenbedingungen für eine humanere Arbeitswelt schaffen, gefragt sei aber vor allem die Haltung der eigenen Person: „Wir müssen uns wieder mehr als Subjekt verstehen. Wir unterschätzen, welchen Einfluss wir nehmen können, indem wir wir selber sind.“ Und das bedeutet in der Arbeitswelt vor allem, persönliche Beziehungen zu leben und zu schaffen, die wieder den Menschen in den Mittelpunkt rücken mit seiner unstillbaren Sehnsucht nach Glück.

Prof. Thomas Söding sah bei seinem Vortrag zum Thema „An welchen Menschen glaubt dein Gott?“ die Größe des christlichen Glaubens genau darin, dass Gott Fleisch annimmt, um sich in unsere Umstände hineinzubegeben, um uns in unserer Bedürftigkeit zu suchen und zu finden, „wie im Bild des Barmherzigen Samariters“. „Gott ist selbst im Abgrund unserer Sünde, im Treibsand unserer Schwäche gegenwärtig.“

Der Münsteraner Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide appellierte an seine Glaubensbrüder, sich von diesem Bild eines liebenden Gottes prägen zu lassen. Er verwies auf die fünfte Sure des Koran, wo es heißt: „Gott erschafft Menschen, die er liebt und die ihn lieben.“ Der Mensch sei in diesem Fall der Partner Gottes, der frei und selbstbestimmt die Absicht der Liebe Gottes verwirkliche. Und er erinnerte an die Einsicht von Anselm von Canterbury, „dass Gott immer größer ist als das, was gedacht werden kann“.

Rhein-Meeting 2017. Die freiwilligen Helfer (Foto: Elisa Zocchi).

Mit dem Gottesverständnis, wie es uns in Christus geoffenbart wird, gibt es nach Södings Worten auch keinen Widerspruch zwischen der Mission und dem Dialog mit anderen Überzeugungen: „Mission ist in erster Linie die Konversion derer, die aufbrechen, um anderen Menschen zu zeigen, wie wertvoll, wie liebesbedürftig und liebenswert sie in Gottes Augen sind.“ Vielleicht umschreibt dies auch die Intention des diesjährigen Rhein-Meetings. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch der Appell von Marcus Schlemmer seine ganz eigene Bedeutung: „Lasst euch ein auf die Menschen mit den unsterblichen Seelen. Traut euch, ihnen gegenüberzutreten.“