FÜR DAS LEBEN ENTSCHEIDEN

Stefano Borgonovo, ein ehemaliger Fußballspieler, starb 2013 an ALS. Sieben Jahre hat seine Frau Chantal ihren Mann begleitet.
Paolo Perego

Heute berichtet Chantal über die Schwierigkeiten – und „all das Schöne, das ich dabei entdeckt habe“.
„Das hat er mir angetan. Als hätte er diesen Augenblick bewusst gewählt.“ Chantal weiß genau, dass das nicht stimmt. Es war purer Zufall, dass genau an jenem 27. Juni 2013 die Luftröhre von Stefano kollabiert ist. „Seit einem Jahr hatte ich ihn nie allein gelassen. Ich hatte beschlossen, immer bei ihm zu sein. Tag für Tag. Ich verließ das Haus nur noch zum Einkaufen. Doch an jenem Tag fuhr ich mit meiner Tochter ans Meer, um nach unserem Haus zu sehen.“ Chantal machte sich keine Sorgen. Ivonne, Stefanos Schwester, war bei ihm und die anderen Kinder. Die Kanüle musste gewechselt werden. „Dann kam der Anruf. Die Leitung blieb offen und ich hörte es. Ich war weit weg. Ich war nicht dabei.“ Sie war nicht an der Seite ihres Mannes, als er starb. Stefano Borgonovo war Fußballspieler gewesen und hatte in Vereinen wie dem AC Florenz, Como Calcio und dem AC Mailand gespielt, Ende der Achtziger Jahre sogar in der Nationalmannschaft. Mit 49 Jahren starb er an ALS, Amyotropher Lateralsklerose. Er selber nannte die Krankheit nur „das Miststück“. Denn seit der Diagnose Anfang Mai 2006 stahl sie ihm Stück für Stück sein Leben und fesselte ihn schließlich ans Bett. Am Schluss konnte er nur noch die Augen bewegen. „Sie hat ihm viel von seinem Leben genommen. Aber nicht das Leben selbst, bis zuletzt“, sagt Chantal.

Stefano und Chantal 2010 mit ihren vier Kindern.

Auch das Leben im Bett war für Stefano Leben. Er war an ein Beatmungsgerät angeschlossen und wurde künstlich ernährt. Mit den Augen konnte er einen Computer bedienen, der für ihn „sprach“. „Sieben Jahre war er krank ...“ Es waren schwere Jahre, sagt Chantal. „Trotzdem ... Es klingt paradox, aber was passiert ist, war irgendwie auch ein Geschenk.“ Wenn man ihre gemeinsame Geschichte zurückverfolgt, seit sie sich kennengelernt haben – sie war 15 und er 17 Jahre alt –, merkt man, dass es so paradox nicht ist.

„Vergiss, dass ich im Bett enden werde.“ Stefano sagte nicht viel nach jenem Arztbesuch. „Aber daran kann ich mich noch gut erinnern. Er war sehr ernst. Ich erschrak. Wenn es so weit kommt, dachte ich, was will er dann tun? Er war 40 Jahre alt, Sportler, und dann so eine Diagnose. Er wusste, wie es enden würde. Aber später haben wir nicht mehr darüber gesprochen.“ Nie mehr. Stefano sprach nie über den Tod. „Nicht einmal in der letzten Phase. Mancher sagt vielleicht: ‚Wenn ich sterbe, möchte ich eine Feuerbestattung. Zieht mir dies oder das an ...‘ Aber er nie.“

Zwischen 2006 und 2009 verlor Stefano nach und nach alle möglichen Fähigkeiten. Er konnte nicht mehr Fahrrad fahren, nicht mehr Auto fahren, nicht mehr sprechen, seinen Arm nicht mehr heben. „Ein vorher ganz gesunder Mann konnte irgendwann nur noch die Augen bewegen. Dazwischen lagen Welten. Anziehen, ausziehen, füttern, alles Mögliche ...“ Und immer die Angst vor irgendeiner Komplikation. „Man weiß nur, dass man sterben muss. Aber nicht, wie viel Zeit einem bleibt, wie man leben, wie man sterben wird. Anfangs bin ich fast verrückt geworden. Ich hatte vier Kinder, die Jüngste war drei Jahre alt, und meine Eltern lebten nicht mehr. Was sollte ich tun?“ Chantal war völlig durch den Wind. Und Stefano ging es nicht anders: „Eines Abends habe ich mich fürchterlich aufgeregt, weil er sagte: ‚Du wirst mich verlassen und ich werde allein bleiben.‘ Wie kann man nach 20 Jahren so etwas denken? Aber so weit kann es kommen … Dann habe ich beschlossen, so wenig wie möglich nachzudenken und einfach weiterzumachen, Tag für Tag. Mich um das zu kümmern, was gerade passiert. Ich sprach mit einer Psychologin und abends legte ich alles gewissermaßen in Schubladen ab. Ich musste meinen Mann und die Kinder managen. Ich durfte nicht krank werden, ich konnte mich nicht einmal einen halben Tag ins Bett legen. Wie eine Maschine. Alles hing von mir ab.“

Alles. Auch ob Stefano im Fall der Fälle reanimiert würde. „Ich weiß gar nicht, ob ich es ihm je gesagt habe.“ Man kann bei so einer Krankheit verfügen, dass man bei Atemstillstand nicht reanimiert und intubiert werden will. Wenn man diesem Eingriff aber einmal zugestimmt hat, gibt es kein Zurück mehr. „Kurz nach der Diagnose hatte man mir ein Blatt gegeben. Das hätten wir ausfüllen können, wenn wir uns für einen Verzicht auf Intubation entschieden hätten. Es geriet in Vergessenheit. Wenn ich mit Ärzten sprach, rieten mir einige, im Notfall nicht den Krankenwagen zu rufen. Denn möglicherweise käme da jemand, der ihn reanimieren würde ohne weiter nachzufragen. An einem Sonntagmorgen im Mai 2008 war es so weit. „Sie haben mich beiseite genommen und gefragt, was sie tun sollen. Da kann man nicht sagen: ‚Ich weiß nicht‘. Aber ja zu sagen und dann vor einem Ehemann zu stehen, der einen dafür hasst ... Und man weiß überhaupt nicht, wie es dann weitergeht.“ Chantal entscheidet: „Wir holen ihn zurück, wir intubieren ihn.“ Im OP fragte man dann auch Stefano zwei Mal, ob er wirklich intubiert und dann künstlich beatmet werden wolle. Und man erklärte ihm genau, was das für Konsequenzen hat. „Er hat es in seinem Buch [Attacante nato. „Der geborene Stürmer“] beschrieben. Er hat ja gesagt und sich entschieden zu leben. Er selbst.“

Neu verliebt. Das war eine Wasserscheide. „Als hätten wir einen Hebel umgelegt.“ Aber keinesfalls ein Zuckerschlecken. „Ich wollte ihn nach Hause holen. Er sagte: ‚Du schaffst das nicht. Du musst dich um die Kinder kümmern. Ich gehe in ein Heim.‘ Ich habe mich wieder mächtig aufgeregt: ‚Du kommst nach Hause!‘ Und ich habe sogar gedroht, ihm die Kinder nicht mehr zu bringen. Schließlich hat er sich doch überzeugen lassen. Am ersten Abend zu Hause sagte er mir über den Kommunikator: ‚Danke!‘ Vielleicht hatte er gefürchtet, nie mehr zurückzukommen. Er war glücklich.“

Danach explodierte das Leben, wie sie es sich nie hätten vorstellen können. Eine Stiftung entstand, um die Ursachen der ALS zu erforschen. Alte und neue Freunde kamen und füllten das Haus, Fußballspieler, ganze Mannschaften ... Es gab Veranstaltungen, wie das Freundschaftsspiel im Oktober 2008 im Stadio Franchi in Florenz zu Stefanos Ehren.

„Er hat nie um seiner selbst willen die Öffentlichkeit gesucht, sondern nur um Aufmerksamkeit für die Krankheit zu erzeugen. Er war kein Prediger, er schlug keine Schlachten. Er hat nur gezeigt, wie er war und was er erlebte. Im Gegenzug bekam er viel mehr, als er selbst erwartet hätte. All das Gute, das zurückkam, spürten wir.“ Die Zuneigung der Menschen, ein erfülltes Leben. Und nicht nur das: „Auch unsere Beziehung. In den Jahren von Stefanos Krankheit habe ich meinen Mann neu entdeckt. Manchmal erschien er mir wie ein Unbekannter, obwohl ich ihn seit Jahren kannte. Und ich habe mich neu in ihn verliebt. Charakterzüge, die er vielleicht vorher schon hatte, sind aufgeblüht und haben deutlich gemacht, was für ein außergewöhnlicher Mensch er war.“ Niemand bemitleidete ihn, alle verspürten Zuneigung und Hochachtung aufgrund seiner Menschlichkeit.

„Ich glaube, er wusste, dass ich und die Kinder ihn brauchten. Es war wirklich so. Ich brauchte ihn. Wir haben die Krankheit gemeinsam getragen. Und er hat gekämpft. Manchmal war er es sogar, der sich um uns gekümmert hat.“ Vor allem sein Blick, wenn Chantal nach ein paar Stunden oder Tagen wiederkam. „Ich wusste, dass er auf mich wartet. Und ich bin immer als erstes zu ihm gegangen und habe ihm in die Augen geschaut. Fünf Sekunden, in denen alles lag. Unsere Beziehung hatte sich ganz auf das Wesentliche konzentriert.“ Stefano wurde nie wütend. „Auch als er noch gesund war, nahm er alle an, wie sie waren. Nachdem er krank wurde, habe ich ihn nie verbittert gesehen. Er hat nie seine Leidenschaft für den Fußball und die Musik verloren. Wir hörten sie über seinen Computer: ‚Ste, leg mal das und das auf.‘ Manchmal machte er es bewusst. Ich war vielleicht dort drüben, und er legte die Lieder auf, die ich mochte. Dann hörten wir sie zusammen an.“


Borgonovo mit seinem Freund Roberto Baggio. Sie waren das Traum-Duo des AC Florenz mit insgesamt 29 Treffern in der Saison 1988/89. AFP PHOTO / FILIPPO MONTEFORTE
Das letzte Jahr ist sehr anstrengend. Chantal delegiert den Haushalt an ihre Tochter. Sie ist immer bei Stefano. Sogar die Pfleger schickt sie weg. „Ich glaube, er hat auch gemerkt, dass ich am Limit war. ‚Du hast Angst, alleine zu bleiben‘, sagte er mir einmal. Er kannte mich. Er hatte uns in diesen Jahren begleitet, nicht wir ihn.“ Ein Jahr lang ließ Chantal ihn nicht eine Sekunde aus den Augen. Außer an jenem Morgen, um nach Ligurien zu fahren. „Das war wie ein Schlag ins Gesicht. All die Jahre waren wir den Weg gemeinsam gegangen. Und dann … Als ich abends nach Hause kam, war er nicht mehr da. ‚Wo bist du? Ich komme zu dir‘, dachte ich, als ich vor seinem Leichnam stand. In der ersten Zeit nach seinem Tod war mir manchmal, als wäre er noch da. Eigentlich glaube ich nicht an solche Dinge, aber … Stefano ist da. In meinen Kindern, in unserem Enkel. In diesem Haus“, sagt Chantal und schaut versonnen auf ein Foto ihres Fußballstars.



„Natürlich wünschte ich mir, ihn jetzt hier zu haben. Das ist ja klar. Und wehe mir kommt einer mit irgendwelchen Allgemeinplätzen, zum Beispiel, dass Erfahrungen einen bereichern. Aber ich kann auch das Schöne nicht übersehen, das in diesen Jahren geschehen ist. Wenn ich etwas ändern könnte, dann das, was vorher war. Ich würde den Menschen noch mehr genießen wollen, den ich im Krankenbett neu entdeckt habe. Sein ganzer Wert ist mir dort neu geschenkt worden. Natürlich sollte man sich so etwas nicht wünschen, aber vielleicht hätten wir etwas verpasst, wie es so vielen geht. Man nimmt alles so selbstverständlich, man ist ständig am Rennen, da sind die Kinder, man hat so viel zu tun ...“

Ehrfurcht. Er hätte nie den Stecker gezogen. „Er war gläubig. Und er hatte einen starken Charakter. Und die Kinder? Was hätte er denen hinterlassen? Er wusste, dass wir ihn brauchten. Ich möchte nicht über die Entscheidungen anderer urteilen, auch wenn es Dinge gibt, die mir wehtun. Und ich wüsste auch nicht, ob ich selber Stefanos Mut gehabt hätte, nach allem, was ich gesehen habe.“ Jede Situation ist anders, es gibt viele Faktoren und Umstände ... „Man diskutiert über Gesetze. Aber die sollten klar sein. Auch wenn hoffentlich niemand sie braucht. Heute ist es eher die Regel, dass man sich davonstiehlt. Und nicht für das Leben entscheidet.“ Wir haben verlernt, das Leben anzunehmen, zu dem eben auch Schwierigkeiten gehören. Chantal meint: „Krankheit ist etwas, das zum Leben dazu gehört. Wie Geburt und Tod. Wir verdrängen das alles. Alles muss sich an Erfolg und Jugend orientieren.“ Auch im Bezug auf das Ende des Lebens. „Man spricht nicht über die Verzweiflung eines Menschen, es gibt keine Ehrfurcht mehr. Man spricht nur von Rechten. Und was ist, wenn jemand kommt und sagt: ‚Ich will nicht mehr leben, ich halte es nicht mehr aus‘? Was macht man dann? Erzählt man ihm etwas vom Recht auf Leben und auf Sterben? Das ist doch die Botschaft, die rüberkommt.“

Viele fragen Chantal, wie sie so froh sein kann. Ob sie sich nie gefragt hat, warum das ausgerechnet ihr passiert ist. „Ich frage mich eher: Wieso hätte es mir nicht passieren sollen? Es ist passiert, so ist das Leben. Als Stefano gestorben ist, habe ich gedacht: Jemand hat heruntergeschaut.‘ Ich bin keine praktizierende Christin, aber in der Hinsicht bin ich mir sicher. Es war der richtige Augenblick.“

Ab und zu kommen die Kinder ins Zimmer, jedes ist mit seinen Angelegenheiten beschäftigt. „Durch so einen Vater wächst man, auch wenn er sich nicht bewegen kann und im Bett liegt. Er lehrt einen, das Leben anzupacken. Auch für mich war das so. Mit meinem Vater. 19 Jahre lang hat er gegen einen Tumor gekämpft. Vielleicht hat mir das geholfen – zu sehen, wie mein Vater und meine Mutter mit der Krankheit umgegangen sind –, um meinen Leidensweg gehen zu können. Meine Kinder verlieren sich nicht in irgendwelchem Blödsinn. Ich sehe, wie sie versuchen, alles aus dem richtigen Blickwinkel anzugehen. Sie haben jeden Tag gesehen, wie wir versucht haben, dem Leben alles abzugewinnen, was man ihm abgewinnen kann. Stefano auf seine Weise und ich auf meine Weise, aber auf einem gemeinsamen Weg.“