Revolte und Prophetie. „Es gibt nicht zwei voneinander getrennte Welten.“
Interview mit dem französischen Politologen Oliver Roy.Olivier Roy, Jahrgang 1949, ist Politologe, Orientalist, einer der angesehensten Islamwissenschaftler und Autor sehr erfolgreicher Bücher. Er lehrt am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und ist wissenschaftlicher Berater am Robert Schuman Centre for Advanced Studies. Er hat als Berater der französischen Regierung, der UNO und der OECD gearbeitet und war deren Repräsentant in Tadschikistan.
Roy hat nie nur aus Büchern studiert. Er ist viel gereist und war immer neugierig auf neue Kulturen und Sprachen. Mit 19 Jahren fuhr er zum ersten Mal per Anhalter nach Kabul, obwohl er eigentlich hätte Klausuren schreiben müssen. In den Monaten zuvor hatte er aus Büchern ein bisschen Persisch gelernt, allerdings ohne die Aussprache zu kennen. „Aber ich stellte dann doch fest, dass ich mich einigermaßen verständlich machen konnte.“ Die einzigen, die damals, 1969, diese Teile der Welt bereisten, waren Hippies, die einem utopischen Bild vom Orient nachhingen und auf leichtverfügbares Haschisch aus waren. Als Roy seine Abschlussarbeit in Philosophie schreiben sollte, schlug er ein Thema über Leibniz und China vor, weil ihn der Briefwechsel zwischen dem Philosophen und den Jesuiten-Missionaren interessierte. Chinesisch hatte er in der Zwischenzeit auch gelernt.
Mit 68 Jahren ist der berühmte Professor noch immer so neugierig wie ein junger Mann, der die Welt entdecken will. In seinem Büro am Europäischen Hochschulinstitut in der Nähe von Florenz verschwindet der Schreibtisch förmlich unter großen Haufen von Papieren und Büchern. Dazwischen ist gerade noch Platz für die Tastatur des Computers und eine Wasserflasche, aus der er ab und zu einen Schluck trinkt.
Einige seiner Bücher sind auch auf Deutsch erschienen: Heilige Einfalt: Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen; Der falsche Krieg. Islamisten, Terroristen und die Irrtümer des Westens und Der islamische Weg nach Westen. Sein jüngstes Werk, Le Djihad et la mort („Der Dschihad und der Tod“) handelt von den jungen, in Europa aufgewachsenen Terroristen und stellt die Frage, weshalb sie zu Selbstmordattentätern werden. Kurz zusammengefasst und etwas vereinfacht ist die These des Buches, dass diese Jugendlichen nicht gewalttätig werden, weil sie Islamisten wären, sondern weil sie Nihilisten und verzweifelt sind. Darüber wollten wir mehr erfahren.
Professor Roy, Sie behaupten, der derzeitige dschihadistische Terror in Europa sei Ergebnis eines Prozesses der „Islamisierung des Radikalismus“ – und nicht der „Radikalisierung des Islamismus“. Anders ausgedrückt, die Gewalt könne nicht aus dem religiösen Hintergrund erklärt werden, sondern nur durch den Nihilismus.
Das, was die jungen Leute am Dschihad so fasziniert, ist der Tod. Der Tod der anderen, aber auch der eigene. Deswegen werden sie ja zu Selbstmordattentätern. Sie glauben an ein Paradies nach dem Tod, aber nicht an die Möglichkeit eines besseren Lebens und einer gerechteren Gesellschaft hier auf Erden.
Weder der Islam noch die westliche Gesellschaft bieten ihnen ein überzeugendes Ideal, das diesem Leben einen Sinn geben könnte?
Genau.
Dabei schwimmt doch der Westen geradezu in Angeboten von Werten, Konsumgütern und Erfolgsmodellen.
„Mein Leben war leer.“ Das sagen alle, die sich für den Dschihad entschieden haben. Die sogenannten westlichen Werte scheinen ihnen heuchlerisch und materialistisch. Sie meinen, diese Werte hinterließen bei ihnen Leere und seien unmöglich zu realisieren. Sie werfen der Gesellschaft vor, dass sie sie nicht anerkennt. Diese jungen Menschen glauben, sie könnten Anerkennung nur durch den Tod erreichen.
Oft sind das aber Jugendliche, die in unseren Großstädten geboren und aufgewachsen sind: Paris, Brüssel, London ... Sie sind hier zur Schule gegangen und mit den anderen europäischen Kindern großgeworden.
Natürlich. Das ist noch nicht einmal alles. Sie haben auch die gleiche Jugendkultur, den gleichen Musikgeschmack, den gleichen Kleidungsstil. Sie essen, was alle anderen Jugendlichen auch essen, sie sprechen den gleichen Slang, schauen die gleichen Filme, gehen in die gleichen Diskotheken, kaufen ihren Stoff bei denselben Pushern und laufen den Mädchen nach wie alle anderen. Niemand von ihnen träumt davon, gegen Unterdrückung und Armut zu kämpfen, nicht einmal gegen Islamfeindlichkeit, was doch ein Widerspruch zu sein scheint.
Und die religiöse und kulturelle Tradition ihrer Familien kann ihnen keine eigene Identität bieten? Bevor sie sterben, schreien sie doch „Allahu akbar“ ...
Die Wahrheit ist, dass es eine schwere Krise in der Traditionsvermittlung gibt. Die Eltern wissen oft nicht, wie sie ihren Kindern ihren Glauben und ihre Kultur vermitteln können. Sie kennen den authentischen Islam meist nicht gut. Sie kennen vielleicht Riten und Gebräuche, die sie beispielsweise in einem marokkanischen Viertel kennengelernt haben. Aber die gehören zu einem sozio-kulturellen Umfeld, das nicht mehr existiert, und schon gar nicht in Frankreich. Für die zukünftigen Islamisten ist der Islam ein Aushängeschild, doch sie kennen ihn gar nicht wirklich. Und ihre Eltern scheinen ihnen oft einem schlechten, folkloristischen und abergläubischen Islam anzuhängen. Sie sehen Mütter, die den Ramadan befolgen, aber gleichzeitig Süßspeisen zubereiten, mit denen nach Sonnenuntergang ein Riesenschmaus veranstaltet wird. Sie hören Väter von Gott reden, die dann Alkohol trinken. Sie fragen: „Warum seid ihr nach Frankreich gegangen?“ „Damit wir ein besseres Leben haben“, ist meist die Antwort. „Aber das hier ist kein besseres Leben!“ Alles in allem ist die Tradition für sie nicht attraktiv. Die extremistische Rebellion dieser jungen Leute ist auch ein Kampf der Generationen.
Und was hat der IS damit zu tun?
Der IS bietet eine Ästhetik der Gewalt an, die die eigentlich extrem nihilistischen Handlungen attraktiv macht. Das ist, wohlgemerkt, eine sehr moderne Ästhetik, ganz im Stile der amerikanischen Filme (in denen mittlerweile eindeutig mehr Gewalt als Sex zu sehen ist) und der gängigen Videospiele. Öffentliche Hinrichtungen, aufwendig inszeniert und live übertragen, Folterszenen, die gefilmt und von einer Stimme aus dem Off kommentiert werden, das ist ein Format, das die mexikanischen Drogenbanden oft benutzen. Die Vorbilder dieser Ästhetik sind sehr westlich.
Die Faszination, die Gewalt und Tod ausüben, entspringt also im Grunde genommen einem Gefühl der Leere und Verzweiflung.
Genau. Diese Jugendlichen wissen, dass sie nicht glücklich werden können. Nicht einmal sexuell, nicht einmal, indem sie eine Familie gründen. Es ist sehr selten, dass ein Terrorist im Jahr des Attentats ein Kind gezeugt hat, also während er schon die Tat plante. Sie haben eine Frau, eine Freundin, vielleicht auch ein Kind, aber ohne sich darüber zu freuen. Und nach ihrem Tod überlassen sie sie der Organisation ... oder ihrem Schicksal. Achtung! Das entspricht nicht dem Islam, in dem ja bekanntermaßen die Familie eine sehr wichtige Rolle spielt und der auch Selbstmord ablehnt, weil man sich damit dem Willen Gottes widersetzt. An der Wurzel des Ganzen steht zweifelsohne ein existentielles Problem.
Auch die 68er-Revolte in Europa und den USA war eine Auflehnung der jungen Generation gegen traditionelle Werte und bürgerliche Institutionen. Worin besteht der Unterschied?
Die 68er waren Utopisten, nicht Nihilisten. Sie folgten dem Ideal einer glücklichen Gesellschaft. Außerdem gab es keinen totalen Bruch bei der Vermittlung von Tradition und politischer Kultur. In Italien und Frankreich haben fast alle Protestbewegungen die Kultur des Antifaschismus und des Kommunismus aufgenommen. Die extremen Flügel brachten terroristische Organisationen hervor, wie die Roten Brigaden, die Morde und Attentate begangen haben, um einen Aufstand der gesamten Arbeiterklasse zu provozieren. Aber der blieb aus. Da sie also keine Unterstützung in der Gesellschaft fanden, gaben sie auf. Auch die dschihadistischen Terroristen sind weit davon entfernt, Unterstützung zu finden. Aber das führt nicht dazu, dass sie aufhören, denn sie haben ja keine politischen Ziele oder Utopien.
Die Politiker setzen den Schwerpunkt immer auf die Sicherheit, die durch mehr Ordnungskräfte und durch Mauern garantiert werden soll. Ist das eine Antwort?
Um Attentate und Gewaltausbrüche eines dschihadistischen Terroristen zu verhindern, muss man verstehen, was die mörderische und selbstmörderische Kraft nährt, die in ihm steckt. Es nützt nichts, das in ein religiöses Paradigma einzuschreiben. Ich sage immer: Die Radikalisierung kommt zuerst. Vergessen wir nicht die Massaker, die von jungen Selbstmördern in den USA angerichtet wurden, wie beispielsweise in den Schulen in Columbine (Colorado) 1999 mit 15 Toten, Balcksburg (Virginia) 2007 mit 33 Toten und Newtown (Connecticut) 2007 mit 28 Toten. Wir sollten auch nicht übersehen, dass es trotz dieser Ereignisse nicht in allen Staaten gelungen ist, ein Gesetz durchzubringen, das es verbietet, Schusswaffen in die Schule mitzubringen. Texas zum Beispiel hat sich widersetzt. Diese Massaker ähneln vom Ablauf und der Rolle der Medien her den heutigen. Sie haben aber nichts mit dem Islam zu tun.
Wer muss sich hinterfragen lassen: der Islam, der Westen oder gar das Christentum?
Alle. Wir sind Protagonisten ein und desselben Stücks. Es gibt nicht zwei getrennte Welten. Das Problem, das uns alle angeht, ist die Krise der Vermittlung der Werte, des Sinnes des Lebens und der Welt. Diese Krise betrifft auch die Religionen. Das Entscheidende dabei ist nicht die Säkularisierung an sich. Christentum und Islam haben ja gezeigt, dass sie sich einer säkularisierten Gesellschaft anpassen und in ihr existieren können, ohne ihre Identität zu verlieren. Entscheidend ist die Entkulturalisierung, das Trennen von Religion und Kultur, das Fehlen des Zusammenhangs mit dem tatsächlichen Leben der Menschen ... Es stimmt zwar, dass die Religion keine Kultur ist – das Christentum ist eine Botschaft, ein Ereignis. Aber sie kann nicht anders, als kulturellen Ausdruck zu finden in den konkreten Umständen des Lebens.
Kann man sagen, dass Ihr Begriff der Entkulturalisierung des Religiösen etwas Ähnliches ist wie die Trennung von Glaube und Kultur, die Paul VI. beklagte, oder die Trennung von Wissen und Glauben, auf die Benedikt XVI. hinwies?
Ja. Die Trennung von Religion und Kultur bringt keime fundamentalistischer Gewalt hervor, da sie die Grauzone der Begegnung und des gegenseitigen Verstehens eliminiert. Wenn in Frankreich ein Bischof in einer öffentlichen Ansprache „Gott sei Dank“ oder etwas in der Art sagt, wird ihm sofort vorgeworfen, er sei ein Fanatiker. In Italien tritt dieses Phänomen noch nicht so stark zutage, da die Kirche noch zum öffentlichen Leben gehört. Die Entkulturalisierung der Religion ist in Italien nicht so drastisch und gewalttätig durchgeführt worden, was auch dazu führt, dass es weniger religiöse Gewalt gibt. In Frankreich ist das stärker, weil die laicité antireligiös und sehr aggressiv ist. Das erklärt, warum viele der Terroristen – nicht nur die, die die Anschläge in Frankreich verübt haben, sondern auch die von London – aus französischsprachigen Ländern kommen. Die laicité hat den Schleier der marokkanischen Großmütter toleriert wie ihren Couscous. Aber den Schleier der jungen Mädchen, die in Frankreich geboren sind und ihn in der Schule tragen wollen, den akzeptiert sie nicht. Das heißt, sie erwartet vom Islam eine sofortige Anpassung an unsere Vorstellungen, ohne im Gegenzug etwas vorschlagen oder anbieten zu können.
Fördert die Entkulturalisierung nicht eher den Dialog und die Integration, indem sie die kulturellen Unterschiede verwischt?
Im Gegenteil. Die Entkulturalisierung des Religiösen errichtet eine Barriere zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen. Der Gläubige erscheint dem Nichtgläubigen absurd, wenn nicht sogar fanatisch. Wenn der Bruch zwischen Religion und Kultur erfolgt ist, dann folgt oft ein Rückzug ins „Rein-Religiöse“, der leicht fundamentalistische Züge annimmt. Die Evangelikalen bei den Christen und die Salafisten bei den Muslimen entsagen der herrschenden Kultur vollkommen, um ihren Glauben rein zu erhalten. Das ist das, was ich „heilige Einfalt“ nenne. Ich muss sagen, dass die Katholiken dagegen im allgemeinen eher der Kultur verbunden bleiben und versuchen, sie mit der Religion zu vereinbaren.
Was ist also zu tun? Welcher Weg ist einzuschlagen, um diese Herausforderung anzunehmen?
Ich denke, dass man die Religion wieder stärker mit Gesellschaft und Kultur verbinden müsste. Die Religion muss versuchen, sich wieder mehr mit den Menschen und ihrem Leben zu vernetzen. Das ist die einzige Alternative zur Ghettoisierung des Religiösen. Der Staat darf nicht vorgeben, wo Religion sich zu reformieren hat, was sie glauben oder tun darf. (Zum Beispiel kann er nicht entscheiden, ob eine Beschneidung vorgenommen werden darf oder nicht, wie es ein Gericht in Frankfurt 2013* getan hat.) Die Zivilgesellschaft muss die Grundbedingungen, die Spielregeln garantieren, im Sinne einer nicht aggressiven Laizität, bei der die Religion im öffentlichen Raum angemessen sichtbar sein darf.
Und zwischen den Religionen?
Zwischen den Religionen sollte mehr Wert auf Austausch und Miteinander gelegt werden. Ich schätze einen österreichischen Priester sehr, der muslimischen Gruppen die Klöster Tirols zeigt, um ihnen zu zeigen, was das Christentum ist. Meiner Meinung nach braucht der Islam in Europa, um seiner Entkulturalisierung entgegenzuwirken, insbesondere gebildete und gut ausgebildete Imame, die wirklich dabei helfen, die Verbindung zwischen Islam und Kultur, zwischen der Religion und dem Leben der Gläubigen in den westlichen Gesellschaften wiederherzustellen. Die meisten sind aber eher improvisierende Autodidakten. Es müsste Fakultäten und Kurse für islamische Theologie geben. Das ist vor allem bei den Sunniten ein großes Problem. Bei den Schiiten gibt es Leute, die Kant oder Marx gelesen haben. Bei den Sunniten nicht.
Und wie kann der Prozess der „Weitergabe“, der Vermittlung der Religion wieder in Gang gebracht werden, also einer Erziehung, die auch heute plausibel und überzeugend ist?
Der Westen neigt dazu, den jungen Leuten Regeln vorzugeben, denen sie zu folgen haben, und Werte, die sie als leer empfinden. Auch die populistischen Bewegungen rufen zur Verteidigung einer „Identität“ auf, die letztlich nur formal ist und keinen Inhalt hat. Die Religion ihrerseits muss sich vor einer fideistischen Verkürzung hüten. Und bei den „nicht verhandelbaren Werten“ reicht es nicht, sie per Gesetz vorzuschreiben. Pater Paolo Dall'Oglio, der Jesuit, der 2013 in Syrien entführt wurde, sagte immer: Wir sind keine Rechtsverdreher, sondern Propheten. Das sehe ich auch so. Wir müssen die Jugendlichen auf die Gefahren des Nihilismus hinweisen. Aber wir werden sie nicht mit apodiktischen Definitionen überzeugen. Es hilft kein Vortrag oder Befehl, was es braucht ist Prophetie, also ein Zeugnis.
* Gemeint ist wohl das Urteil des Landgericht Köln vom Mai 2012 (Az. 151 Ns 169/11).