Salvador de Bahia -Das Zentrum Johannes Paul II.

Brasilien - Bildungszentrum „JOÃO PAULO II“

Der Horizont ist die ganze Welt
Paola Bergamini

Salvador da Bahia ist eine der ärmsten und gefährlichsten Städte Brasiliens. Das Bildungszentrum „João Paulo II“ liegt mitten in den Favelas. Täglich kommen 500 Jugendliche hierher, um ihre Hausaufgaben zu machen oder Sport zu treiben. Die Italienerin Paola Cigarini leitet es seit acht Jahren. Und entdeckt jeden Tag neu, wie ihre „Berufung das Fleischwerden eines Ideals ist“.
Ende August 2018. Die Turnhalle des Bildungszentrums „João Paulo II“ in Salvador de Bahia hallt wider von den Stimmen der Jugendlichen, die ganz in ihrer „Olympiade“ aufgehen. Lazaro, einer der Betreuer, erklärt Paola: „Sie haben alles alleine organisiert. Sie haben sich in Mannschaften aufgeteilt und alle machen mit. Schau mal, wie die Größeren auf die Kleinen achtgeben. Was sagst du dazu?“ „Das hatte ich nicht erwartet! Es ist echt eine Überraschung! Bis vor ein paar Jahren war so etwas noch undenkbar“, antwortet Paola Cigarini. Sie ist gerade aus Italien zurückgekehrt. Seit 14 Jahren ist sie Mitglied der Memores Domini. Bei einer Veranstaltung unter dem Titel „Man kann glücklich sein“ hat sie beim Meeting in Rimini von diesem Bildungszentrum berichtet, das sie seit 2010 leitet. Jeden Tag betreuen sie hier 500 Kinder und Jugendliche aus den Favelas von Salvador, machen mit ihnen Sport und helfen ihnen bei den Hausaufgaben. In Rimini hat Paola von Gewalt und Armut in dieser Stadt berichtet, aber auch von diesem positiven Ort inmitten der Favelas. Ihre Schilderung dieser Schönheit inmitten des Verfalls hat alle berührt. Und sie selbst ist gerührt, wenn sie nun „ihre“ Kinder sieht, die lachen, scherzen, sich gegenseitig helfen. Und wenn sie zurückdenkt, was sie nach Brasilien geführt hat.

„Ein Freund hat einmal zu mir gesagt: ‚In deiner Berufung nehmen die Ideale deines Vaters Fleisch an.‘ Wenn ich es recht bedenke, schöpft meine ganze Geschichte aus diesen Idealen. Auch dass ich hier in Salvador bin.“ Paola lächelt. Um ihre Geschichte zu verstehen, muss man an den Ursprung zurückgehen, nach Maranello, einen kleinen Ort in der Provinz Modena, der vor allem bekannt ist als Sitz der Ferrari-Werke. Dort wurde Paola geboren.

Im Hause Cigarini weckte der Vater die Kinder mit der Neunten Symphonie von Beethoven und las ihnen Leopardi vor. So vermittelte er ihnen die großen Ideale seines Lebens, von denen er sich wünschte, dass sie auch seinen Kindern vertraut würden. Paola erinnert sich aus ihren Kindertagen an Besuche von Priestern aus Brasilien, Freunde ihrer Eltern. Sie erzählten vom „Bibel-Teilen“, von Landnahmen und bewaffneten Auseinandersetzungen. Es waren die Jahre der Befreiungstheologie. Als Jugendliche beginnt Paola die Kirche zu hinterfragen und gelangt zu dem Schluss, dass die Erwachsenen nur aus gesellschaftlicher Konvention so reden, aber eigentlich nichts zu sagen haben. Ihr größtes Interesse gilt der Rockmusik. So lebt sie vor sich hin, von einem Konzert zum nächsten.

Paola Cigarini mit den Jugendlichen des Bildungszentrums.

Mitte der achtziger Jahre kommt ein junger Priester nach Maranello und Paola geht aus Neugierde zu einem Treffen. Der Priester liest ein paar Seiten aus einem Buch vor, ohne den Autor zu nennen. Die Worte treffen die inzwischen 18-jährige Paola mitten ins Herz. Sie sind die Antwort auf all das, was ihr in ihrer Familie an Fragen für das Leben mitgegeben wurde. Es folgen mehr Treffen, der Priester verteilt weitere Kopien, immer ohne den Autor zu nennen. Und die Anzahl der jugendlichen Teilnehmer nimmt zu. „Wir gingen von Haus zu Haus, um alle einzuladen“, erinnert sich Paola. „Wir brachten ‚Bewegung‘ in das Dorf. Etwas Mitreißendes, das das ganze Leben durchdrang.“

Bis der Priester eines Tages allen erzählt, dass er zu Comunione e Liberazione gehört und die Texte von Luigi Giussani stammen. Diese Neuigkeit wird von vielen sehr schlecht aufgenommen; sie beschließen zu gehen. Für Paola ist es ein Drama. Sie hat bisher nur Schreckliches über CL gehört und gelesen.  Aber es passt eigentlich nicht zusammen. Sie kann das nicht leugnen, was sie erlebt hat. Sie spricht mit dem Priester darüber, und der sagt ihr: „Ich hätte gerne, dass du einen meiner Freunde von der Bewegung kennenlernst. Ich rufe ihn an.“ Ein paar Tage später trifft Paola Enzo Piccinini, einen Arzt aus Modena. Diese Begegnung verändert ihren Blick. „In dem Gespräch wurde mir klar, dass ich die gleiche Erfahrung gemacht hatte wie er. Aber sein Horizont war die ganze Welt. Das also war die Bewegung. Ich begab mich nicht in eine Einbahnstraße ohne Ausweg.“

Nachdem sie die Schule abgeschlossen hat, arbeitet Paola in der Kooperative für Behinderte, die sie mit Freunden gegründet hat. Ausgehend von einigen emotionalen Beziehungen beginnt sie sich Fragen zu stellen: „Ist Liebe tatsächlich etwas so Armseliges? Werde ich mein ganzes Leben so verbringen? Von einer Liebe in die nächste taumeln?“ Sie ruft Enzo an. „Er sprach von sich, davon, was es für ihn bedeutet, als Ehemann zu lieben. Liebe war für ihn nicht das, was ich dachte, sondern wahre Liebe, die das Leben erfüllt und für immer ist. Er erzählte mir von den Memores Domini.“ Das bringt plötzlich eine ganz andere Perspektive in Paolas Leben. Etwas, das langsam reift, mit der Zeit.

Tagtäglich empfängt das Zentrum 500 Kinder und Jugendlichen aus den Favelas

Irgendwann entschließt sie sich, zu einem Treffen für Menschen zu gehen, die prüfen wollen, ob sie eine Berufung zur Jungfräulichkeit haben. Bevor sie losfährt, heftet sie ihren Blick auf das Kreuz in ihrem Zimmer und denkt: Es geschehe das, was geschehen soll. In den zwei Tagen bei diesem Treffen fühlt sie sich endlich zuhause. „In der Beziehung zu einigen Leuten spürte ich eine unerklärliche Vertrautheit. In ihrer Erfahrung fand ich die meine wieder.“ Jemand sagt ihr, als er sie danach wiedertrifft: „Du hast ein anderes Gesicht.“

2001 schlägt Carlo Wolfsgruber, einer der Verantwortlichen der Memores Domini, Paola vor, nach Salvador zu gehen, in eine der ärmsten Regionen Brasiliens. Sie bleibt einen Monat lang dort und begleitet Pina, eine Ärztin und Memor Domini, die seit 1995 dort zwei pädiatrische Ambulanzen leitet. „Es gab nichts Schönes in der Favela. Im Gegenteil. Aber die Schönheit, mit der sie diese Situationen anging, hat mich berührt.“ Und so willigt sie 2004 ein, Pina abzulösen und ein neues Projekt in Gang zu bringen: ein Zentrum für die Rehabilitation unterernährter Kinder. Es wird finanziert von AVSI, die in jenen Jahren ein großes Projekt zur Stadterneuerung in den Favelas durchführt.

Der erste Monat verläuft fabelhaft. Dann kommt die Leere. Paola kann die Sprache nicht. Sie ist blond unter größtenteils Farbigen. Ihr wird klar, dass ihre Nikes vielleicht so viel wert sind wie das Jahresgehalt eines Favela-Bewohners … Sie steht vor der Wahl, entweder ihre Arbeit als Entwicklungshelferin gut zu machen und daran zu denken, dass sie jederzeit wieder gehen kann, sich einen bequemen Schlupfwinkel zu schaffen, von dem aus sie die Wirklichkeit betrachten kann. Oder: „Das, was ich von Giussani gehört hatte, ist auch dort wahr. Denn sonst ist alles ein großer Betrug. Die Entscheidung, dort zu bleiben oder nicht, stützte sich darauf, das zu prüfen.“

„Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.“ Dieser Satz aus dem Evangelium, den sie bei den Exerzitien der Fraternität 2007 hört, leitet bei Paola eine Wende ein. In der Beziehung mit den Menschen versucht sie jetzt zu verstehen, was diese denken. Denn aufgrund der anderen Kultur und Geschichte fällt es ihr oft schwer, deren Reaktion zu verstehen. Sie bemüht sich, sich in das Leben dieser Menschen einzufühlen, in eine Lebenslage, in der nichts sicher ist. Nicht einmal, dass der Vater noch da ist, wenn man morgens aufsteht. Vielleicht hat er beschlossen, ein paar Baracken weiter zu ziehen, um mit einer anderen Frau zusammenzuleben. Das geschieht oft. Oder man hat absolut nichts zu essen. „Das führt dazu, dass die Menschen weniger ‚verschlossen‘ sind und elastischer im Gebrauch ihrer Vernunft, offener für die Wirklichkeit, so wie sie ist. Wenn man wenig hat, kann man wenig planen.“ Für Paola bedeutet das, dass sie diesen Menschen anders entgegentreten und anders denken muss.

2008 wird die Tätigkeit von AVSI wegen der Krise und des Regierungswechsels in Brasilien eingeschränkt. Für Paola scheint der Moment gekommen zu sein, nach Italien zurückzukehren. Doch 2010 wird ihr die Leitung des Bildungszentrums angeboten, das es seit 1999 in der Favela gibt. „Aber ich habe keine Ahnung von Schule!“, wendet sie ein. Don Julián Carrón, der Präsident von CL, ruft sie an und sagt: „Es ist sogar besser, dass du keine Ahnung von Schule hast, dann kannst du nur auf das schauen, was sich aus deiner Erfahrung ergibt. Wenn ich herumreise, sehe ich viele Bildungswerke, die sich damit zufriedengeben, dass die Jugendlichen zufrieden sind und es ihnen Spaß macht. Erziehen bedeutet aber eigentlich, den jungen Leuten die Werkzeuge an die Hand zu geben, mit denen sie der Welt gegenübertreten können, wie sie nun mal ist.“

Paola gibt diesen Satz an einige Lehrer der Gemeinschaft von Salvador weiter, die sie um einen Tisch versammelt hat. „Was würdet ihr tun?“, fragt sie. Ideen und Projekte werden gesammelt. Und das Abenteuer beginnt. So ist das entstanden, was sie jetzt vor sich sieht.

Jeden Tag kommen morgens 200 Jugendliche und nachmittags 200 in das Zentrum (je nachdem, wann sie Schule haben), dazu noch die 100, die dort Sport machen. Sie tragen die Schuluniform, die sie oft am Abend zuvor gewaschen haben. Die meisten von ihnen sind alleine aufgestanden und haben nicht gefrühstückt, weil nichts zu essen da war. Zunächst  beten alle gemeinsam das Vaterunser, dann geht jeder in seine Klasse, wo die Lehrer schon warten. Die Kinder der Grundschule lernen Portugiesisch und Mathematik, in der Mittelstufe kommen noch Naturwissenschaften, Informatik und Geisteswissenschaften hinzu. Das Mittagessen ist für viele die einzige Mahlzeit an diesem Tag. Seit einigen Jahren hat das Sportangebot weitere Jugendliche angezogen. Auf den Gängen, in den Klassenräumen, in der Sporthalle ist alles ordentlich, sauber und ruhig. Man braucht nicht zu schreien, um sich Gehör zu verschaffen. Das ist für diese Kinder nicht der Normalzustand.

„Man braucht viel Zeit und Geduld. Aber wir haben nach und nach ein Klima des Vertrauens und der Wertschätzung geschaffen, unter den Jugendlichen wie unter den Erwachsenen“

Das Leben der Favela spielt sich, auch wegen des tropischen Klimas, weitgehend auf der Straße ab. Alles ist öffentlich: Liebschaften, Streit, Gewalt. Werktags sind die Eltern, falls es sie gibt, mehr oder weniger regelmäßig bei der Arbeit. Sie verlassen früh das Haus und kommen erst spät abends zurück. Die Kinder sind oft sich selbst überlassen. Für viele ist das Wochenende die Zeit, wo man sich gehen lässt: Alle sind auf der Straße, trinken und hören Musik. Eine Kleinigkeit genügt und die Fäuste fliegen, oder es wird gleich eine Pistole gezogen. In der Favela, in der das Zentrum steht, gibt es im Schnitt zwei Morde pro Woche.

„In diesem Zentrum zu arbeiten, hat mir das Leben dieser Stadt nähergebracht“, sagt Paola. „In den acht Jahren habe ich ein Übermaß an Gewalt gesehen, aber auch den Glanz des Guten. Durch die Jugendlichen bin ich zu einer erfahrenen Streitschlichterin geworden.“ Wenn zwei Schüler sich prügeln, nimmt sie sie aus dem Unterricht, setzt sie an einen Tisch und hört sich die Schilderung beider an, ohne sie zu unterbrechen. Aber das genügt noch nicht. Im Gespräch versucht sie sie dahin zu bringen, dass der eine die Gründe des anderen versteht, und so möglichst zu einer Lösung des Konflikts zu gelangen. „Man braucht viel Zeit und Geduld. Aber wir haben nach und nach ein Klima des Vertrauens und der Wertschätzung geschaffen, unter den Jugendlichen wie unter den Erwachsenen“, erklärt Paola. Manchmal muss sie auch Eltern um den Tisch versammeln, die ins Zentrum kommen, um andere Kinder zu schlagen und das Unrecht zu rächen, das ihren Kindern angetan wurde.

Die Möglichkeit, miteinander zu reden, Erwachsene, die auch bereit sind zuzuhören, Uhrzeiten, an die man sich halten muss, dass man manches zuerst tun muss und anderes später kommt – all das sind für die Kinder von Salvador (die es sonst eher mit Trieben und Unbeständigkeit zu tun haben) Werkzeuge, mit denen sie vielleicht ein besseres Leben führen können. „Wo nichts sicher ist, muss man Gewissheit geben. Wir erziehen sie so ganz konkret.“ Und die Früchte sind deutlich. Vergangenes Jahr haben zwei Schüler, die seit 2010 das Zentrum besuchen, die Aufnahmeprüfung für eine renommierte Hochschule geschafft. Unter den Jugendlichen setzt sich langsam die Vorstellung durch: Wir sind genau wie die anderen. Wir können auch einen solchen Weg gehen.

Und deine Eltern? Maranello? Paola lächelt und erzählt, dass ihr Vater ihr vor drei Jahren zu Weihnachten einen Umschlag überreicht hat. Darin befand sich ein Gedicht. „Es war mir gewidmet. Er schrieb, ich lebe wirklich für ein Ideal.“