Les Misérables von Victor Hugo: Weg einer Seele

Der Dramaturg Luca Doninelli spricht über seine Bühnenadaptation des Romans „Die Elenden“ von Victor Hugo.
Luca Doninelli

In diesem sehr weltlichen Text entdeckt Doninelli etwas Sakrales, vielleicht sogar Mystisches. Und versteht gar nicht, wie Hugo das schreiben konnte. Die Schönheit kann man schließlich nicht zähmen!

„Theater ist eine Art Erkenntnis durch die Erfahrung“, hat Luca Ronconi einmal gesagt. Eigentlich werden ja alle Erkenntnisse durch Erfahrung gewonnen. Auch das Verstehen eines philosophischen Textes ist eine Art Erfahrung, die Erfahrung einer Erleuchtung. Die Erfahrung ist das, was in uns geschieht, wenn wir etwas bewusst erkennen. Einerseits denken wir dann: Ja, genau so ist es! Andererseits werden wir uns bewusst, was wir alles noch nicht kennen, und sehnen uns danach.

Einer der schönsten Aspekte des Lebens ist, dass all das, was wir tun, uns auf eine bestimmte Weise mit der Wirklichkeit in Beziehung bringt. Man lernt also etwas ganz anderes, wenn man einen Roman liest, als wenn man – wie ich – diesen Roman für die Bühne adaptieren will. Das galt auch für Les Misérables von Victor Hugo.

Das erste, was mir aufgefallen ist, war die Struktur des Romans. Sie ist fast wie bei einem geistlichen Spiel. Unter einem „geistlichen Spiel“ verstehe ich einen Text, bei dem das wesentliche Ereignis zu Beginn stattfindet und wo alles, was danach geschieht, Folge des ersten Ereignisses ist. Dieses anfängliche Ereignis führt die Hauptfigur in gewisser Weise in eine neue Dimension ein, die sie sich nach und nach zu Eigen machen muss.



Das Ereignis, aus dem sich der Handlungsablauf der Elenden entwickelt, ist bekannt: Der Bischof von Digne, Myriel, schenkt dem Sträfling Jean Valjean zwei silberne Kerzenleuchter. Das ist wie eine Art Taufe. Der Roman beschreibt den Lebensweg, den Jean Valjean dann geht, um sich dieser Taufe würdig zu erweisen und seine Seele zu retten. (Diese wird durch die kleine Cosette symbolisiert.) Am Ende wird er dann tatsächlich das weiße Hemd Gott übergeben. Die Kraft, die dieses Ereignis entfaltet, beschränkt sich aber nicht nur auf die Figur des Jean Valjean. Es betrifft, auf die ein oder andere Weise, alle Figuren des Romans und verändert ihr Schicksal, angefangen bei den Menschen, die Jean nahestehen, bis hin zur ganzen Nation. Man könnte also sagen, dass Jean Valjean ein starkes Zeichen gegeben wurde. Und die erste Eigenschaft eines Zeichens ist, dass es sich in Raum und Zeit ausbreitet, in je eigener und oft unvorhersehbarer Weise.

Die Figur, die am schwersten auf die Bühne zu bringen war, war genau dieser Jean Valjean. Er will nämlich nicht im Rampenlicht stehen, da er ein Zuchthäusler ist, ein Mann, der sich seiner selbst schämt (ganz abgesehen von dem, was er objektiv verbrochen hat). Er hasst es, gesehen und angeschaut zu werden. Er ist kein Protagonist im klassischen Sinne. Sein Heldentum besteht darin, dass er sich fortgesetzt und unaufhaltsam kleiner macht. Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass wir es hier mit einem „sakralen“ Drama zu tun haben. Der Same, der in sein Herz gelegt wurde, muss sterben, damit er Frucht bringt. Deshalb flieht Jean Valjean das Rampenlicht. Er spricht so wenig, wie es nur geht. Es scheint fast, als träte seine Größe zutage trotz seiner selbst, als täte er alles Mögliche, um sie nicht zeigen zu müssen. Er wäre gerne unsichtbar oder zumindest den Blicken der Leute entzogen. Aber das geht im Theater nicht. Denn die Berufung des Theaters ist ja gerade, das Verborgene ans Licht zu bringen.

Auch Cosette liebt es nicht, im Mittelpunkt zu stehen. Ihre physische Verwandlung (von einem hässlichen Entlein zu einer schönen Frau) darf uns nicht täuschen. Cosette ist eine Seele, ein beinahe flüchtiges Wesen. Ihre Kraft erhält sie aus der Liebe ihres sonst eher schroffen Ziehvaters. Jean Valjean gibt ihr Weißbrot, während er selbst das dunkle Brot isst, das ihn an seine Zeit im Zuchthaus erinnert. Er zeigt Cosette, wie die Verurteilten ins Zuchthaus gebracht werden. Das Zuchthaus ist wie eine Versklavung, wie der Zustand, den wir Erbsünde nennen. Es macht es einem unmöglich, gut zu sein, das Tageslicht zu sehen, an der Schönheit der Schöpfung teilzuhaben. Es ist wie eine Barriere zwischen uns und dieser Schönheit, die wir trotzdem sehen.

Cosette lebt so behütet, bis sie sich in Marius verliebt. Da bricht das Leben in ihr aus und Jean Valjean kann sie nicht mehr beschützen. Er muss akzeptieren, dass er sich noch mehr zurücknehmen muss und noch kleiner werden. Er muss es annehmen, dass er in seinen eigenen Augen ein Nichtsnutz ist. Aber genau in diesem Moment vollbringt er seine größten Taten. Er rettet die, die er am meisten hasst: zuerst Javert, und dann Marius.

Cosette ist der Mensch, den Jean am meisten liebt. Aber gleichzeitig hängt sie am wenigsten von ihm ab. Das menschliche Herz ist objektiv. Bei meiner Inszenierung musste ich ihren Mut herausarbeiten, eine gewisse Fähigkeit zum Widerstand, die Victor Hugo nur andeutet. Sie kennt die Hölle, in der sie gelebt hat (bei den Thénardiers), und kann deshalb Marius helfen, zum Mann zu werden in der neuen Hölle, die bald ausbrechen wird.

Dieses „Schrumpfen“ der beiden Hauptfiguren, die Tatsache, dass es ihnen schwer fällt, im Mittelpunkt zu stehen, führt dazu, dass die Figuren um sie herum größer erscheinen. Zuallererst Javert. Javert wird zurecht oft als die genialste Figur des Romans bezeichnet, neben Éponine, und auch als eine der genialsten Figuren der Literaturgeschichte. Sein Pflichtbewusstsein, die Tatsache, dass er das Gesetz mit Gott identifiziert, machen ihn zu einer beinahe alttestamentarischen Figur – und gleichzeitig zu einem Monster. Javert ist wie ein antiker Gott, grausam und unnachgiebig. Er erkennt das Gute in Jean Valjean, als ein unbewusstes Zeichen eines anderen Gottes, eines guten und barmherzigen Gottes. Aber er nimmt es nicht an. Was Myriel in jenem Mann gesehen und geliebt hat, hasst Javert. Seine Größe ist der religiösen Dimension geschuldet, in die die Präsenz des Jean Valjean ihn einführt. Seine ganze negative Energie entfaltet sich innerhalb eines positiven Lichts, das er nicht leugnen kann.

Wir mögen es, wenn jemand es uns zurückführt auf das, was wir schon wissen und kennen. Das gibt uns ein Gefühl der Sicherheit. Aber je mehr wir das Schöne lieben, desto mehr wird uns klar, dass man die Schönheit nicht zähmen kann.

Dann ist da die Familie Thénardier, ein wahrer Geniestreich von Hugo. Dieses furchtbare Paar, das zu jeder Niederträchtigkeit bereit ist, bringt zwei wundervolle Kinder zur Welt, Gavroche und Éponine. Sie mag Hugo eindeutig besonders gerne. Die Thénardier stehen für zwei Dinge: Erstens dafür, dass man das Böse nicht von der Erde austilgen kann und die Herrschaft des Guten (von der die jungen Revoluzzer-Freunde des Marius träumen) die allergefährlichste Utopie ist. Zweitens, dass das Leben keine mechanische Abfolge von Ursachen und Wirkungen ist. Deshalb können ein böser Vater und eine böse Mutter sehr wohl gute Kinder haben. Das Gute pfeift auf Ursache und Wirkung. Besonders Éponine verkörpert das Geheimnis des Lebens. Als Jean Valjean nach Montfermil kommt, um Cosette zu sich zu holen, und ihr eine schöne Puppe schenkt, ignoriert sie sie und versucht, ihrer Katze Puppenkleider anzuziehen. Dann verliebt sie sich in Marius, der ihr aber mit jener Gleichgültigkeit begegnet, wie sie jemand, der sehr in einen Menschen verliebt ist, für alle anderen empfindet. Das Vorhandensein einer solch profanen, aber starken Liebe in einem sakralen Drama wie Les Misérables macht aus Éponine eine Art Heilige. Denn ihr wird eine Gnade zuteil, wie Maria Magdalena oder der Samariterin. Sie hat die Ehre, das Opferlamm dieses Dramas zu werden. Man könnte fast sagen, sie ist die Priesterin der Liebe zwischen Marius und Cosette.

Marius Pontmercy ist eine komplexe Figur. Er ist der Sohn eines Offiziers, der auf Seiten Napoleons stand, wurde aber von seinem Großvater aufgezogen, der Legitimist (und also gegen Napoleon) war. Mit der Zeit schwört Marius den Lehren seines Großvaters ab und identifiziert sich mit dem Mythos, für den sein verstorbener Vater gelebt hat. Er steht anfangs für jene „abstrakte Wut“, von der Elio Vittorini spricht, und stürzt sich nicht zufällig in die Revolution (einen der vielen Aufstände in den 1830er Jahren, die die Herrschaft König Philipps untergraben und Napoleon zur Macht verholfen haben). Er schließt sich einer Gruppe von „knallharten“ Idealisten an, die angeführt werden von Enjolras (eine Art Saint-Just) und Combeferre (ein Anhänger Rousseaus). Dort findet Marius einen echten Freund, Courfeyrac, dem er seine Liebe zu Cosette gesteht. In einem Umfeld, das von gerechten, aber abstrakten Idealen beherrscht wird, entsteht – wiederum ohne Ursache-Wirkungs-Kausalität – eine konkrete Zuneigung: Freundschaft. Marius durchlebt gewissermaßen zwei Phasen. In der ersten dominieren Todesgedanken: der Tod des Vaters (der mit Marius’ Namen auf den Lippen seinen letzten Atemzug tut), der Wunsch, für das abstrakte Ideal der Gerechtigkeit zu sterben, und dann für die Liebe (als Cosette ihm sagt, dass sie vielleicht für immer fort muss). In der zweiten Phase rettet Jean Valjean ihm das Leben, obwohl er Marius eigentlich hasst, da dieser in Cosette verliebt ist und er in ihm den Grund für sein Unglück erblickt. Auch Marius wird also größer durch dieses Opfer, das „Schrumpfen“, das Jean Valjean immer mehr akzeptiert, als Preis dafür, dass ihm vergeben wurde.

Das Entdecken dieser sakralen, teilweise sogar mystischen Struktur in einem sonst sehr weltlichen Text hat die Richtung für unsere Arbeit vorgegeben. Das Theater ist eigentlich nichts für Protagonisten, die sich klein machen wollen statt die Bühne zu füllen. Und auch (wie die Welt) nichts für Heilige. Es eignet sich nicht besonders für Gestalten, die uns – wenn auch mit vollkommen weltlichen Worten –daran erinnern, dass es eigentlich nur Christus gibt.

Aber das Theater ist auch dazu berufen, nichts auszuschließen, sich aus allem zu nähren und sich durch alles zu erneuern. Deshalb nimmt es auch alles Andersartige auf. Auch Protagonisten, die nicht auf der Bühne glänzen wollen, sondern sich unsichtbar machen. Auch grausame Menschen, die gute Kinder haben. Und es nötigt auch jenes Gute, das manchmal widersinnig erscheint, wie eine Laune der Natur, sich auf die Bestimmung hin auszurichten. Es gibt keinen Unterscheid zwischen „sakralem“ und „profanem“ Theater. Theater ist immer sakral. Eine Welt, die von Maschinen und endloser Reproduktion ihrer selbst beherrscht ist, verträgt überhaupt kein Theater. Denn das Widersinnige erträgt es nicht, wenn ihm der Spiegel vorgehalten wird.

Ein letzter Gedanke zur Existenz des Bösen. Hier (wie zum Beispiel auch in den „Dämonen“ von Dostojewskij oder bei „Pinocchio“) hat das Böse zwei Gesichter: das noble Gesicht Javerts und das niederträchtige Thénardiers. Ein bisschen wie Stawrogin und Werchowenskij in Dostojewskijs Meisterwerk. Oder bei „Pinocchio“ der Lucignolo auf der einen Seite und der Kater und der Fuchs auf der anderen.

Das „noble“ Böse ist gekennzeichnet durch eine rätselhafte Teilnahme am Geheimnis des Guten. Es verhilft diesem zum Sieg und verdient so einen besonderen Tod: Javert und Stawrogin begehen Selbstmord, Lucignolo stirbt elendiglich als ein Esel. Zu ihrem Tod schreiben die Autoren wunderschöne Seiten und lassen ihnen ein pompöses Begräbnis angedeihen. Das „niederträchtige“ Böse dagegen ist das eigentlich Böse. Seine Vertreter (Thénardier, Werchowenskij, der Kater und der Fuchs) sterben nicht. Sie sind gewissermaßen unsterblich, weil sie es nicht wert sind zu sterben. Denn sie gehören von vorneherein dem Nichts an. In diesem Sinne stehen Éponine und Gavroche, die Kinder Thénardiers, für die Schöpfung. Sie sind Zeichen dafür, dass Gott aus dem Nichts schaffen kann, was er will.

Nach dieser umfangreichen Arbeit, für die ich sehr dankbar bin, muss ich sagen, dass ich nicht verstehe, wie Hugo dieses Buch schreiben konnte. Vielleicht könnte nicht einmal er selbst das erklären. Die Struktur von etwas Schönem kann man relativ genau beschreiben, aber die Schönheit selbst entzieht sich uns. Vielleicht erforschen wir das Schöne deshalb so genau. Vielleicht wollen wir nur dieses Unerklärliche und „Ungeschuldete“ besser verstehen. Etwas, das nicht wir gemacht haben, so dass es uns oft sogar zum Ärgernis wird. Vielleicht ist es genau deshalb so schwer zu akzeptieren. Wir suchen immer nach Erklärungen, wir wollen das Bild neu „zusammensetzen“. Wir mögen es, wenn jemand es uns zurückführt auf das, was wir schon wissen und kennen. Das gibt uns ein Gefühl der Sicherheit. Aber je mehr wir das Schöne lieben, desto mehr wird uns klar, dass man die Schönheit (eben weil sie so „wehrlos“ ist) nicht zähmen kann. Man kann ihr nur nahe bleiben. Wie eines der schönsten Lieder unserer Tradition sagt: „Qui presso a te Signor, restar vogl´io.“ („Hier bei dir, Herr, will ich bleiben.“)

* Luca Doninelli, geboren 1956 in Leno (Brescia), ist Schriftsteller, Dramaturg und Theaterkritiker. Zu seinen Werken, für die er diverse Preise gewonnen hat, zählen I due fratelli (1990), Conversazioni con Giovanni Testori (1993), La nuova era (1999), Tornavamo dal mare (2004), Cattedrali (2011) und Le cose semplici (2015).