Mon frère imitant le «scherzo», Ungarn , 1919. ©Donation André Kertész

André Kertész. Den Augenblick verherrlichen

„Ich liebe es, das aufzunehmen, was es verdient, fotografiert zu werden. Letztlich ist das ganz einfach die Welt – auch in den Momenten, in denen sich ihre bescheidene Gleichförmigkeit zeigt.“
Giuseppe Frangi*

Es ist besonders der Alltag, der Kertész zum Staunen brachte und der zu seinem bevorzugten Motiv wurde. Eine Ausstellung im Centro Culturale di Milano würdigte die Kunst des Ungarn, der sich fern von jeglichen intellektuellen Moden immer wieder neu erfunden hat.

„Ich bin ein Amateur und werde mein ganzes Leben lang einer bleiben.“ Diese Aussage mutet ein wenig seltsam an für jemanden wie André Kertész, der als eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der Geschichte der Photographie gilt. Um seine Bedeutung zu verstehen, genügt die Aussage des großen Henri Cartier-Bresson: was auch immer wir sehen würden, Kertész hätte bereits zuvor gesehen. Dem bedeutenden Photographen widmet das Mailänder Kulturzentrum bis zum 19. März die Ausstellung Lo stupore della realtà [Das Staunen über die Wirklichkeit]. Sie zeigt mehr als 90 Werke des ungarischen Künstlers.
Häufig wird über Kertész gesagt, er habe „ein Auge im Taschenformat“; eine ebenso knappe wie brillante Definition, um seine Wesensart und Vorgehensweise zu erklären. Was seine Wesensart betrifft, so war er jemand, der sich aus dem Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit fernhielt, der Kunsteffekte und hervorstechende Situationen mied, weil er die Normalität als den einzigen, interessanten Ausgangspunkt für seine Arbeit als Photograph betrachtete. Was seine Vorgehensweise angeht, so verwendete er kleine Kameras, die er oft unter seinem Mantel versteckt hielt, um unbemerkt von seiner Umgebung arbeiten zu können. Der Gegenstand seines Interesses sollte von ihm gänzlich unbeeinflusst ein einfacher Teil der Realität bleiben.

© Donation André Kertész

Diese Arbeit führte Kertészs im Laufe der Zeit weit über die Grenzen seines Heimatlandes hinaus. Im Jahr 1894 in Budapest geboren, zog er 1925 nach Paris, bevor er 1931 die USA zu seiner Wahlheimat machte. In seinem Heimatland Ungarn arbeitete Kertész noch mit einem kleinen Ica-Apparat, bis er in Paris damit begann, eine Leica zu verwenden, deren Potenzial er als erster erkannte. Dies war ein kleiner Apparat, dessen erste Modelle ab 1925 auf dem Markt verfügbar waren und den er ab 1928 nutzte.

Kertész lässt sich kaum einer Schule oder Richtung der Fotografie-Geschichte des 20. Jahrhunderts zuordnen, weil er keinen stilistischen Vorgaben folgte. Aus diesem Grund konnte er immer wieder in ganz neue und überraschende Bereiche der Photographie vordringen, an denen sich alle an der Photographie Interessierten sofort orientierten.
Kertész bevorzugte für seine Arbeit Umgebungen, die von Alltäglichkeit und Vertrautheit geprägt waren. Doch innerhalb dieser scheinbar engen Horizonte zeigte er eine überraschende Fähigkeit, Neues zu entdecken, so als ob ihn die Nähe zu diesen Szenerien dazu ermutigte, neue und mitunter wagemutige Perspektiven zu erproben. Beispielsweise wird auf einem Foto, das er als Jugendlicher in Ungarn geschossen hat, die große Sanftheit deutlich, mit der er die Hände seiner Mutter verewigte. Auf einer anderen Aufnahme überrascht er mit der Abbildung seines Bruders im kühnen Gegenlicht, als dieser wie der Akrobat eines Schattentheaters durch die Luft springt.

Über sich selbst sagte Kertész: „Ich bin zwar eher introvertiert, aber mein Blick ist ganz offen für alles um mich herum“, und fügte hinzu: „Ich liebe es, das aufzunehmen, was es verdient, fotografiert zu werden. Letztlich ist das ganz einfach die Welt – auch in den Momenten, in denen sich ihre ganze Gleichförmigkeit zeigt.“ Dem französischen Kritiker Noël Bourcier zufolge zeige sich genau darin Kertészs Besonderheit: seine Fähigkeit, die unscheinbaren Momente des Alltags zu „verherrlichen“. „Verherrlichen“ bedeutet, die Wirklichkeit, also auch die vermeintlich unbedeutendsten Momente als unerschöpfliche Quelle von Überraschungen zu betrachten. Kertész formulierte das wie folgend: „Ich fotografiere das Alltagsleben. Das, was zuvor bedeutungslos erschien, erhält dank eines neuen Blickes auf sich ein neues Leben“.
Diese Haltung ermöglichte es Kertész, sich nicht von intellektuellen Fragen stoppen zu lassen und sich immer wieder neu zu erfinden. Das zeigte sich auch in seinem Umgang mit führenden Vertretern der Pariser und der amerikanischen Kulturszene, denen er mit der offenen Neugierde eines kleinen Jungen gegenübertrat. Im Atelier von Piet Mondrian, einem der wichtigsten Vertreter der abstrakten Kunst, fotografierte Kertész von Mondrian unbemerkt kurzerhand dessen auf einem Tischchen abgelegte Pfeife und Brille. Die dadurch entstandene Fotografie spiegelt auf solche Weise wirkungsvoll die Persönlichkeit Mondrians wieder, obwohl er gerade nicht abgebildet ist. Wahrscheinlich gibt es kein einziges Portrait, das sein Wesen mit solcher Scharfsinnigkeit zeigt.

Schnappschüsse dieser Art weisen darauf hin, wie sehr Kertész sich von allen Dingen zum Staunen bringen ließ. Für ihn zählte nicht die Frage, ob seine Art zu fotografieren visuell und kulturell mit seinen vorhergehenden Arbeiten übereinstimmte, sondern das Anwenden des Instinkts des „geborenen Fotografen“, der keinem vorgefertigten Schema folgt. Aus diesem Grund waren ihm Perfektion und Virtuosität zuwider und er korrigierte seine Bilder in der Dunkelkammer nie: Was die Kamera aufgenommen hatte durfte nicht verändert werden.

La fourchette, Paris, 1928. ©Donation André Kertész

Das ist einer der Gründe, weshalb er keine spektakulären Situationen für seine Arbeit wählte. Eine seiner berühmtesten Aufnahmen (aus dem Jahr 1928) zeigt beispielsweise nur eine Gabel und einen Teller am heimischen Tisch. Statt dieses Motiv mit viel Raffinesse, Eleganz und Abstraktion in Szene zu setzen, wollte Kertész es in seiner Umgebung mit seiner Verwendung zeigen. So zeigt das Bild eine Gabel, die wie in einer Pause während des Abendessens kurz auf dem Teller abgelegt worden ist. Genau wie in den vorherigen Beispielen war er dabei keiner ästhetischen Intuition gefolgt, sondern der Überwältigung des eigenen Staunens angesichts einer im kleinsten Detail entdeckten Schönheit. Dazu schrieb er: „Die Kunst des Fotografen ist eine nie endende Entdeckung, die Geduld und Zeit erfordert. Die Schönheit einer Fotografie liegt in der Wahrheit, die sich in ihr zeigt“.

Kertész Wagemut führte ihn im Laufe der Zeit auch in andere Bereiche der Fotografie: im Jahr 1933 beauftragte ihn die französische Zeitschrift Sourire, „Aktbilder anzufertigen, die dem Genre eine völlig neue Richtung verleihen sollen“. Ohne zu zögern nahm er den Auftrag an. So entstand die berühmte Serie der Verzerrungen. Wie der Titel bereits andeutet besteht diese Sammlung aus Aufnahmen, die Frauenakte durch Zerrspiegel zeigt. Obwohl dieses Experiment von vielen Kritikern als Stilbruch zurückgewiesen wurde, war es eigentlich „frei von jedem Stil“. Tatsächlich beeinflussten diese Bilder letztendlich viele Künstler, Fotografen und Regisseure und änderten deren Blick. Hier bewahrheiten sich die Worte Cartier-Bressons erneut: Kertész hat die Dinge vor den anderen gesehen.

Le Pont des Arts vu à travers l’horologe de l’Institut de France, Paris, 1929-1932. ©Donation André Kertész

Ein „geborener Fotograf“ zu sein bedeutet, dass jede Situation es wert ist, fotografiert zu werden. Als Kertész zweite Frau Elisabeth 1977 starb, zog sich in seine Wohnung am Washington Square Park zurück. Aber selbst in diesem äußerten Lebensumstand wurde sein Rückzug zu einer Öffnung: er begann, mit einer Polaroid Kamera aus seinem Fenster zu fotografieren, woraus ein Buch mit dem einfachen Titel From my Window entstand. Dazu hatte er kleine Gegenstände auf der Fensterbank oder aber Alltagsszenen von oben und aus großer Entfernung fotografiert. Zum ersten Mal experimentierte er dabei auch mit Farbfotos. All diese kleinen Wunder, die aus dem Nichts entstanden sind, erzählen uns von einem Blick, der sich immer die Fähigkeit zu staunen bewahrt hat und gleichzeitig von einer unstillbaren Sehnsucht verwundet ist.

Le Balcon, Martinica, 1. Januar 1972. ©Donation André Kertész

Auf dieser Seite sind einige der mehr als neunzig Aufnahmen von André Kertész (1894-1985) aus der Ausstellung „André Kertész. Lo stupore della realtà“ im Centro Culturale di Milano zu sehen. Die Ausstellung, kuratiert von Roberto Mutti und konzipiert von Camillo Fornasieri, umfasst auch ein Video mit Zeugnissen zeitgenössischer Fotografen.
(www.centroculturaledimilano.it)

*Journalist und ehemaliger Herausgeber der monatlich erscheinenden Zeitschrift Vita. Er arbeitet für zahlreiche italienische Zeitungen, ist Gründer und Präsident des Vereins Giovanni Testori Onlus und Autor des Kunstblogs Robe da chiodi.