Raffael. Liebreiz und Größe
2020 jährt sich der Tod des Malergenies Raffael zum 500. Mal. Er wurde nur 37 Jahre alt, hinterließ aber ein umfangreiches und einmaliges Werk. In Rom ermöglicht nun eine große Ausstellung einen neuen Blick auf sein Werk.„Geboren also wurde Raffael in Urbino, einer in Italien sehr bekannten Stadt, im Jahr 1483, am Karfreitag um drei Uhr nachts, einem Vater namens Giovanni Santi, nicht sehr ausgezeichnetem Maler, einem Manne aber von gesundem Verstande.“ So detailliert beschreibt Giorgio Vasari in dem Raffael gewidmeten Kapitel seiner berühmten Vite die Umstände von dessen Geburt. Er weist außerdem darauf hin, dass sein Vater Giovanni, der ihm diesen Namen als „gutes Vorzeichen“ gegeben habe, darauf bestanden habe, dass sein einziger Sohn von der Mutter, und nicht wie üblich von einer Amme, gestillt werde. Für Vasari wird diese liebevolle mütterliche Zuwendung geradezu zum Schlüssel für dieses Genie, das es immer einzigartig verstanden habe, Größe mit Liebreiz zu verbinden.
Raffael ist nicht sehr alt geworden. Trotz der väterlichen Fürsorge starb er bereits im Alter von 37 Jahren am 6. April 1520, vor fast genau 500 Jahren. Sein kurzes Leben war geprägt von beeindruckender Reife und Produktivität bereits in jungen Jahren. Dazu mag es genügen, daran zu erinnern, dass er bereits 21-jährig mit der Vermählung Mariens, die sich heute in der Pinacoteca di Brera in Mailand befindet, ein Meisterwerk von absoluter Perfektion geschaffen hat. Dieses Gemälde war so neuartig, dass es Raffaels Lehrer Perugino in eine schwere Depression stürzte. Was die Produktivität angeht, so hatte Raffael aufgrund der enormen Fülle an Aufträgen, die er erhielt, bereits während seines langen Aufenthaltes in Rom eine richtige Werkstatt gegründet, in der er nach modernsten Methoden arbeitete, durch die er die Projekte in allen Phasen kontrollieren konnte.
Im dieser Werkstatt im Palazzo Caprini arbeiteten Dutzende von Künstlern und Gehilfen. Im Mittelpunkt des kreativen und produktiven Prozesses standen die Zeichnungen, die eine entscheidende Funktion für die Vermittlung der konzeptionellen Ideen an das Team hatten. Der Kunsthistoriker John Shearman, der die Raffael-Forschung mehr als jeder andere vorangebracht hat, erklärt: In dieser Werkstatt gab es „einen Transfer von Energien, den wir in der modernen Technologie als einen Abzug von Ressourcen aus der Produktion beschreiben würden, um sie in Forschung und Entwicklung zu investieren“. Bezeichnend für die Produktivität Raffaels ist zum Beispiel die Anzahl seiner Madonnen, ein Bildsujet, das vielleicht mehr als jedes andere seinen Ruhm, oder besser seine Beliebtheit im Volk, begründet hat. Gut 45 solcher Werke werden ihm persönlich oder seiner Werkstatt zugeschrieben, und diese wurden millionenfach kopiert. Den Raffael „der liebreichen Madonnen“ nennt ihn John Pope-Hennessy, der große Kenner der Italienischen Renaissance.
Man denke nur an eine der berühmtesten, die Sixtinische Madonna. Sie wurde für eine Kirche in Piacenza gemalt, dann an einen deutschen Fürsten verkauft und ist nun in Dresden. Dostojewski sah in ihr „das größte Meisterwerk des menschlichen Genies“ (wie seine Frau Anna Grigorewna überliefert hat). In vielen seiner Romane findet sie Erwähnung. In den Dämonen zum Beispiel nennt Stepan Trofimowitsch sie die „Königin der Königinnen“ und das „Ideal der Menschheit“.
Bei der wichtigen Ausstellung, die zu Raffaels 500. Todestag im Palazzo delle Esposizioni in Rom geplant war [die Ausstellung wurde wegen der Coronakrise am 5. März geschlossen. Hier eine Online-Tour durch die Galerie], wird unter anderem eine weitere seiner berühmten Madonnen zu sehen sein: die Alba-Madonna, die heute in der National Gallery in Washington hängt, aber bis 1686 in der Kirche Santa Maria del Monte in Nocera dei Pagani war. Dann wurde das Bild verkauft an den spanischen Vizekönig von Neapel und gelangte schließlich durch Erbfolge an die Herzöge von Alba, daher sein Name.
Es ist ein Bild von solcher Perfektion, dass es einem fast den Atem verschlägt. Und doch entdeckt man, wenn man es genau analysiert, dass dieses Gefühl größter Ausgewogenheit, das auch durch das runde Format begünstigt wird, das Ergebnis einer kühnen Komposition ist. Das Zentrum des Werkes ist nach links verschoben: Maria, das Jesuskind und Johannes haben alle ihre Augen auf das dünne Kreuz gerichtet, das aus zwei zusammengebundenen Rohrstöcken besteht. Marias verlängerter Arm hält die ganze Gruppe auf dieser Seite des Bildes zusammen. Sie sitzt direkt auf dem Boden. Dieses ikonographische Modell betont ihre Demut. Durch diese Körperhaltung gelingt es Raffael, Maria mehr in den Vordergrund des Bildes zu rücken, so dass wir das Gefühl bekommen, sie sei uns unmittelbar nah. Doch Raffaels Größe zeigt sich vor allem an jenem subtilen Kontrast zwischen der schmerzhaften und tiefen Sehnsucht, die man in Marias Blick auf das Kreuz erkennt, und der unglaublich heiteren Landschaft, die fast ein Vorgeschmack auf das Paradies zu sein scheint.
Harmonie entsteht bei Raffael nie durch eine schlicht idealisierende Sicht, sondern ist immer das Ergebnis einer unmerklichen dramatischen Spannung, die sich durch seine Werke zieht – jedoch nie ganz offensichtlich zutage tritt. Auch die Sixtinische Madonna, die nicht nur Dostojewski, sondern auch Goethe, Novalis, Bulgakow, Florenski und sogar Freud Bewunderung abrang, verdankt ihre Schönheit dem, was sie tut. Mit dem Kind auf dem Arm kommt sie uns durch ein Fenster aus Licht entgegen. Sie überschreitet gewissermaßen eine Schwelle, betritt den Schauplatz der Geschichte mit einer Gewissheit, aber auch unvermeidlicher Beklemmung. Tatsächlich war dieses Bild an seinem ursprünglichen Standort, in der Kirche San Siro in Piacenza, ja über dem Altar angebracht. Damit bringt Maria symbolisch ihren Sohn als eucharistisches Opfer dar. Die beiden berühmten Engel am unteren Rand schauen gewissermaßen dabei zu.
In der Ausstellung in Rom ist ein weiteres Werk zu sehen, das für Raffaels Vorgehensweise selbst bei scheinbar traditionellen Kompositionen bezeichnend ist, nämlich die Verzückung der heiligen Cäcilia. Sie wurde 1518 im Auftrag der später seliggesprochenen Adeligen Elena Duglioli aus Bologna gemalt. Cäcilia steht in der Mitte, umgeben von vier weiteren Heiligen, die wie die lebendigen Säulen eines Gebäudes wirken, in dem sich ihre Vision abspielt. Als Raffael das Werk in Rom fertiggestellt und nach Bologna geschickt hatte, sorgte er dafür, dass es ein Künstler seines Vertrauens, Francesco Francia, zuerst erhielt, um eventuell durch den Transport verursachte Schäden zu beheben. Vasari erzählt, dass dieser, als er die Kiste öffnete und das Werk sah, „halb tot“ gewesen sei „vor Schreck über die Schönheit des Gemäldes, das ihm da vor Augen trat“. Eine ziemlich außergewöhnliche Formulierung: Raffaels Malerei ist nicht mehr nur eine Darstellung, sondern etwas, das einem wie das Leben selbst „vor Augen tritt“. Es ist kein Zufall, dass das Adjektiv, das die Betrachter dieses Meisterwerks am häufigsten verwendeten, „lebendig“ war. „Es stimmt, dass man andere Gemälde als Gemälde bezeichnen kann, aber die von Raffael sind lebende Dinge“, kommentiert Vasari.
Ein bedeutender französischer Kunstkritiker, Daniel Arasse, stellte in seiner Analyse dieses Bildes fest, das Gesicht der Heiligen gehorche scheinbar einem Idealtypus, sei in Wirklichkeit aber höchst individuell durch seine übermäßige Breite, die den Betrachter geradezu „verwirren“ könne. Aus dem Haarknoten löst sich eine Strähne, die ihr auf die Schulter fällt. Und der Hals Cäcilias ist „so raffiniert behandelt“, dass man die kleine Kuhle in der Mitte sieht. Das ist genau der Punkt, in den der Henker beim Märtyrertod der Heiligen seine Klinge versenken wird. Schönheit beinhaltet bei Raffael immer Dramatik, manchmal mehr implizit, manchmal explizit wie bei diesem Meisterwerk, das seine Zeitgenossen erschreckte, weil es „zu viel Leben“ zeigte. (Aber auch uns verwirrt es, sobald wir es mehr als oberflächlich anschauen.)
Man sollte die Gemälde Raffaels nicht zu banal betrachten. Er selbst scheint uns aufzufordern, mit den von ihm dargestellten Personen vertrauter zu werden, ohne sie zu stark zu idealisieren. Dies gilt auch für sein absolut modernes Selbstporträt, das der Louvre für die Ausstellung zur Verfügung gestellt hat. Der Künstler posiert zusammen mit einem Freund, über dessen Identität viel spekuliert wurde. Ein wenig nach rückwärts gewandt, legt Raffael ihm vertraut die Hand auf die Schulter. Der Freund seinerseits streckt die Hand nach vorne aus zum Betrachter, als wolle er diesen in die Beziehung mit hineinziehen. Von diesem Gemälde geht eine ungeheure Kraft aus, die vor allem durch das wenig Formale zum Ausdruck kommt. Vielleicht wollte Raffael uns einladen, näher zu kommen und weniger vorhersehbar, sondern mit mehr Abenteuerlust auf seine Werke zu schauen. Die Ausstellung in Rom könnte eine gute Gelegenheit dazu sein.
(aus Tracce, März 2020)