Im Netz, aber ohne Netz und doppelten Boden

Eine junge Lehrerin berichtet, wie sich in der Coronakrise ihre Sicht auf die Schule und ihre Schüler verändert hat. Es geht nicht mehr darum, die Schüler „unter Kontrolle zu halten“, sondern ihre Freiheit herauszufordern.
Paolo Perego

„Ausgerechnet jetzt, wo ich ein perfektes Gleichgewicht gefunden hatte und alles gut funktionierte, in jeder Klasse: der Zeitplan, die Proben, das Abfragen, die Klassenarbeiten. Und es war auch eine schöne Atmosphäre mit den Schülern. Sie waren interessiert, hörten zu. Es machte mir Spaß, mich mit ihnen über alles Mögliche zu unterhalten. Dann wurden die Schulen geschlossen!“ Marta Maj ist 35 Jahre alt und Lehrerin in Mailand. Sie unterrichtet Italienisch in drei Klassen einer technischen Oberschule.

Jetzt muss sie ihren Unterricht per Video machen. Doch das ist gar nicht so leicht. „Es war verrückt. Ich arbeite normalerweise sehr viel. Und ich wohne mit Leuten zusammen, die im Gesundheitssektor tätig sind. Ich konnte nicht einfach zu Hause bleiben und die Hände in den Schoß legen! Ich habe die ganze Zeit überlegt, was ich für meine Schüler tun könnte.“ Am 22. Februar hatten sie den letzten Präsenz-Unterricht. Kurz zuvor war in Codogno das Virus ausgebrochen. Ein Schüler aus der neunten Klasse fragte: „Haben sie keine Angst, Frau Maj?“ Daraus entspann sich eine Diskussion. Ein anderer Schüler meinte: „Genießen wir einfach das Leben“, und zitierte dazu einen Rapper. „Das wäre eine Option …“, erwiderte Marta. „Wenn das Leben nicht in unseren Händen liegt, wie man so sagt, dann könnten wir es uns einfach gutgehen lassen. Oder in Panik verfallen. Aber seid ihr sicher, dass es keine anderen Möglichkeiten gibt? Wenn das Leben nicht in unseren Händen liegt, welche Bedeutung hat es dann eigentlich?“ Die Frage blieb zunächst offen.

Dann wurden die Schulen geschlossen. Marta las einen Zeitungsartikel, in dem die gleichen Fragen gestellt wurden, wie sie in der Klasse aufgetaucht waren. „Ich schickte ihn einigen meiner Schüler und fragte sie, ob das, was wir zur Zeit erlebten, eine Chance sein könne, oder ob wir dazu verdammt seien, uns zu langweiligen oder zu ängstigen.“ Einige der Schüler bedankten sich bei ihr für den Artikel. „Nach der Faschingswoche war es schwierig, den Unterrichtsbetrieb unter den veränderten Bedingungen wieder aufzunehmen. Doch gleich kamen auch die ersten Überraschungen.“ Zu einer Lehrerkonferenz verbanden sich 180 Personen per Skype. „Das war sehr schön. Normalerweise wird da diskutiert und gestritten. Man beruft sich auf die Gewerkschaften und schimpft über die Behörden. Doch diesmal suchten alle nach Lösungen, teilweise zwar abwegige und nicht erlaubte … Manche Lehrer haben ihre Schüler zum Beispiel in den sozialen Netzwerken kontaktiert. Aber alle arbeiteten zusammen.“

Am Dienstag die nächste Überraschung: „Der erste Unterricht per Videokonferenz. Ich hatte den Schülern eine Mail geschickt, zweifelte aber, ob sie die Nachricht gelesen hätten. Die erste am Morgen war die Abiturklasse. Beginn sollte um 10.00 Uhr sein. Alle waren da! Das gleiche danach bei den beiden neunten Klassen. Einer der schlechteren Schüler schrieb mir sogar, er könne die Materialien nicht herunterladen und mache sich Sorgen, dass er die Hausaufgaben nicht erledigen könne. Ich war gerührt.“



So waren also alle „vernetzt“. „Eine neue Erfahrung für uns alle.“ Da war der brave Schüler, der schon bereit vor seinem Laptop saß. Der nächste mit seinem Smartphone noch beim Frühstück. Auf dem Bildschirm sah man, wie die Katze über den Tisch lief. Ein weiterer erklärte ohne Scheu: „Frau Maj, ich liege noch im Bett!“ „Ich habe ihm geantwortet: ‚Hauptsache, du bist da.‘ Alle waren da, und alle haben aufgepasst! Ich dachte mir: Das kommt daher, dass wir schon eine Beziehung haben, die trägt. Und nicht, weil sie gezwungen sind.“ Diesmal saßen alle in der ersten Reihe, „so frei, wie sie es in der Klasse sonst kaum je sind.“ Die in der Abiturklasse hatten ihre Kameras und Mikrophone immer eingeschaltet, damit sie jederzeit etwas sagen konnten. „Und es war gar nicht chaotisch. Sie waren sehr diszipliniert. Man muss natürlich die Aufgaben so stellen, dass sie direkt mündlich darauf antworten können. Und in den Neunten habe ich zum Beispiel Wettkämpfe via Chat veranstaltet.“

Manche ließen zunächst ihre Kameras aus. „Doch dann haben sie sich nach und nach überzeugen lassen, sie einzuschalten. So kam ich virtuell zu ihnen nach Hause. Sie ließen mich herein. Ich sah das, was sie von sich selbst und von ihrem Leben zeigen wollten. Denn genau wie ich haben sie sich natürlich vorher angeschaut, wie ihr Hintergrund wirkt.“ Das ist, als stünde man vor einem Gemälde, nur mit größerem Abstand: „Ich habe dabei Dinge erfahren, die ich vorher nicht wusste. Das ist ein ganz neuer Blickwinkel. Ich schaue jetzt ganz anders auf meine Schüler.“

In diesen Tagen wird viel von Marta verlangt. Sie möchte ihren Schülern nahe sein, sie beobachtet, wie sie mit dieser Situation umgehen. Sie werden ja weniger kontrolliert. „Es geht nicht mehr so sehr darum, wie ich sie ‚unter Kontrolle‘ halte, sondern um ihre Freiheit, ob sie mitmachen und mir folgen wollen.“ Das ist etwas ganz Neues: „Man hat keine Macht. Wir sind im Netz, aber ohne Netz und doppelten Boden. Wenn man in die Klasse geht, dann ist außer der physischen Präsenz, oft auch unbewusst, der Hintergedanke dabei, wie ich durch mein Verhalten erreiche, dass sie aufpassen und dranbleiben. Aber im Moment hängt alles von ihrer Freiheit ab. Sie könnten auch ‚abwesend‘ sein, obwohl sie vor dem PC sitzen.“

Doch inzwischen melden sich sogar die Schüler, die am Anfang ihre Kamera gar nicht einschalten wollten, und wollen etwas sagen. „Ob das lange anhalten wird? Das hängt nicht von mir ab. Es geschieht entweder, oder nicht.“ Und die Tatsache, dass es weiterhin unklar ist, wann die Schüler „real“ in die Schule zurückkehren können, macht die Herausforderung noch etwas größer – und „interessanter“, meint Marta. Ein Schüler sagte am Ende einer virtuellen Stunde: „Frau Maj, ich würde so gerne wieder in die Schule gehen …“ Und sie antwortete: „Seht ihr? Wir sind für das Leben geschaffen und nicht für den Stillstand.“

„Ich hatte tausend Pläne mit meinen Schülern. Ich wollte auch ein paar Fragen vertiefen. Ich wollte sie zu Treffen von GS einladen, wo es um solche Fragen geht. Ich dachte, es hinge von mir ab. Doch jetzt verändert sich etwas, in ihren Herzen. Das erkenne ich aus den Nachrichten, die sie mir schicken. Sie haben Angst vor der Langeweile, sie haben Angst, dass sie nichts tun können. ‚Das kommt daher, dass wir vor Leben brennen!‘, habe ich einem von ihnen geschrieben.“

Auf verschiedenen Ebenen gibt es jetzt (mehr oder weniger konfuse) Initiativen, die die Frage aufwerfen, was diese Zeit für uns bedeuten kann, erklärt Marta. „Ich tausche mich mit einer befreundeten Kollegin dazu aus, auch um gemeinsam zu einem Urteil zu kommen angesichts der vielen Kollegen, die jetzt mit mir darüber sprechen wollen.“ Man muss auf das schauen, was schon da ist, auf die neue Art von Beziehungen mit den Schülern, die sie auch untereinander verbindet, sie unterstützt und reifer werden lässt. „Die Didaktik ist jetzt natürlich weniger wichtig. Aber wenn wir wieder in die Schule gehen dürfen, dann wird man uns am Stuhl anbinden müssen, um uns ruhig zu halten, so groß werden unsere Freude und Lust sein.“