Ezio Bosso. Musik ist etwas Notwendiges
Der italienische Komponist, Dirigent und Pianist Ezio Bosso begeisterte jahrzehntelang mit seinen Auftritten das Publikum in aller Welt. Am 15. Mai ist er im Alter von nur 48 Jahren gestorben. Das folgende Interview hatte Tracce 2018 mit ihm geführt.„Das Klavier ist für mich wie ein Bruder. Denn ich brauche die körperliche Beziehung zur Musik, und dieses Instrument gibt sie mir jeden Tag.“ Mit seinen Stiefeletten, Röhrenjeans und breiten Ledergürteln schien Ezio Bosso gar nicht in die Welt der klassischen Musik zu passen. Aber er trat als Dirigent und Pianist in den renommiertesten Häusern der Welt auf, vom Opernhaus in Sydney bis zur Carnegie Hall in New York, von der Royal Festival Hall in London bis zur Mailänder Scala. Außerdem komponierte er Soundtracks für das Kino, und Claudio Abbado „vererbte“ ihm seine Association Mozart14, deren internationaler Botschafter er war.
Mehr als seine internationalen Erfolge bedeutete Bosso aber sein Flügel, der ihm nach der erzwungenen Pause 2011 half, zur Musik zurückzukehren. Damals wurde bei ihm nach der operativen Entfernung eines Hirntumors eine schwere Autoimmunerkrankung diagnostiziert. Mit 38 Jahren musste er praktisch von vorne anfangen, musste wieder sprechen, gehen und das Bewegen der Finger üben. Und schließlich auch wieder lernen, Klavier zu spielen. „Es war, als wäre ich neu geboren worden“, sagte er einmal. „Die Veränderungen in meinem Körper haben mich dazu geführt, noch tiefer in das einzutauchen, was ich gerne tue.“
Nur langsam kämpfte er sich in die Welt der Musik zurück. Doch irgendwann hatte er den Mut, etwas zu tun, was er noch nie getan hatte. 2015 überraschte er den Plattenmarkt mit einer Doppel-CD (The 12th Room) und einer Solo-Tournee. Das Album landete auf Platz 3 der iTunes-Charts, zwischen Adele und Coldplay. Im Februar 2016 trat er beim Sanremo-Festival auf, dem wichtigsten Popmusik-Wettbewerb Italiens. 2018 wurde er zum Chefdirigenten des Teatro Verdi in Triest ernannt. Auch sein Flügel hat sich in diesen Jahren mit ihm verändert. Die Veränderungen waren notwendig, damit er spielen konnte, obwohl er nicht mehr so wie früher sitzen konnte. Und der Anschlag musste leichter werden, weil seine Finger nicht mehr so viel Kraft besaßen. Deshalb nahm er auf seine Tourneen nun immer seinen Flügel mit. Ein bisschen wie Rachmaninow und die großen Pianisten der Vergangenheit. Aber bei ihm waren das keine Starallüren, sondern reine Notwendigkeit. Als Tracce ihn besuchte, lagen auf seinem Klavier die Noten für das Weihnachtsoratorium von Bach.
Was bedeutet Musik für Sie?
Das ist die schwierigste Frage überhaupt. Musik ist etwas, das wir in uns tragen. Wir leben und bewegen uns in ihr. Der Wind, der die Bäume rüttelt, der Regen auf dem Meer, aber auch Trauer und Freude. Die Schöpfung ist schon Musik. Sie ist einfach da, unabhängig von uns. Der Mensch hat dann versucht, dieses Erhabene niederzuschreiben, damit er es wiederholen kann, wenn man es nicht hört. Denn Musik ist, wie alle Schönheit, etwas Notwendiges. Die eigentliche Frage ist also nicht, was Musik für mich bedeutet, sondern was ich für die Musik tun kann.
Und was können Sie für die Musik tun?
Das ist der Grund, warum ich spiele und versuche die vielen Grenzen zu überwinden, die das Leben mir auferlegt hat. Die Musik fordert mich auf, mich selbst zu vergessen, um dieses andere zu werden. Ich soll es verstehen und „in mich aufnehmen“. Die Musik ist dieses Opfer. Opfer, auf Lateinisch „sacrificium“, bedeutet „heilig machen“. Das ist kein Verzicht, im Gegenteil ... Gerade indem wir uns dem anderen hingeben, können wir an diesem Heiligen teilhaben.
Einer Ihrer Lehrer, Claudio Abbado, pflegte zu sagen, dass Musik uns heilt ...
Musik hilft uns zu leben. Sie bewirkt, dass es uns gut geht. Aber das ist keine Frage der Stimmung. Musik ist keine Energiequelle für Gefühle. Wer Musik schreibt, der tut das, um eine Verbindung zu etwas herzustellen, das wundersam unerklärlich ist. Tatsächlich gibt es keine Religion der Welt, die nicht auch Musik hervorbringt. Musik heilt die Spuren des Leids in unserer Seele, da sie uns einen unmittelbaren Zugang zu unserem Wesen ermöglicht. Wir erkennen, dass wir Teil dieses Plans sind, den wir nicht in der Hand haben, dieses Geheimnisses, in das wir von Anfang an eingetaucht sind.
Wie haben Sie Ihr Talent entdeckt?
Schon mit drei Jahren war ich von Noten und Instrumenten fasziniert. Natürlich wollte ich auch essen und spielen, aber vor allem wollte ich Musik. Weil ich einfach glücklicher war, wenn ich sie hörte. Als ich vier Jahre alt war, schickten mich meine Eltern zum Musikunterricht zu einer Tante. Mein Vater war Straßenbahnfahrer, meine Mutter arbeitete bei Fiat: einfache Leute, die sich für Bücher und Kultur verschuldeten. Als ich zehn war, trat ich in ein Orchester ein. Ich spielte Fagott, weil sonst niemand dieses Instrument spielen wollte. Nach sechs Monaten bekam ich dann Asthma. Daher setzte mich der Dirigent, um mich nicht wegschicken zu müssen, an den Kontrabass. Das war der einzige freie Platz im Orchester. Musik kam als eine Hilfe in mein Leben, vielleicht, weil ich sie mehr brauchte als andere. Durch die Musik fühle ich mich geliebt. Und sich geliebt zu fühlen, ist immer auch eine große Verantwortung.
Am Ende einer Bühnenaufnahme haben Sie einmal einer Dame aus dem Publikum, die sich bei Ihnen bedankte, geantwortet: „Danke Ihnen, denn auf der Platte ist jetzt auch Ihr Atem.“ Was bedeutet es, wie Sie oft sagen, dass „Musik wie das Leben ist, man kann es nur gemeinsam tun“?
Weil wir sie vervollständigen müssen. Die Partitur ist auf Papier geschrieben. Ich kann sie lesen und wenn ich sie zuklappe, existiert sie trotzdem weiter. Aber sie ist unvollständig, solange die Töne nicht gespielt werden. Die Musik braucht, um sich selbst zu vollenden, unser gemeinsames Tun. Wozu sonst stimmt man die Instrumente im Orchester aufeinander ab? Das ist keine rein technische Angelegenheit, sondern wir wollen „den gleichen Ton“ haben, also auf die gleiche Art und Weise das gleiche sagen. Und damit das geschieht, müssen wir alle das gleiche Opfer bringen.
Was meinen Sie damit?
Im Orchester ist die ideale Gesellschaft verwirklicht. Die Partitur ist unsere Verfassung, aber wir brauchen zusätzlich das Engagement aller. Der Dirigent muss sich um seine Musiker kümmern, er muss sie kennen. Er muss wissen, ob ein Arm müde ist oder noch mehr belastet werden kann. Und dann gibt es die Arbeit jedes Instruments, die aus stundenlangem Proben, aber vor allem aus Hinhören besteht. Ohne diese Fähigkeit, auf den anderen zu hören, kann man sich nicht verbessern. Wenn der neben mir besser klingt, hilft er nämlich auch mir, besser zu spielen. So entsteht ein Tugendkreis.
Was hat das Publikum damit zu tun?
Ich bin Beethovenianer, in dem Sinne, dass ich denke, Musik sollte den Menschen gehören. Wir sind der Schlüssel, der sie zugänglich machen kann. Selbst das Streben nach Perfektion muss als Dienst verstanden werden. Ich stelle meine Hände zur Verfügung, aber den Rest macht der Zuhörer. Musik ist eine Geste der Großzügigkeit von beiden Seiten.
Was bedeutet Stille für diejenigen, die Musik machen?
Stille an sich gibt es nicht. Selbst das Blut, das in unseren Adern fließt, macht ein Geräusch. Es stimmt, zwischen einer Note und einer anderen, zwischen einem Wort und einem anderen gibt es eine Pause. Aber das ist keine Leere, das ist Spannung. Genau dort wird die Musik geboren, und die Stille ist eine Form des Wartens. Wir schweigen, um etwas anderes zu hören.
Gibt es das auch im Leben?
Ich habe viele Arten von Stille erlebt, ich habe ganze Sammlungen davon. Und ich habe gelernt, sie auszuhalten. Der Mensch von heute dagegen hat große Angst davor. Er hat Angst vor der Peinlichkeit, die das Schweigen bedeuten kann. Und das liegt daran, dass ihm jemand die Illusion in den Kopf gesetzt hat, er sei stark. Das ist eine Lüge. Die Schöpfung zeigt uns, wie klein wir sind. Unsere Kraft liegt nicht in der Stärke, sondern in der Schwäche, darin, dass wir nicht immer Worte haben. Und darin, dass wir uns unserer selbst schämen.
Warum?
Weil es uns zwingt, über uns hinaus zu gehen, neue Verbindungen herzustellen. Wir Menschen sind seltsam, wir erkennen unsere Bedürfnisse immer erst, wenn es dunkel wird. In der Krankheit habe ich gelernt, dass Probleme eine Chance sein können. Und ich habe gespürt, dass die Zeit gekommen war zu handeln. Durch den körperlichen Verfall habe ich ein neues Leben entdeckt, dass keine Filter mehr hat.
Wie Sie in Ihrem berühmtesten Lied Following a bird sagen: „You learn to follow only when you get lost“. Warum muss man sich verirren, um folgen zu lernen?
Wir müssen unsere Vorurteile überwinden, wenn wir lernen wollen, etwas aufzubauen. Und wir müssen anfangen zu fragen. Wenn man sich in einer Großstadt verirrt hat, was macht man dann? Man fragt nach dem Weg. Das setzt voraus, dass man die Fähigkeit hat zu vertrauen.
Bei der Barolo-Stiftung in Turin halten Sie ohne Honorar Workshops mit Kindern, professionellen Musikern, Ensembles ...
Es ist ein Versuch, die Türen zu einer Welt zu öffnen, der klassischen Musik, die immer noch ziemlich verschlossen sind. Das erste, was mir bei der Begegnung mit Menschen auffällt, ist, dass sie durch das Ausüben von Musik schöner werden. Das ist allerdings keine ästhetische Frage. Diese Schönheit bringt etwas Tieferes zum Ausdruck, eine Schönheit, die man nicht anfassen kann. Und von Kindern lerne ich am meisten. Schwierigkeiten sind für sie nie ein Hindernis. Sie sagen sofort, wenn ein Lied ihnen nicht gefällt oder wenn es nicht gut herauskommt. Und bei der gemeinsamen Suche nach einer Lösung wählen Kinder immer den längeren Weg. Sie haben es nicht eilig. Der Weg selber gefällt ihnen, er interessiert sie manchmal mehr als die Lösung. Wir sollten einander so behandeln, wie es Kinder tun.
Musik heilt die Wunden unserer Seele, weil sie uns einen unmittelbaren Zugang zu unserem Wesen ermöglicht. Wir erkennen, dass wir Teil dieses Plans sind, den wir nicht in der Hand haben, dieses Geheimnisses, an dem wir schon Anteil haben ...
Musik heilt die Spuren des Leids in unserer Seele, da sie uns einen unmittelbaren Zugang zu unserem Wesen ermöglicht. Wir erkennen, dass wir Teil dieses Plans sind, den wir nicht in der Hand haben, dieses Geheimnisses, in das wir von Anfang an eingetaucht sind.
Wie sieht die Zukunft der klassischen Musik aus?
Zunächst einmal ziehe ich es vor, sie „freie Musik“ zu nennen. Auch wenn das eine Definition ist, die falsch verstanden werden kann. Sie ist nicht „frei“ in dem Sinne, dass man tun kann, was man will ... Man muss sich an die Partitur halten. Man muss sich ihr sogar vollkommen hingeben. Aber paradoxerweise wird man umso freier, je mehr man sich an sie hält. Wurzeln sind kein Hindernis, sondern die einzige Chance, eine Reise anzutreten. Es gibt nur dann eine Zukunft, wenn wir wieder staunen lernen. Heute wird eher in die Gegenrichtung erzogen. Wenn man sagt, die Musik, die ich vertrete, sei „schwierig“ oder „zu hoch“, dann ist das Manipulation. Man hat mir vorgeworfen, dass ich Menschen unvorbereitet ins Theater bringe. Das macht mich traurig. Wie kann man so etwas über einen jungen Menschen sagen, der zum ersten Mal Tschaikowsky hört und vielleicht tief beeindruckt ist? Man muss nicht erst eine Ausbildung als guter Zuhörer absolvieren, sondern man braucht die Demut, staunen zu können.
Haben Sie Angst vor der Zukunft?
Angst ist ein Teil von mir. Und ich muss mich ihr stellen. Oft frage ich mich: Ist Angst wirklich das natürlichste Gefühl? Angst wird durch das Chaos erzeugt, das um uns herum herrscht. Wenn wir nicht mehr still sein können, dann sehen wir auch die Schönheit vor unserer Nase nicht. Eigentlich leben wir ja immer noch im Garten Eden. Wir müssen nur lernen hinzusehen. Das ist das einzige, was uns dazu bringen kann, einen Schritt über die Angst in uns hinaus zu tun.
Auch wenn wir uns völlig überfordert fühlen?
Vor Konzerten fragen sie mich immer: „Ezio, bist du bereit?“ Und ich antworte: „Nein!“ Ich kann nicht bereit sein, weil ich nicht weiß, was in einer Minute passieren wird. Aber das ist das Schöne daran. Denn es nimmt einem das Problem, gut sein zu müssen. Geh und gib alles, und erwarte alles.