Beethoven und die Sehnsucht des Menschen nach Gott
Am 16. Dezember wird weltweit des 250. Geburtstags von Ludwig van Beethoven gedacht. Er war einer der Lieblingskomponisten von Don Giussani. Hier ein Kommentar zum Violinkonzert op. 61 „Das Thema ist Sinnbild der Sehnsucht des Menschen nach Gott.“*Das letzte und eigentliche Thema der menschlichen Existenz könnte man so zusammenfassen: Der Mensch entsteht aus etwas anderem und erhält alles von einem anderen. Es ist beeindruckend, dass wir uns nichts von dem, was unser Ich ausmacht, selbst gegeben haben. Trotzdem ist es die schlimmste Versuchung des Menschen, sich als autonom zu betrachten. Sie ist so schwerwiegend, dass sie im Grunde mit der Erbsünde zusammenfällt.
Das Violinkonzert von Beethoven, das ich seit fast 50 Jahren immer wieder höre (seit meinen ersten Unterrichtsstunden am Gymnasium Berchet in Mailand), ist für mich zum Symbol dieser größten, hartnäckigsten, unausrottbaren Versuchung des Menschen geworden, sich zum Herrn und Maßstab seiner selbst zu machen – entgegen dem, wie die Dinge ganz offensichtlich stehen. Seit der Teufel zu Eva gesagt hat: „Du wirst nicht sterben, wenn du diese Frucht isst; im Gegenteil, du wirst frei sein, dich emanzipieren, du wirst sein wie Gott und Gut und Böse erkennen“, seit damals hat der Mensch immer wieder versucht, sich auch in der Kultur und in der Liebe zu emanzipieren.
Aber kehren wir zu Beethoven zurück, wie ich ihn vor fast 50 Jahren hörte. Damals hätte man auf den Straßen von Mailand einem Priester begegnen können, der mit einem riesigen Grammophon herumlief. Und wenn man ihn gefragt hätte: „Wohin gehst du?“, hätte er geantwortet: „Ich gehe in die Schule.“ „Und das Grammophon nimmst du mit in die Schule?!“ „Ja, weil die Schule mir ihres nicht leiht, bringe ich eben meins mit.“
Eines der ersten Stücke, die ich meinen Schülern vorspielte, war eben dieses Violinkonzert, mit seinem Grundthema, das sich durch das ganze Stück zieht. Das Leben des Menschen, der Gesellschaft wird durch die Melodie des Orchesters repräsentiert, aus der die Geige dreimal ausbricht, um sich selbst zu behaupten. Und dreimal wird sie von dieser wieder eingefangen, bis sie schließlich ihren Frieden findet, als würde sie sagen: „Endlich!“ Die Geige – das Individuum – ist immer versucht, sich sich selbst zu behaupten und sich loszureißen zu einem flüchtigen Aufschwung. Und genau bei diesem Versuch gibt das Instrument sein Bestes. Deshalb sind die faszinierendsten Motive des Konzertes die der Geige, des Einzelnen, der versucht, sich gegen die anderen zu behaupten. Doch die Geige kann diesen Schwung nicht lange durchhalten. Und zum Glück gibt es das Orchester – die Gemeinschaft –, die sie wieder in sich aufnimmt.
Ich werde mich immer daran erinnern, was für ein Schauer die Klasse erfasste, als ich sie das erste Mal dieses Stück von Beethoven hören ließ. Die Geige bringt solch verzehrende Gefühle zum Ausdruck, dass wir tatsächlich alle in uns selbst versanken. Das Sehnen war so stark, dass ein Mädchen in der zweiten Reihe am Fenster zu schluchzen begann. Und die Klasse hat nicht gelacht. Ich sagte dann nur, der Ort des Friedens sei dort, wo alle unvernünftigen, oder zumindest unvollendeten, instinktiven Ausbrüche wieder zusammengeführt würden: in der Gemeinschaft. Denn was erlaubt es der Geige, ihre drei genannten, einsamen und genialen Aufschwünge zu machen, die friedlichsten Momente im ganzen Konzert? Dass sie getragen wird durch die Gemeinschaft, das Orchesters, zu dem sie jederzeit zurückkehren kann, welches sie dann wieder in sich aufnimmt. Es folgt ihr und nimmt sie jedes Mal wieder auf, wenn sie entflieht.
Die Geige repräsentiert den Menschen, der auf seine momentanen Kräfte, immer isoliert verstanden, mehr vertraut als auf das gemeinsame Bemühen, das aus einem allen gemeinsamen Ursprung und Ziel entspringt. Wie auch immer man sie versteht, die Autonomie des Individuums kann nicht richtig sein, eben weil sie als solche weder wahren Ursprung noch Ziel hat. Deshalb kann aus ihr auch keine Geschichte entstehen. Sie mag eine momentane Gemütsbewegung hervorbringen, aber sobald sie die Wasseroberfläche durchstoßen hat, kann sie nichts mehr tun. Sie hat kein Ziel mehr.
Das tiefe Gefühl, welches das Grundthema dieses Violinkonzert hervorruft (und das Mädchen zum Weinen brachte), ist Sinnbild der Sehnsucht des Menschen nach Gott.
*Den Kommentar hat Don Giussani zu einer Aufnahme des Violinkonzerts für die Reihe Spirto Gentil verfasst.