Paolo Nori

„Gut, dass es mich gibt“

Er liebt die Literatur, weil sie ihm die Wirklichkeit zeigt. Paolo Nori* ist ein italienischer Schriftsteller und übersetzt russische Literatur. Mit Leidenschaft – und einer Wunde im Herzen.
Luca Fiore

„Als ich zum ersten Mal Verbrechen und Strafe las, war ich 14. Dabei stieß ich auf eine Figur, die sich fragte: 'Bin ich wie ein Insekt oder bin ich wie Napoleon?' Und auch ich fragte mich: 'Bin ich etwas wert oder bin ich nichts wert?' Heute bin ich 57 und diese Wunde blutet immer noch. Mir scheint, dass russische Bücher mehr schmerzen als andere. Vielleicht mag ich sie deshalb mehr.“ Paolo Nori wurde in Parma geboren. Heute wohnt er in Bologna. Aber sein Herz lebt in Russland. Er hat Romane geschrieben, ist Dozent für kreatives Schreiben und nicht zuletzt Übersetzer. Er hat auch einige thematische Reisen in die ehemalige Sowjetunion entwickelt, die er „Gogol Maps“ nennt. Dabei zeigt er den Leuten zum Beispiel die Brücke, auf der dem Protagonisten von Gogols Der Mantel sein Mantel gestohlen wurde. Paolo Nori schreibt so, wie er spricht. Oder er spricht so, wie er schreibt. Seinen Emilianer Akzent kann man in seinen Schriften „hören“. Und doch kann er Autoren wie Puschkin, Tolstoi, Bulgakow, Gontscharow, Lermontow Italienisch sprechen lassen. Er hat seiner Leidenschaft auch zwei Bücher gewidmet: La grande Russia portatile [Das große Russland im Taschenformat] und I russi sono matti. Corso sintetico di letteratura russa 1820-1991 [Die Russen sind verrückt. Kleiner Kurs der russischen Literatur von 1820-1991], in denen er über sein Leben spricht und über das seiner geliebten Schriftsteller. Es hat sie quasi miteinander ins Gespräch gebracht. Dort findet sich russischer Humor gepaart mit dem Witz der Emilia-Romagna. Und man spürt zwischen den Zeilen auch die blutende Wunde.

Was ist das für eine Wunde, von der Sie da sprechen? Und inwiefern bringt Sie das den russischen Schriftstellern näher?
Ich weiß nicht, ob ich das erklären kann. Die Selbstwertzweifel werden mich wohl nie verlassen. In meinem Beruf, unter anderem als Romancier, muss man hundert Jahre warten, bevor man weiß, ob das, was man macht, etwas wert ist. Wenn meine Werke in hundert Jahren noch gelesen werden, dann heißt das, dass sie einen Wert haben. Andernfalls nicht. Mich selbst davon überzeugen zu müssen, dass ich gut bin, macht mir Angst. Ich weiß nicht, ob man schreiben kann, wenn man glaubt, dass man gut ist.

Hat das nur mit dem Schreiben zu tun?
Als ich 14 war, interessierte mich künstlerischer Erfolg überhaupt nicht. Ich wollte die Welt sehen und tolle Dinge erleben. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich meinen Weg gefunden hatte. Dann aber habe ich meinen Job gekündigt und mich für ein Fremdsprachenstudium eingeschrieben. Und ich ging zum Studieren nach Russland. Mit 33 Jahren beschloss ich schließlich, Schriftsteller zu meinem Beruf zu machen.

Über den Beginn Ihrer Leidenschaft für die Literatur schreiben Sie, Sie hätten mit 13 Harper Lees Wer die Nachtigall stört gelesen. Dabei hätten Sie „das komische Gefühl gehabt, dass ich zwar von diesem Buch verzaubert, aber dadurch der Welt nicht entfremdet war, sondern ganz in der Welt.“ Was meinen Sie damit?
Es gibt Momente, in denen wir sehr bewusst sind. Wir sehen die Dinge nicht mit dem üblichen Blick, sondern sie beeindrucken uns. Wenn ich auf ein wichtiges Buch gestoßen bin, Tote Seelen von Gogol oder Moskau-Petuschki von Wenedikt Jerofejew, um nur zwei zu nennen, kann ich mich immer genau daran erinnern. Ich weiß noch genau, welche Farbe der Stuhl hatte, auf dem ich saß, als ich vor mehr als 40 Jahren Wer die Nachtigall stört gelesen habe.

Welche Farbe hatte er?
Orange, mit braunen Beinen.

Warum hat Ihnen dieses Buch solchen Eindruck gemacht?
Ich weiß es nicht. Der Philosoph Giorgio Agamben sagt: „Die Kunst ist nicht dazu, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Sie soll das Sichtbare sichtbar machen.“ Literatur bewirkt das bei mir. Sie lässt mich die Dinge genauer sehen. Wiktor Schklowski, der Formalist, sagt über Tolstoi, es sei, als schäle er die Dinge mit spitzen Fingern aus ihrer Verpackung.

Welchen Vorteil hat es, wenn man das so sieht?
Ich weiß nicht, ob es einen Vorteil hat, aber es geschieht auch ohne Kunst. Die Welt überrascht einen. Ich habe eine Zeit lang bei meiner Großmutter gelebt. Einmal war ich im Wohnzimmer und lernte. Sie kam herein, ohne dass ich es erwartet hatte. Da wurde mir zum ersten Mal klar, dass sie eine Frau ist. Eine Frau aus Fleisch und Blut. Ich sah sie als das, was sie war, und nicht in ihrer Rolle als Großmutter. Diesen Moment werde ich nie vergessen. Wozu nützt das? Zu gar nichts. Kunst muss nicht nützlich sein. Wie wenn man Rachmaninows Konzert Nr. 3 hört. Wozu sollte das nützen? Zu nichts. Aber es ist wunderbar. Ist Musik nützlich? Ich weiß es nicht. Hat unser Leben einen Sinn? Ich weiß es nicht. Aber es gefällt mir.

„Die Kunst ist nicht dazu, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Sie soll das Sichtbare sichtbar machen.“

Es gefällt Ihnen?
Es gibt so eine Art Gedicht, das ich während meines Studiums geschrieben habe und das in Weg ist sie!, meinem zweiten Roman, auftaucht: „Ob ich einen Wert habe oder nicht, / ich weiß es nicht, / aber / es ist gut, dass es mich gibt, / es ist gut, dass es mich gibt, / es ist gut, dass es mich gibt.“

Warum „ist es gut, dass es mich gibt“?
Weil es toll ist, auf der Welt zu sein. Ich bin vielleicht naiv, aber ich mag mein Leben.

In La grande Russia portatile sprechen Sie von einem Vers von Pasternak, an den Sie sich im Krankenhaus erinnert haben ...
„Leben ist kein Gang durch freies Feld.“

Warum sind Ihnen diese Worte in den Sinn gekommen?
Schon wieder. Das ist das dritte Mal, dass Sie mich fragen, warum. Aber ich weiß nicht, warum die Dinge passieren. Ich weiß, dass sie passieren. In diesem Falle hatte ich Verbrennungen auf 30 Prozent der Haut.

Was war geschehen?
Ein Autounfall, nachts. Das Auto fing Feuer und ich kam nicht heraus. 37 Tage Krankenhaus. Neun Operationen. Jeden Tag wechselte man mir die Verbände. Ich wurde gewaschen und dann wieder verbunden. Und das Abnehmen der Verbände, mit dem Blut und dem Eiter, tat so weh, wie ich es noch nie erlebt hatte. Sie gaben mir Morphium. Und da kamen mir diese Zeilen aus Doktor Schiwago in den Sinn: „Leben ist kein Gang durch freies Feld.“ Ich war 36 Jahre alt. Den Roman hatte ich zehn Jahre zuvor gelesen, und er hatte mir nicht einmal gefallen. Aber diese Worte habe ich dann endlich verstanden.

In Ihren Büchern erscheint die Sowjetunion nicht nur als totalitärer Staat. In der Tat ist es ja auch einem christlichen Regisseur wie Andrej Tarkowskij gelungen, dort vier Meisterwerke zu schaffen und sie sogar durch das kommunistische Regime finanzieren zu lassen. Das ist doch seltsam.
Mich hat immer ein Brief von Sergej Dowlatow beeindruckt, den er in den Vereinigten Staaten verfasst hatte, wohin er geflohen war. Er hat Sehnsucht nach dem Leben in Russland und schreibt: „Ein Mensch schämte sich zu lügen. Er schämte sich, den Behörden zu schmeicheln. Er schämte sich, käuflich, gerissen und schlecht zu sein.“ Er war dankbar, dass Amerika sein Leben gerettet hatte, aber er liebte sein Heimatland immer noch und fand, die Bürger der Sowjetunion verhielten sich viel besser als die Amerikaner.

Was sagt das über den Menschen aus?
Ich wurde einmal gebeten, die Russen mit einem einzigen Wort zu beschreiben. Ich sagte: „Unerträglich.“ Was auch stimmt. Sowohl im schlechten Sinne, weil sie anstrengend sind, als auch im guten Sinne: Wenn ein Russe einen mag, dann ist das eine große Verpflichtung. Und das unabhängig von dem Regime, das gerade herrscht. Brodsky erklärte bei seiner Rede zur Nobelpreis-Verleihung, der Staat und die Literatur hätten unterschiedliche Zeiten.

In welchem Sinne?
Wir erinnern uns alle an Tarkowskij. Aber wer war Kultusminister, als der Stalker herauskam? Wissen Sie das? Ich nicht. Brodsky wurde wegen „Parasitentums“ angeklagt, weil er Gedichte schrieb, ohne im Schriftstellerverband zu sein. Man verurteilte ihn zu drei Jahren Zwangsarbeit. Und er sagt: „Das waren die besten Jahre meines Lebens.“ Tagsüber arbeitete er, abends studierte er. Und niemand störte ihn. Dann ging er in die Vereinigten Staaten und gewann den Nobelpreis. Jemand fragte ihn, was die Aufgabe des Intellektuellen sei. Er hätte alles Mögliche antworten können, aber er sagte: „Schöne Dinge zu schreiben.“ Darum geht es. Der Sowjetstaat war nichts im Vergleich zu der Schwierigkeit, schöne Dinge zu schreiben. Denn das Problem, der wahre Feind sind wir selbst. Die Trägheit, die Tatsache, dass wir nicht aufmerksam genug sind und das nicht sehen, was zu sehen ist.



Sie sagen, in der Zeit, in der Sie schreiben, schalte sich eine kleine Staun-Maschine in Ihrem Bauch ein. Und wenn Sie nicht schreiben?
Zum Glück schreibe ich sehr viel.

Setzt Literatur auch im Leser das Staunen in Gang?
Ich denke schon. Die Leser befinden sich in einer ähnlichen Situation. Aber nicht nur die Literatur setzt das Staunen in Gang. Denken Sie an die Geschichte mit meiner Großmutter. Das erste Gedicht von Chlebnikow, das ich gelesen habe (der Autor, über den ich meine Abschlussarbeit geschrieben habe), lautet: „Wenn Pferde sterben – Schaum und Schnaufen, / Wenn Gräser sterben – trocknen Haufen, / Wenn Sonnen sterben – dunkelt’s wieder, / Wenn Menschen sterben – singt man Lieder.“ Da hat in mir etwas Klick gemacht. Ich ging in die Buchhandlung und kaufte alle Gedichte von Chlebnikow.

Darf ich Sie fragen, warum Ihnen dieses Gedicht so gefallen hat?
Nein! (Lacht). Es hat mir gefallen, weil es schön ist.

Welche Charakteristiken haben schöne Dinge?
Sie sind einfach schön. Weil sie mir gefallen. Gestern Abend, als ich einen Artikel über eine Ausstellung schrieb, kam mir ein anderes Gedicht von Chlebnikow in den Sinn, in dem es heißt: „Mädchen, jene, die mit den Stiefeln / Ihrer schwarzen Augen über / Die Farben meines Herzens schlendern.“ Das beschreibt meine Tochter, und Francesca, ihre Mutter.

Viele Meisterwerke der russischen Literatur sprechen religiöse Themen an oder sind von einem religiösen Gefühl durchdrungen. Hat das für Sie eine Bedeutung?
Ich bin getauft und wurde gefirmt. Als ich elf Jahre alt war, verbrachte ich schlaflose Nächte damit, mich zu fragen, wie man ein guter Mensch wird. Dann wurde mir klar, dass auch die, die über die Geheimnisse des Glaubens sprachen, darüber nichts wussten. Und das hat mich wütend gemacht. Ich bin nicht gläubig. Meine Tochter ist nicht getauft. Sie nimmt nicht am Religionsunterricht teil. Mir scheint es unsinnig, in allen italienischen Schulen katholische Religion zu unterrichten. Aber ich habe einmal ein Interview mit Enzo Bianchi gehört, bei dem er etwas Starkes sagte: „Nur die Dinge existieren, die man jeden Tag tut.“ Ich glaube, er hat Recht. Er bezog sich dabei auf das Gebet. Ich denke eher ans Schreiben. Für mich hat das Sinn, wenn man es jeden Tag tut. Aber das gilt nicht nur für das Schreiben: Wenn ich einen Marathon laufen will, gehe jeden Morgen joggen. Das ist sicher keine religiöse Praxis, aber es scheint mir sinnvoll. Im Übrigen weiß ich nichts über das Jenseits.

Der Sowjetstaat war nichts im Vergleich zu der Schwierigkeit, schöne Dinge zu schreiben. Denn das Problem, der wahre Feind sind wir selbst. Die Trägheit, die Tatsache, dass wir nicht aufmerksam genug sind und das nicht sehen, was zu sehen ist.

Aber ein großer Teil der russischen Literatur ist davon durchdrungen. Stört Sie das?
Nein, ganz und gar nicht. Es geht hier nicht um ideologische Gegensätze. Ich bin der Meinung, dass Pawel Florenski, der ein christlicher Denker war, wundervolle Seiten geschrieben hat. Und ich unterscheide auch nicht zwischen christlichen und nicht-christlichen Schriftstellern. Viele Autoren, die ich sehr schätze, sind Christen. Eine meiner Charaktereigenschaften ist, dass ich ein Querkopf bin. Wäre ich in der Sowjetunion geboren, wäre ich vielleicht gläubig geworden. Weil einem dort beigebracht wurde, dass es keinen Gott gibt.

Was liebt Paolo Nori am meisten?
Meine Tochter. Das kleine Mädchen, das jetzt 16 Jahre alt ist und größer als ich. Sie ist das Wichtigste in meinem Leben. Aber ich darf sie damit nicht belasten. Ich kann es ihr nicht sagen. Aber sie weiß es. Und außerdem ... Als sie geboren wurde, änderte sich alles. Dieses atheistische Kind (lacht), ohne jede religiöse Sozialisation, ist das Wichtigste, was ihre Mutter und ich haben. Und außerdem meine Familie. Ich mag sie.

Was mögen Sie daran?
Wenn ich meine Brüder oder meine Neffen sehe, erkenne ich etwas von uns Noris an ihnen. Ich mag auch unsere Schwächen. Wir haben kleine, unbedeutende, aber sehr schöne persönliche Geschichten. Einmal war ich in Basilicanova, im Landhaus meiner Mutter. Und mein Blick fiel auf eine Blechdose, so eine Keksdose, die voller Knöpfe war. Ich sagte: „Mama, du hast ganz schön viele Knöpfe ...“ Sie antwortete: „In dieser Dose ist unsere ganze Familiengeschichte.“ Und sie hatte Recht. Wenn diese Knöpfe sprechen könnten ...

Paolo Nori wurde 1963 in Parma geboren. Er ist Autor, Übersetzer und lehrt kreatives Schreiben. Insgesamt hat er mehr als 40 Bücher publiziert. Sein Debüt gab er 1999 mit Le cose non sono le cose, gefolgt von seinem ersten großen Erfolg Weg ist sie! (Bassotuba non c'è). 2018 veröffentlichte er La grande Russia portatile und 2019 I russi sono matti. Corso sintetico di letteratura russa 1820-1991. Sein neuester Roman, Che dispiacere, erschien 2020 bei Salani. Er hat u.a. Lermontow, Puschkin, Gogol, Gontscharow, Tolstoi, Chlebnikow und Jerofejew übersetzt.