Unsere Narben
Yisca Harani ist Jüdin und lehrt Geschichte des Christentums. Sie setzt ganz auf die Erziehung zum Dialog. Wenig Theorie und viel geteiltes Leben. „Damit es nicht die Wunden sind, die uns bestimmen.“Die goldenen Steinchen der Mosaike sprühen wie Funken, wenn morgens die ersten Sonnenstrahlen in die Geburtskirche in Bethlehem fallen. Spektakulär. Aber leider sieht es seit mehr als einem Jahr fast niemand. Unter den ganz wenigen Besuchern an diesem Morgen fällt diese eine Frau daher sofort auf.
Yisca Harani weiß ganz genau, dass es aus Sicherheitsgründen israelischen Bürgern im Moment nicht erlaubt ist, die Autonomiegebiete zu betreten. Doch die Jüdin mit dem sanften, aber entschiedenen Blick ist hier auch ein bisschen zu Hause. Heute hat sie eine Kollegin mitgebracht, die Dozentin an der Hebrew University of Jerusalem ist. Diese wollte gerne die kürzlich renovierte Geburtskirche besichtigen, in der sie seit der Zweiten Intifada, also seit gut 20 Jahren, nicht mehr gewesen ist. „Ich habe sehr viele Freunde in Bethlehem und hätte einfach jemanden von ihnen fragen können. Aber ich habe mich entschieden, einen lokalen Fremdenführer zu engagieren. Sie alle haben seit einem Jahr keine Arbeit mehr. Auch mein Mann hat seine Arbeit verloren in Israel. Aber wir haben alles, was wir brauchen.“ Yisca fotografiert jedes Detail in der Kirche, inklusive der Geburtsgrotte. Für ihre Studenten im Fach Geschichte des Christentums, alles Juden.
„Mir ist aufgegangen, dass die Pandemie, die mich dazu zwingt meine Kurse per Zoom zu halten, auch eine Gelegenheit sein kann, Menschen an Orte zu führen, die sie sonst nie betreten würden. Zum Beispiel die ultraorthodoxen Juden. Daher ist mir nach den Vorträgen über das christliche Weihnachtsfest, die ich an jedem Sonntag im Advent gehalten habe, die Idee gekommen, live eine Übersetzung ins Hebräische mit Kommentar zur Christmetteanzubieten, die der Lateinische Patriarch, Pierbattista Pizzaballa, um Mitternacht in der Geburtskirche hält.“ Mehr als tausend Menschen haben das verfolgt, mitten in der Nacht, was völlig unerwartet war. Und in den folgenden Tagen kamen Dutzende von dankbaren Nachrichten.
„Ich habe versucht zu vermitteln was das Herz der Feier ist“, erzählt Yisca. „Denn einer Messe beizuwohnen ist nicht dasselbe, wie ins Theater zu gehen. Es geht ja um ein tiefes Gespräch mit Gott. Einige haben das gespürt. Für uns Juden ist es etwas Vertrautes, die Worte des Propheten Jesaja zu hören. Auch einige Passagen der Predigt hatten universalen Charakter. Aber ich habe vor allem versucht, den Leuten den Kern dieser christlichen Geschichte näherzubringen, indem ich das Evangelium nach Lukas übersetzt habe. Die Hirten waren Menschen am Rande der Gesellschaft und fanden sich plötzlich als Botschafter von etwas so Wichtigem wieder. Das war eine sehr schöne Erfahrung, und ich werde es nächstes Jahr wieder anbieten.“
Dieses Versprechen wird Yisca bestimmt halten. Denn die Erziehung zum Dialog, zum gegenseitigen Respekt und Kennenlernen ist ihr ein ganz persönliches und wichtiges Anliegen. Schon als Kind wurde ihr das in ihrem Elternhaus vermittelt. Sie hat es von ihrem Vater gelernt, Professor Zwi Werblowsky. Er war Gründer der Fakultät für Vergleichende Religionswissenschaft an der Hebrew University in Jerusalem und eine der führenden Gestalten im interreligiösen Dialog, und das nicht nur im Heiligen Land. „Ich bin in einer Familie gläubiger Juden aufgewachsen, in der jedermann willkommen war. Unseren Glauben und unsere Identität intensiv zu leben ging einher mit dem Wunsch, anderen Menschen zu begegnen und sie näher kennenzulernen. Ich habe beschlossen, Religionsgeschichte zu studieren wie mein Vater, und mich dann auf die christliche Geschichte spezialisiert. Die schien mir am interessantesten. Allerdings habe ich mir nicht vorstellen können, was für ein vermintes Gelände ich damit betrat. Wir leben in einem verwundeten Land mit sehr vielen Narben. Man muss sehr umsichtig vorgehen und sich gleichzeitig eine grundlegende Frage stellen: Was wollen wir mit diesen Narben machen? Lassen wir zu, dass sie unser ganzes Leben bestimmen?“
Für Yisca ist das keine rhetorische Frage. Ihr sind oft Feindschaft und Unverständnis entgegengeschlagen bei ihren Initiativen mit christlichen und muslimischen Freunden. Wenig Theorie und viel geteiltes Leben - das ist ihr Motto. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist ihre Initiative, mit freiwilliger Hilfe ihrer Studenten die durch Vandalismus verwüsteten Friedhöfe der unterschiedlichen Konfessionen auf dem Zionsberg wieder in Ordnung zu bringen. Aus der kleinen Aufräumaktion ist inzwischen ein größeres Projekt entstanden, das nicht nur die verschiedenen Friedhöfe instand hält, sondern auch die Gräber dokumentiert. Es wird u.a. von der deutschen Botschaft in Tel Aviv und der evangelischen Erlöserkirche in Jerusalem unterstützt, sowie vom Jerusalem Intercultural Center, zu dessen Vorstand Pierbattista Pizzaballa gehört. „Ich habe Pizzaballa schon vor ein paar Jahren zu meinem persönlichen Lehrer des Christentums ernannt“, sagt Yisca ein wenig scherzhaft. Mit dem heutigen Patriarchen verbindet sie ein langer gemeinsamer Weg als „Handwerker des Friedens“, wie Papst Franziskus es gerne nennt. Ein Weg des konkret geteilten Lebens und der gegenseitigen Hilfe, um der Radikalisierung Einhalt zu gebieten.
„In den letzten Jahren merkt man, wie sich die Leute immer mehr verschließen“, seufzt Yisca. „Aber meine Erfahrung sagt mir: Je klarer die eigene Identität ist, um so aufrichtiger wird der Dialog. Ich habe inzwischen fast mehr christliche Freunde als jüdische. Für viele von ihnen würde ich mein Leben geben. Aber ich wünsche mir nicht, dass sie sich zum Judentum bekehren. Eine befreundete Ordensschwester kann nicht verstehen, dass ich so vielen Christen helfe, aber nicht katholisch werden will. Für mich ist es klar, dass man jemandem hilft, der in Not ist, egal, wer es ist. Aber mir ist ebenso klar, dass ich Jüdin bleiben werde bis zu meinem Tod. Diese Leidenschaft habe ich von meinem Vater geerbt. Es bedeutet vor allem, dass man den anderen als Menschen sieht. Mein jüngster Sohn leistet gerade seinen Militärdienst und er teilt meine Ansichten. Ich denke oft daran, was geschähe, wenn ihm befohlen würde, auf einen anderen Menschen zu schießen, und er eine Entscheidung treffen müsste. Was mir heute Angst macht in meinem Land ist die Tatsache, dass man einander nicht die gleiche Würde zubilligt. Das zu tun wäre der erste Schritt, wenn man von Vergebung sprechen wollte. Ein Wort, das zu benutzen ich zögere. Ich kann nicht vergessen, was mein Vater sagte, wenn wir darüber diskutierten, ob und wie die Juden jemals den Nazis vergeben könnten für die Shoah: ‚Wir haben nicht das Recht zu vergeben im Namen derjenigen, die gelitten haben. Aber wir haben eine Rolle beim Gestalten der Zukunft.‘“
Yisca lebt inzwischen in Tel Aviv. Das Elternhaus in Jerusalem ist vermietet. Darin gibt es auch ein Zimmer, in dem ihr Vater immer betete. Er ging weniger in die Synagoge, sondern öffnete sein Haus zu den jüdischen Festen. „Wir fanden uns oft in diesem Raum ein, um gemeinsam mit Verwandten und Freunden zu beten und zu feiern“, erzählt sie. „Zum letzten Purim-Fest habe ich die Benediktinerinnen von Abu Gosh eingeladen, ungefähr zehn Kilometer von Jerusalem entfernt. Sie kennen das Judentum, aber sie hatten nie an einer jüdischen Feier teilgenommen. Wir haben zusammen getrunken und getanzt. Das war sehr schön. Eine unvergessliche Erfahrung, nicht nur für die Schwestern, sondern auch für meine Neffen und Nichten. Meine Geschwister und ich sind es gewöhnt, die Feste so zu feiern, aber die jüngere Generation nicht. Wir müssen sie dazu erziehen. Das ist eine Herausforderung. Der Grund, warum ich mich weiterhin für den Dialog einsetze, ist, dass ich als Kind im Paradies gelebt habe. Aber als ich in die Wirklichkeit katapultiert wurde, merkte ich, dass man jeden Morgen kämpfen muss, um es wiederzugewinnen.“