
Um der größeren Liebe willen
Der Rhein-Meeting befasste sich in diesem Jahr mit der Frage, wie ein Leben in der Wahrheit möglich ist. Die Antworten und Zeugnisse aus Gegenwart und Vergangenheit waren ebenso beeindruckend wie bewegend.Trotz aller schrecklichen Möglichkeiten der Geschichte gibt es immer eine lebendige Hoffnung. In dieser Aussage könnte man vielleicht das Rhein-Meeting 2025 zusammenfassen. „Versuche in der Wahrheit zu leben“, lautete das Thema der diesjährigen Zusammenkunft im Kölner Maternushaus. Von Freitag 14. bis Sonntag 16. März trafen sich hier Besucher und Gäste aus verschiedenen europäischen Ländern. Das Motto war einem Buchtitel des tschechischen Dramatikers, Menschenrechtlers und Politikers Václav Havel (1936–2011) entlehnt. Und ganz in diesem Sinne ging es nicht um philosophische Diskurse, sondern um Menschen, die um das wahre Leben ringen.
Einen Höhepunkt stellte die Ausstellung über das österreichische Ehepaar Jägerstätter dar, unter dem Titel „Franz und Franziska – Es gibt keine größere Liebe“. Die ursprünglich für das „Meeting für die Freundschaft unter den Völkern“ im italienischen Rimini konzipierte Schau war zu diesem Anlass ins Deutsche übersetzt worden. Präsentiert wurde sie vom Kurator der italienischen Ausstellung, Don Emmanuele Silanos, und von Erna Pütz. Die österreichische Journalistin kannte Franziska Jägerstätter noch persönlich und gibt den schriftlichen Nachlass des Ehepaars heraus.
In der Vorhalle des Maternushauses zogen die eindrücklichen Bilder und Texte die Besucher unweigerlich in ihren Bann. Die „größere Liebe“ hatte es Franz ermöglicht, seinem Gewissen zu folgen und den Dienst in Hitlers Wehrmacht aus christlicher Überzeugung zu verweigern – im klaren Bewusstsein der Folgen, die das für ihn und seine Familie haben würde. Putz berichtete in ergreifenden Worten über die gemeinsam verantwortete Entscheidung des Ehepaares. „Besser die Hände als den Willen gefesselt“, notierte Franz am 9. August 1943 in sein Tagebuch, kurz vor seiner Hinrichtung durch die Nazis. Er hinterließ seine Frau und vier Töchter.
Das Martyrium bezeugt, über alles menschliche Verstehen hinaus, dass es eine lebendige Wahrheit gibt, für die es sich lohnt, sogar sein Leben hinzugeben. Die Ausstellung verdeutlicht, dass es Franz nicht um einen heroischen Akt ging und er nicht frei war von Ängsten und Zweifeln. Er handelte ganz aus dem Bewusstsein einer Beziehung und Zugehörigkeit heraus. So drängte sich bei der Führung für jeden die radikale Frage auf: Würde ich mein Leben geben für Christus? Würde ich Frau und Kinder zurücklassen, um der großen Liebe, die alles zusammenhält, treu zu bleiben?
Mit der „feinen Linie zwischen Lüge und Wahrheit“ befasste sich die Mitbegründerin der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, Irina Scherbakowa. Sie zog diese Linie zwischen der „komplizierten Wahrheit“, die das Leben der Menschen mit ihren Sehnsüchten und Widersprüchlichkeiten kennzeichnet, und den alten und neuen Ideologien und populistischen Vereinfachungen im Dienste der Macht. Seit den 1970er Jahren versucht Scherbakowa, den Millionen von Opfern des Stalinismus „einen Namen“, eine Biographie, ein Gesicht zurückzugeben. 2022 wurde Memorial mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, kurz nachdem es die Behörden in Russland verboten hatten. Scherbakowa, die inzwischen im Berliner Exil lebt, gab einen eher pessimistischen Ausblick angesichts neuer „Repressionen“ und einer Aufwertung Stalins unter dem derzeitigen Staatschef Wladimir Putin. Vor dem Hintergrund des Angriffskriegs auf die Ukraine sieht sie Europa am Scheideweg. Hoffnung erkennt sie vor allem in Ausnahmegestalten, die sich der Macht entgegenstellen, wie Alexei Nawalny. Der Oppositionelle und bekennende orthodoxe Christ ist im vergangenen Jahr an den Folgen unmenschlicher Haftbedingungen gestorben.
In ganz anderem Zusammenhang, doch nicht weniger dramatisch, setzen Menschen in überwiegend muslimischen Ländern ihr Leben aufs Spiel, um der Anziehungskraft Christi zu folgen. Um solche Konvertiten, die selbst in Europa nicht vor Nachstellungen sicher sind, kümmern sich Anna Maria Jalalifar und Manuel Baghdi in Wien. Die gebürtige Iranerin Jalalifar verdeutlichte anhand ihrer eigenen Lebensgeschichte, welche Befreiung sie gerade als Frau durch die völlig unverhoffte Begegnung mit Christus erlebte.
Für den emeritierten Bischof von Reggio Emilia, Massimo Camisasca, zeigte sich diese Anziehungskraft durch die Gestalt von Don Luigi Giussani. Dem Gründer der Bewegung Comunione e Liberazione hat er eine Werkbiographie gewidmet, die soeben auf Deutsch erschienen ist. Im Geiste des Charismas von Giussani gründete Camisasca Mitte der 1980er Jahre die Priesterbruderschaft der Missionare des Heiligen Karl Borromäus. Angesichts der unübersehbaren Krise in der Kirche empfahl er eine Haltung „echten Zuhörens“. Die Antwort auf schwindende Mitgliederzahlen liegt für Camisasca nicht in soziologischen Analysen oder Pastoralplänen, sondern im Wertschätzen von Neuanfängen, bei denen sich das Wirken Christi im Hier und Heute zeigt. Er brachte es auf die Formel: „Entweder wir schauen auf die Beerdigungen, oder auf die Taufen …“
Zum Abschluss zitierte der Vorsitzende des Rhein-Meetings, Gianluca Carlin, nochmals Jägerstätter: „Habt keine Angst, euren Leib zu verlieren, habt Angst eure Seele zu verlieren“. Der „Versuch, in der Wahrheit zu leben“, bedeutet nach Carlins Worten für den Christen vor allem, „das Leben zu öffnen, damit der Herr in es einziehen kann“.