Kinder in Kireka, einem Elendsviertel der Hauptstadt.

AFRIKA: DIE FRAUEN VON ROSE

Agnes, Teddy, Ketty, Florence. Sie sind in Slums aufgewachsen, von Rebellen verschleppt worden, von ihren Familien verlassen und haben AIDS. Sie alle hatten sich schon aufgegeben.
Alessandra Stoppa

Es reichte nicht, ihnen medizinische Hilfe anzubieten, um das zu ändern. Gemeinsam mit Rose Busingye, der Verantwortlichen des Meeting Point in Kampala, erzählen sie uns, wie in ihnen das Leben wieder erwacht ist und sie ihren Wert entdeckt haben.

„Auch ein so grundlegender Wert wie das Leben kann einem abhanden kommen. Nur in der Begegnung mit Christus erblüht er zu voller Schönheit.“ In letzter Zeit hat Don Julián Carrón oft über „die Frauen von Rose“ gesprochen. Über das, was unsere Freundin Rose Busingye aus Uganda ihm berichtet hatte. Rose ist Mitglied der Memores Domini, gelernte Krankenschwester und leitet den Meeting Point International in Kampala. Dieser wurde vor mehr als 20 Jahren gegründet, um Kranke, Arme, Kinder, darunter viele Waisen, zu betreuen und ihnen zum Beispiel durch Patenschaften den Schulbesuch ermöglichen zu können. „Rose wollte den aidskranken Frauen helfen, indem sie ihnen Medikamente besorgte“, erzählt Carrón. Aber dadurch ging es ihnen nicht besser. „Erst als sie ihnen Christus verkündet hat, erwachte in ihnen das Bewusstsein für den Wert des Lebens wieder.“

Steineklopfen. Teddy, Agnes, Florence und Ketty sitzen mit Rose in ihrem Büro. Sie sehen sehr gut aus. Teddy redet sofort los: „Das Glück hat uns schön und jung gemacht!“ Alle brechen in Lachen aus. Ein paar Mal fangen sie auch an zu singen, während sie von sich erzählen: erst eine, dann stimmen die anderen mit ein. Dazu muss man wissen, dass „die Frauen von Rose“ ein ziemlich hartes Leben haben und gleichzeitig begnadet sind. Aufgewachsen im Elend der Slums oder von Rebellen gekidnappt, von allen verlassen und am Ende alle HIV-positiv. Aber dieses Ende bedeutete schließlich einen neuen Anfang. Und dafür sind sie unendlich dankbar. Sogar dafür, dass sie Steine klopfen dürfen. Sie hauen mit einem Hammer in sengender Hitze auf diese Steine ein, bis sie so klein sind, dass Bauunternehmer sie kaufen. Sie sitzen stundenlang auf den Steinen, barfuß, mit ihren farbenfrohen Kleidern und Kopftüchern. Drumherum nur Baracken und Wellblechdächer.

Agnes ist 46 Jahre alt, ein volles, lachendes Gesicht. Man würde nie vermuten, dass sie krank ist. „Ich habe mich völlig wertlos gefühlt.“ Die Rebellen haben sie drei Jahre lang im Wald festgehalten. Zurück im Dorf „war ich für alle nur noch ein Killer“. Wenn sie aus dem Haus ging, hatten die Leute Angst vor ihr. Sie wurde gemieden. Und entschloss sich schließlich, in die Stadt zu einer Tante zu flüchten. Als diese von ihrer Krankheit erfuhr, brachte sie sie in einer Baracke außerhalb des Hauses unter. Ohne Essen und Medikamente. Nachbarn, die den Meeting Point kannten, schickten „Tante Rose“ zu ihr. Agnes lag im Bett und konnte nicht aufstehen. Rose brachte ihr, wie allen Kranken, die nötigen Medikamente. „Aber oft“, sagt Rose, „lagen die Pillen noch unberührt da, wenn ich das nächste Mal kam.“



Agnes erzählt: „Sie hat mir immer gesagt, ich hätte einen Wert. Aber ich habe das nicht verstanden. Dann hat sie mich eingeladen, hierher zu kommen, um die anderen kennenzulernen. Ich habe hier glückliche Frauen gesehen, die überhaupt nicht krank schienen. Also habe ich gedacht, ich sei am falschen Ort, weil ich nicht zu diesen Leuten gehöre. Ich habe mich weiterhin wie ein Nichts gefühlt. Dann habe ich versucht, 20.000 Schilling aufzutreiben, um zum Sterben in mein Dorf zurückkehren zu können.“ Aber sie ist nie dorthin zurückgegangen. Denn als sie Rose davon erzählte, weinte diese. Anstatt zum Sterben nach Hause zu gehen, ist Agnes bei ihr geblieben. Heute geht es ihr besser. Die Krankheit ist geblieben, aber von ihrem Schmerz ist sie geheilt. „Seit ich zum Seminar der Gemeinschaft gehe, habe ich den Wert entdeckt, von dem Rose gesprochen hatte. Weil Giussani sagt, dass niemand ein Nichts ist vor Gott. Ich habe Fehler gemacht. Ich habe getötet. Aber ich bin ein Jemand für Ihn. Das ist mein Wert, das Leben, das Gott mir gegeben hat. Ich bin durch nichts anderes definiert. Durch diese Liebe habe ich wieder neue Kraft bekommen, die die Medizin mir nicht geben konnte. Jetzt, wenn ich mit dir spreche, bin ich frei. Ich spüre es. Ich bin frei, auch wenn ich krank bin.“

Seit Jahren kommt Rose tagtäglich zu ihnen. Aber das macht ihr keine besondere Mühe. Sie war immer froh, so ihr Leben hingeben zu können. Doch sie merkte, dass die Kranken weiterhin unzufrieden waren. Einige erhängten sich oder wollten sterben. Den Armen war nichts gut genug. Die Kinder wollten nicht zur Schule gehen, auch wenn es umsonst war. „Ich bin davon ausgegangen, das Problem sei, dass sie keine Medikamente hätten oder nicht genug zu essen. Ich gab sie ihnen, aber nichts passierte. Ich war verzweifelt, denn ich wollte so die Epidemie bekämpfen.“ Die Versuchung war, den anderen durch das, was wir für ihn tun müssen oder können, zu ersetzen. „An einem gewissen Punkt ist alles dadurch anders geworden, dass ich mich selbst entdeckt habe“, sagt Rose. Doch dann hält sie inne, das wird sie uns später erzählen. Zuerst sind ihre Frauen dran.

Rose tanzt mit ihren Frauen am Meeting Point in Kampala.

Eine andere Frage. Teddy merkt, dass sie sich verändert hat, daran, dass sie keine Angst mehr hat, vor nichts, nicht einmal vor dem Sterben. „Weil Gott genau weiß, wer und was ich bin.“ Das hat sie durch den Glauben entdeckt, durch ihren Weg im Seminar der Gemeinschaft. Sie hat als Kind ihre Eltern verloren, und nachdem sie verheiratet war, dachte sie, alles sei in Ordnung. „Dabei haben die Probleme damit erst begonnen. Ich sah keinen Sinn mehr, warum ich auf der Welt war. Ich sah nichts Schönes mehr in meinem Leben.“ Rose sagt es so: „Das Unglück beginnt in dem Moment, wenn man entscheidet, dass man nicht mehr glücklich sein kann.“ Teddy war nicht glücklich. Beim Meeting Point hatte sie eine Arbeit als Sozialarbeiterin gefunden, aber die Probleme erdrückten sie. „Das Seminar der Gemeinschaft hat mich vor eine andere Frage gestellt: Wer bin ich?“ Von Beginn an hatte sie das Gefühl, die Texte, die sie dort lasen, sprächen von ihr. Sie fühlte sich wie die Samariterin am Brunnen, die einen Unbekannten trifft, der sie besser kennt als ihr eigener Mann. Die Situation in ihrer Ehe ist dramatisch. Der Mann ist Alkoholiker und wird gewalttätig, wenn er getrunken hat. Es gibt Nächte, in denen er sie nicht einmal ins Haus lässt. „Geh ruhig weiter dorthin, die verpassen dir eine Gehirnwäsche. Du solltest besser an das Geld denken …“ Sie antwortet ihm, dass sie nur noch dank der Bewegung bei ihm sei. „Wenn er nüchtern ist, sieht er es ein und sagt mir: ‚Don Giussani ist ein intelligenter Mann‘.“ Teddy lächelt. Warum hat sie ihn nicht verlassen? „Das könnte ich nie. Wenn ich einen unendlichen Wert habe, dann hat auch er einen.“

Ketty versteht das. Sie erinnert sich daran, dass sie stank, als sie zum ersten Mal zum Meeting Point kam. Aber keiner ekelte sich vor ihr. Sie ist Muslim und hatte mit 13 Jahren geheiratet. Eineinhalb Jahre lang war sie bei den Rebellen, die ihr ihren einmonatigen Sohn wegnahmen, sie zwangen, menschliches Fleisch zu essen, und sie vergewaltigten. Als sie wieder schwanger wurde, konnte sie keiner mehr gebrauchen. „Da haben sie mich ausrangiert.“ Sie war 17 Jahre alt und schrie ihre Wut aus sich heraus, wie eine Verrückte. Sie war zum Skelett abgemagert, wog noch 25 Kilo, und trotzdem hatten die Leute Angst vor ihr. Als sie die Diagnose AIDS bekam, ließ auch ihre Familie sie im Stich. Was hat dich dazu gebracht, dass du wieder leben wolltest? „Rose hat mich als etwas betrachtet, von dem ich nicht wusste, dass ich es war. Und das Seminar der Gemeinschaft hat mich befreit. Ich habe begriffen, dass ich auch im Wald genauso viel Wert war wie jetzt.“ Sie hat sich taufen lassen.

Florence stellt sich so vor: „Ich bin 40 Jahre alt, komme aus dem Osten von Uganda und bin HIV-positiv.“ Nachdem sie den Test gemacht hatte, fürchteten ihre Verwandten, dass  sie sie anstecken könne, und zählten die Tage bis zu ihrem Tod. „Auch ich dachte nur ans Sterben.“ Sie ging nach Kampala, um eine Therapie zu machen. „Aber ich hatte mich sowieso schon aufgegeben.“ Auch als man ihr vom Meeting Point erzählte, ging sie nicht hin. „Wenn schon all meine Verwandten mich verlassen haben, wer kann mich da noch wollen?“ Doch eines Tages, als sie auf ihre Kinder sah, die immer mit ihr im Haus eingeschlossen waren, wurde ihr klar, dass sie es für sie tun musste. „Ich bin hierher gekommen und habe Frauen gesehen, die Lesen und Schreiben lernten. Ich habe sofort mit der Behandlung angefangen.“ Als das Problem mit der Miete aufkam, ist sie abgehauen. Aber Teddy ist sie suchen gegangen. „Sie haben mich zu sich geholt.“ Heute sehen ihre Verwandten, dass sie glücklich ist, dass ihre Kinder zur Schule gehen, und sie fragen sich, wie das sein kann. „Wer hat es mit dir ausgehalten?“ „Und ich sage: Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“

„Gott ist aus sich herausgegangen, um mich dem Nichts zu entreißen. Wenn wir wüssten, welche Größe wir haben, dann kämen uns die Tränen.“

„Gott erschafft mich aus dem Nichts.“ Rose hat seit Jahren täglich mit all diesem Leid zu tun, und sie lebt das wie ein Kind, das sich dem Vater anvertraut. „Weder die Medikamente noch die guten Worte haben in ihnen etwas verändert. Wenn ich nicht in dem Bewusstsein lebe, dass ich geliebt bin, kann ich auch den anderen nicht helfen.“ Sie musste sich erst bewusst machen, wie Jesus sie anschaut. „Ich konnte den anderen ihren Wert nur ‚erklären‘, wenn ich meinen Wert kannte. Dadurch wurde es zu einem gemeinsamen Weg, auf dem sie und ich es entdeckten.“ Dieser Wert war für sie untrennbar von dem, wie Giussani sie behandelte. „Er sah mich an, als wäre ich etwas Besonderes, größer und wichtiger als alles andere, trotz meiner Grenzen. Ich habe immer gedacht: Er hat nicht verstanden, wer ich bin! Ich versuchte, es ihm zu erklären, aber er hörte mir nicht zu. ‚Schau mal, Rose‘, sagte er mir, ‚du weißt nicht, dass selbst wenn du der einzige Mensch auf dieser Welt wärest, Gott kommen würde, um für dich zu sterben.‘ Dann korrigierte er sich: ‚Er ist gekommen und für dich gestorben.‘“

„Uns kämen die Tränen.“ Was Rose getan hat und weiterhin tut, ist diesem Blick, dem sie begegnet ist, Raum zu geben. „Heute folge ich Carrón. Ich will wissen, was ihn zu dem macht, was er ist.“ So geht sie voran und trifft immer wieder auf „Probleme, Widersprüche und Unfähigkeit. Aber auch die Grenzen werden mir zur Rutschbahn ins Unendliche.“ Zwischen ihren Frauen sitzend, erzählt sie, wie ihr das bewusst wird: „Was habe ich heute getan, um Gott zu bejahen? Nichts. Nicht einmal in der Messe oder beim Gebet habe ich Gott bejaht. Aber Er hat sich nicht aufhalten lassen, Er war immer für mich da und hat meine Haare gezählt. Ich habe nicht an Ihn gedacht, aber Er hat auch heute wieder etwas getan, was Er nicht zu tun bräuchte: Er ist aus sich herausgegangen, um mich dem Nichts zu entreißen. Wie oft sind wir uns dessen nicht bewusst und verlieren uns in kleinen Dingen, in unnützen Kämpfen. Wenn wir nur wüssten, welche Größe wir haben, welche Größe der andere hat! Uns kämen die Tränen.“ Und so findet sie zu sich selbst, weil der Dank zur Ergriffenheit führt und zu einem Bewusstsein, das sie sagen lässt: „Wer ist Rose, dass Du Dich ihrer annimmst?“