Eine Demonstration in Indonesien von islamischen Extremisten. ©AFP PHOTO/SUTANTA ADITYA

RELIGION UND GEWALT: DIE FEHLENDE VERNUNFT - ODER DER WAHRE ADAM

Parolen und Wut ändern nichts. Doch was können wir tun? Gedanken eines Muslim, der versucht, „sein Herz zu befragen“.
Wael Farouq*

Langsam tauchen die Gesichter der Freunde wieder auf in den sozialen Netzwerken, nachdem sie tagelang verschwunden waren hinter einem schwarzen Quadrat mit der Aufschrift „Je suis Charlie“, oder „Je suis Ahmed“. Charlie, der die Welt so beschäftigt hatte, interessiert nicht mehr. Seine Präsenz in unserem Gedächtnis wird immer schwächer werden, bis er auf den Grund des Vergessens sinkt wie andere Slogans: „Bring back our girls“, „Ich bin Nassarah“ (wie im Koran die Christen bezeichnet werden), und so weiter. Solche Parolen erfüllen unser Leben wie eine Scheinschwangerschaft, sie führen zu nichts.

Mit „nichts“ meine ich hier nicht, dass sie den Lauf der Dinge nicht ändern können, sondern – und das tut weh – dass sie in uns selbst nichts ändern. Wir sind oft wie ein lebloser Körper, der die Schläge nicht spürt. Wir stürzen uns mit Verve auf jedes Detail dieser Ereignisse, richten unsere Wut in diese und jene Richtung. Aber es gelingt uns nicht, die Dinge in unsere menschliche Erfahrung einzuordnen. Mit anderen Worten, wir sind keine handelnden Subjekte. Wir bleiben in der Reaktivität gefangen, die Don Giussani im Religiösen Sinn so treffend beschrieben hat:

„Wie oberflächlich ist doch eine Tat, die als pure Reaktion des Augenblicks entsteht! [...] Dialog und menschliche Kommunikation wurzeln in der Erfahrung. Hängt die Kälte und Teilnahmslosigkeit im Zusammenleben, auch der Ge­meinschaften, nicht gerade von der Tatsache ab, dass es zu wenige gibt, die von sich behaupten können, sie lebten mit Eifer ihre Erfahrung, ihr ganzes Leben als Erfahrung? Die Weigerung, sich auf das Leben als Erfahrung einzulassen, führt nur zu Geschwätz, nicht aber zum Gespräch. [...] Die Gegenwart wird der bloßen Reaktion überlassen, einem Rea­gieren, das mit Tradition und Geschichte bricht und unser Streben nach einer fruchtbaren Zukunft lähmt. (Dieser gelähmte Drang kann zur Wut, zur ohnmächtigen Wut werden: „Phlegyas, Phlegyas, was soll das [leere] Schrein?“ [Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Hölle. Canto VIII, v. 19]). Das bloße Reagieren schwächt die Fähigkeit zum Dialog und zur Kom­munikation. Denn Dialog und Kommunikation gründen in der Erfahrung. Die Erfahrung aber wird im Gedächtnis bewahrt, wo sie heranreift, und von der Intelligenz beurteilt wird, das heißt gemäß den wesentlichen Merkmalen, den wesentlichen Bedürfnissen unseres Menschseins.“ (L. Giussani, Der religiöse Sinn, S. 126-129)

Zorn ist die schreckensstarre Stimme des Nichts, die Stimme „hohler Männer“, wie T. S. Eliot sagt: „Gestalt formlos, Schatten farblos, / Gelähmte Kraft, reglose Geste“. Hinter den zornigen Parolen steht kein Ich, sondern die „reglose Geste“ eines Menschen, der sich in einer Herde bewegt und nicht mehr in der Lage ist, Urteile zu fällen. Zorn ist eine Reaktion, Schmerz eine Antwort. Wütend sind wir auf etwas Abstraktes, doch um Menschen trauern wir. Wenn wir an eine Idee geglaubt haben, werden wir zornig; wenn wir geliebt haben, empfinden wir Schmerz.

Papst Franziskus ruft uns auf zu trauern und zu weinen: „Mit dem Herzen eines Sohnes, eines Bruders, eines Vaters erbitte ich von euch allen und für uns alle die Umkehr des Herzens: von jenem ‚Was geht mich das an?‘ überzugehen zum Weinen – um all die Gefallenen des ‚unnötigen Blutbads‘, um alle Opfer des Kriegswahnsinns zu allen Zeiten. Die Menschheit hat es nötig zu weinen, und dies ist die Stunde der Tränen.“ (Predigt in der Militärischen Gedenkstätte von Redipuglia, 13. September 2014) Der Zorn ist blind wie die Liebe, denn er sieht das Gute nicht. Der Schmerz dagegen ist die Unterscheidung, die in der Gegenwart das Gedächtnis für die Zukunft begründet.

Demonstration am 11. Januar in Paris. ©AFP PHOTO / PATRICK KOVARIK

RELIGIÖSE GEWALT? Inmitten all der zornigen Stimmen hat Kardinal Jean-Louis Tauran gesagt: „Die Religion ist nicht das Problem, sondern Teil der Lösung.“ Klingt komisch und schockiert. Mittlerweile gilt es ja fast als selbstverständlich, dass die Religion generell die Hauptursache für die Gewalt ist. Wenn der Westen die Religion nicht aus dem öffentlichen Leben verbannt hätte, würden wir immer noch in einer Spirale der Gewalt leben. „Wehe, wenn die Muslime kommen.“ So denken viele.

Doch die Wahrheit, von der die Medien nur selten sprechen, ist, dass religiös motivierte Gewalt nur einen verschwindend kleinen Prozentsatz der Gewalt ausmacht, unter der die moderne Gesellschaft leidet. Religiös motivierter Terrorismus macht nur zehn Prozent aller terroristischen Straftaten aus, wie dem Bericht von Europol für 2014 zu entnehmen ist. Eine Untersuchung der Universität von North Carolina hat erbracht, dass nach dem 11. September 2001 nur 37 Amerikaner islamistischem Terror zum Opfer gefallen sind, während 190.000 ermordet wurden, davon allein 14.000 im Jahr 2013 (vgl. Charles Kurzman, Muslim-American Terrorism in 2013, University of North Carolina).

Einige „weltliche“ Forscher sind sogar der Ansicht, die Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Leben habe den Gewaltzoll noch erhöht. Die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong zum Beispiel kritisiert in einem Interview, das sie der Zeitschrift Salon 2014 gegeben hat, die vorherrschende Meinung, Gewalt sei eine Art Abfallprodukt der Religion.  Sie meint, dadurch, dass sie Religion die Schuld für die Gewalt zuschieben, verdrängten westliche Gesellschaften die fundamentale Rolle, die Gewalt bei ihrer eigenen Entstehung gespielt habe, ebenso wie die Rolle, die sie selber bei der Ausbreitung von Gewalt im Rest der Welt spielten.



Wenn man das Heilige als etwas betrachtet, wofür man bereit wäre, sein Leben hinzugeben, dann hat, so sagt Armstrong, die Nation in gewisser Weise die Stelle Gottes eingenommen. Denn heute sei es zwar nicht mehr akzeptabel, für die Religion sein Leben hinzugeben, aber es sei äußerst ehrenhaft, sein Leben für sein Land zu opfern. Weiter behauptet sie, dass wir alle mit der Gewalt zu tun hätten und kein Staat, als wie friedliebend er sich auch ausgebe, es sich erlauben könne, seine Armee aufzulösen. Daher sei es eine ungeheure Vereinfachung, wenn man in der Religion den Grund für die großen Kriege der Geschichte sehe. Gewalt gehöre in der ein oder anderen Form zum Kern unseres Lebens.

DER KORAN UND CHARLIE. Es gibt viele Suren, die Muslimen sagen, wie sie auf eine Verhöhnung Gottes reagieren sollten, im Koran selbst und bei den Propheten. Alle fordern sie dazu auf, das Böse mit Gutem zu beantworten. Es gibt keinen einzigen Vers, der eine Strafe für Gotteslästerung vorschreibt.

„Er hat euch schon in dem Buch offenbart: wenn ihr hört, dass die Zeichen Allahs geleugnet und verspottet werden, dann sitzet nicht bei ihnen (den Spöttern), bis sie zu einem anderen Gespräch übergehen“ (Sure 4:140). Oder: „Gut und Böse sind nicht gleich. Wehre (das Böse) mit dem ab, was das Beste ist. Und siehe, der, zwischen dem und dir Feindschaft war, wird wie ein warmer Freund werden.“ (Sure 41:34) Oder auch: „Die Diener des Gnadenreichen sind diejenigen, die in würdiger Weise auf Erden wandeln, und wenn die Unwissenden sie anreden, sprechen sie: ‚Frieden‘.“ (Sure 25:63)

Der Koran hält sogar fest, dass die Verteidigung des Islam, seines heiligen Buches und seines Propheten keineswegs den Muslimen obliegt, sondern allein Gott vorbehalten ist: „Wir werden dir sicherlich genügen gegen die Spötter“ (Sure 15:95). „Wir Selbst haben diese Ermahnung hinabgesandt, und sicherlich werden Wir ihr Hüter sein.“ (Sure 15:9) Daher hat auch der Kalif ‘Umar ibn al-Chattāb (634-644) der islamischen Tradition gemäß gesagt: „Lasst das Böse schweigend vorübergehen.“

Demonstration am 11. Januar in Paris, an der mehr als 2 Millionen Menschen und 40 Staatsoberhäupter teilnahmen. ©AFP PHOTO / PATRICK KOVARIK

Ich will damit jetzt nicht einen „wahren Islam“ propagieren. Das ist einfach das, woran ich glaube. Ich spreche keinem anderen den Glauben ab, wie es jemand tut, der behauptet, er sei Muslim, und meint, der Islam sei nichts anderes als eine Lizenz zum Töten. Die Dinge sind viel komplizierter als irgendein Vers, der zum Frieden aufruft, und ein anderer, der zum Krieg auffordert. Und viel tragischer als die unnütze ideologische Polemik.

SCHEIDUNG IM SCHLAF. Am Tag vor dem Anschlag auf Charlie Hebdo hatte die ägyptische Zeitung Aqidati die Antwort von Dr. Adel Abul Abbas, Mitglied des Fatwa-Rates der Azhar, auf folgende Frage abgedruckt: Was sagt die Sharia dazu, wenn ein Mann die Scheidungsformel im Schlaf ausspricht? Muss sich seine Frau als geschieden betrachten, obwohl ein Schlafender ja wohl nicht mit vollem Willen handeln kann?

Das ist nur eine von Millionen Fatwas, die jedes Jahr in der islamischen Welt ausgesprochen werden. Die enorme Anzahl und die Art dieser Fatwas spiegeln die Bandbreite der Anfragen. Wenn man sie betrachtet, könnte man meinen, die Muslime hätten die Fähigkeit zu urteilen verloren und die ganze Verantwortung des Nachdenkens über die Übereinstimmung ihres täglichen Lebens mit ihrem Glauben an die religiösen Führer delegiert. Gleichzeitig spielen diese religiösen Führer, die die Last des Denkens für die ganze Gesellschaft übernehmen, die Rolle eines Vermittlers zwischen den frommen Vorfahren und den Kindern der modernen Gesellschaft. Sie sind gewissermaßen Sprachrohre der großen Imame der Geschichte (von denen sie ja auch ihre Legitimation und Autorität ableiten), und ihre Aufgabe besteht nur darin, die Reinheit des Islam zu bewahren, wie ihn die Vorfahren gelebt haben und wie Gott will, dass ihn die Nachkommen heute leben.

Heute kann dank der modernen Kommunikationsmittel jeder eine Fatwa für seine ganz persönliche Situation einholen. Die Moderne stellt eine Technologie zur Verfügung, die eindeutig die Religiosität von der Vernunft ablöst.

Früher, als es noch nicht so viele Kommunikationsmöglichkeiten gab, zeichneten sich die Fatwas durch eine gewisse Allgemeingültigkeit aus. Die Leute mussten selber nachdenken und sie deuten, um den Zusammenhang zwischen einer bekannten Fatwa und ihrer persönlichen Situation herzustellen. Heute kann dank der modernen Kommunikationsmittel jeder eine Fatwa für seine ganz persönliche Situation einholen. Dadurch braucht er dann selber nicht mehr nachzudenken, Analogieschlüsse zu ziehen oder zu argumentieren. Die Moderne stellt eine Technologie zur Verfügung, die eindeutig die Religiosität von der Vernunft ablöst.

Das widerspricht dem, was der Islam als sein wichtigstes Charakteristikum ansieht: dass es keinen Klerus gibt, sondern jeder dazu aufgerufen ist, „sein eigenes Herz zu befragen, auch wenn eine Rechtsauskunft (Fatwa) erteilt wird“. Denn die letzte Instanz, die das Handeln einer Person beurteilt, ist immer ihr Herz.

Die heutige islamische Kultur ist in intellektueller wie in praktischer Hinsicht nichts anderes als ein Gefängnis für die Werte der islamischen Zivilisation. Die religiösen Traditionen sind wichtiger geworden als die Glaubenserfahrung. Die Form ist wichtiger geworden als der Mensch, wichtiger als sein Geist, sein Herz und sein Gewissen. Dadurch ist es möglich geworden, zu töten und zu sterben im Namen der „Form“, und es wird hingenommen, dass die Person dieser Form geopfert wird.

Die Fatwa über die Scheidung im Schlaf kurz vor dem Anschlag auf Charlie Hebdo ist kein Zufall. Sie ist das paradoxe Anzeichen für einen Mangel an Vernunft, der das Leben ablehnt.

ENTLEERTE WERTE. In den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts sahen die Japaner ihren Kaiser Hirohito als eine Art Gott an, der sie zum wirtschaftlichen Aufschwung geführt hatte und zum Aufbau einer Militärmacht, die in der Lage war, weite Regionen der Welt zu beherrschen. Nach der unehrenhaften Niederlage der Japaner im Krieg behielt der Kaiser seine Sakralität, aber sie verlor komplett ihre Bedeutung, auch weil der Kaiser sein Volk dazu geführt hatte, andere zu zerstören, noch bevor das eigene Land zerstört worden war. So kam es, dass die Japaner ihn „das heilige Nichts“ nannten (vgl. Patrick Smith, Japan: A Reinterpretation, New York 2011).

Das „heilige Nichts“ beschreibt am besten die Werte der heutigen westlichen Zivilisation. Sowohl auf praktischer als auch auf kultureller Ebene sind diese Werte ihrer Bedeutung entleert, auch wenn sie allgemein noch als hoch und heilig angesehen werden, wie der Wert der Freiheit. Leider beschränkt sich das nicht nur auf die fehlgeschlagene Weitergabe dieser Werte nach außen, sondern auch auf den Bedeutungsverlust nach innen, auf geistiger wie praktischer Ebene. In der gegenwärtigen Kultur steht das Vergängliche im Zentrum. Nichts ist unterscheidbar, nichts hat eine Bedeutung, denn alles ist flüchtig.

Die Aufmerksamkeit der Gegenwartskultur hat sich vom Sein auf das Werden verlagert, auf das Vorübergehende in der Welt. Es ist eine Welt des Übergangs und des Vergänglichen. Die Ideologien sind überwunden, aber die Angst vor dem, was anders ist, hat zugenommen. Der Nihilismus ist auf dem Rückzug, aber seinen Platz hat eine Art passiver Neutralität gegenüber allem eingenommen. Die Vorsilbe „post-“, die allem vorangestellt wird, das einen Aspekt der menschlichen Erkenntnis darstellt (wie post-industriell, post-historisch, post-modern und so weiter), bedeutet nichts weiter als die Unfähigkeit, der gegenwärtigen Lage des Menschen einen Sinn abzugewinnen.

Die Fatwa über die Scheidung im Schlaf kurz vor dem Anschlag auf Charlie Hebdo ist kein Zufall. Sie ist das paradoxe Anzeichen für einen Mangel an Vernunft, der das Leben ablehnt.

Jürgen Habermas sieht darin eine Konsequenz des Ausschlusses der Religion aus dem öffentlichen Leben. Tatsächlich sind ja auch alle gesellschaftlichen Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, im Grundsatz zurückzuführen auf die Unfähigkeit, dem Leben einen Sinn zu geben. Und eine Quelle dieses Sinns ist ja gerade die Religion.

Heute kann dank der modernen Kommunikationsmittel jeder eine Fatwa für seine ganz persönliche Situation einholen. Die Moderne stellt eine Technologie zur Verfügung, die eindeutig die Religiosität von der Vernunft ablöst.

Die Postmoderne meint, sie habe die Menschheit aus dem Gefängnis geistiger Gegensatzpaare wie Gut – Böse, Gegenwart – Abwesenheit, Ich – Anderer, befreit. Aber in Wirklichkeit ist sie nur dazu übergegangen, diese Paare nicht mehr als Gegensätze zu sehen, sondern auf die gleiche Ebene zu stellen. Daraus folgt eine Unfähigkeit, Urteile zu fällen, die wiederum zur Unterbrechung jedweder Interaktion mit der Wirklichkeit führt und zur Uniformierung der individuellen und gemeinsamen Identität.

Die Postmoderne hat gegen den Ausschluss des „Anderen“, des „Verschiedenen“ gekämpft, den die Moderne praktizierte. Aber sie hat schließlich keinen anderen Weg gefunden, als die „Verschiedenheit“ auszuschließen, da es weitverbreitete Ansicht ist, dass das friedliche Zusammenleben nur dann Erfolg haben könne, wenn der religiöse und ethische Bereich der Erfahrung aus der öffentlichen Sphäre ausgeschlossen wird. Das impliziert jedoch den Ausschluss des Anderen, und wenn die religiöse Erfahrung einer der wichtigsten Bausteine der Identität ist, wird aus dem Ausschluss des Anderen letztlich der Ausschluss seiner selbst.



FREIHEIT. Hat diese extreme Verweltlichung nun ihr Ziel erreicht? Es gibt heute keine europäische Metropole, in der nicht eine „Parallelgesellschaft“ existiert, in der muslimische Einwanderer leben. Die hektischen Versuche, die Migranten zu integrieren, haben nur dazu geführt, die kulturellen und religiösen Unterschiede im öffentlichen Raum unsichtbar zu machen. In Frankreich wurde ein Gesetz erlassen, dass das Zeigen religiöser Symbole im öffentlichen Raum verbietet. In der Folge ist Frankreich ein Land geworden, in dem der Staat und die Verfassung religiöse Pluralität schützen, aber per Gesetz verbieten, dass sie zum Ausdruck kommt.

Der Ausschluss der unterschiedlichen Religionen aus dem öffentlichen Raum hat dazu geführt, dass Anpassung, und nicht Interaktion, den Rahmen bildet, in dem sich die Beziehung zwischen den Einwanderern und ihrer neuen Gesellschaft abzuspielen hat. Dies und andere Faktoren subjektiver Art, die mit der Kultur der Einwanderer zu tun haben, hat zur Entstehung einer Parallelgesellschaft geführt, die in einem Gegensatz zu dem sie umgebenden Umfeld steht, das ihr völlig fremd bleibt.

Wenn jemand in diesem kulturellen Umfeld fragen würde: „Was ist Freiheit?“, dann bekäme er wahrscheinlich alles Mögliche zur Antwort. Aber eine Freiheit, die alles Mögliche bedeuten kann, ist keine Freiheit. Die wahre Freiheit hat ein Gesicht, einen Namen, sie hat Grenzen, die sich aus der menschlichen Erfahrung ergeben. Es gibt keine Freiheit, wenn dem Einzelnen seine Identität, seine Geschichte, seine Existenz und sein Ziel genommen werden. Damit würde sie zu einer sinnentleerten Form und würde, gemeinsam mit der gegenwärtigen islamischen Kultur, zu einer Marginalisierung der Person, ihrer Erfahrung und ihrer Identität beitragen. Dann kämen wir vom „heiligen Nichts“ zum „Nichts ist heilig“. In der Tat ist nichts heilig, wenn die Form im Mittelpunkt steht und die Person am Rand.

Im Koran wie in der Bibel beginnt Adam sich mit der Welt in Beziehung zu setzen, indem er den Dingen einen Namen gibt. Der moderne Adam dagegen verliert jeden Tag einen Teil seiner Welt, weil er den Namen der Dinge vergisst, weil er ihnen keinen Namen mehr gibt und weil es ihm nichts bedeutet, den Dingen einen Namen zu geben. Der heutige Mensch ist ein Post-Adam geworden. Dagegen müssen wir, um die heutigen Herausforderungen anzugehen, mehr denn je auf den religiösen Sinn setzen, auf die persönliche Erfahrung, auf den wahren Adam.

*Wael Farouq ist Dozent für Arabische Sprache an der Amerikanischen Universität Kairo und Gastprofessor an der Katholischen Universität Mailand.