Syrische kurdische Bevölkerung, die gezwungen ist, ihre Heimat zu verlassen.

Die Augen Erbils

„Ihr Leid ist immens. Und die Entscheidung, vor der sie stehen, noch größer.“ Die Entscheidung, die sie angesichts des Entweder-Oder zu treffen haben: zum Islam übertreten oder alles verlieren. Bericht über die chaldäische Kirche Kurdistans.
Alessandra Stoppa

„Erst nachdem ich dort war, ist mir klar geworden, was das wirklich heißt.“ Pater Bernardo Cervellera, Missionar des Päpstlichen Instituts für die auswärtigen Missionen und Direktor des Nachrichtendienstes AsiaNews, der im letzten August die Kampagne „Adoptiere einen Christen aus Mossul“ lanciert hat, ist nach Erbil gefahren, weil er zehn Tage bei seinen christlichen Brüdern und Schwestern verbringen wollte, um ihnen zu zeigen, dass sie „nicht vergessen“ sind.

Er fand sich dort in der Gesellschaft von Lehrern, Architekten, Unternehmern und Angehörigen von Berufsständen aller Art wieder, die jeden Wohlstand hinter sich gelassen haben, als der IS die Ebene von Ninive besetzt hat. Sie haben dies getan, um ihren Glauben zu bewahren. „Er ist das Wichtigste in ihrem Leben, wichtiger als die Pläne, die sie hatten.“ Trotz äußerster Armut tun sie alles, um die religiösen Feste zu feiern: „Sie bereiten die Messe vor, Momente des Gebets, Trauungen, Beerdigungen, mit Gesang, Blumenschmuck… Alles mit einer wunderbaren Sorgfalt.“ Er hat in der chaldäisch-katholischen Kirche an einer Priesterweihe nach syrisch-orthodoxem Ritus teilgenommen: „Dieselben Menschen, die ich in ihrer ganzen Armut in den Zelten gesehen hatte, die wirklich nichts besitzen, sind an jenem Tag so gut gekleidet zur Messe erschienen, wie es ihnen möglich war.“

Der junge Mann, der zum Priester geweiht wurde, hat weder eine Gemeinde noch ein Zuhause. Er lebt seine priesterliche Sendung unter den Flüchtlingen. Auch er ein Flüchtling. So wie jene Frauen zu Flüchtlingen wurden, die sich, weil sie Mossul nicht verlassen wollten, dem Anschein nach zum Islam bekehrt und akzeptiert haben, unter der vom IS auferlegten Scharia zu leben. „Nach einigen Wochen sind sie geflohen. Sie haben Dutzende von Kilometern in der Wüste auf sich genommen. Kaum, dass sie in Erbil angelangt waren, haben sie nicht etwa darum gebeten, sich ausruhen zu dürfen. Sie haben darum gebeten, den Bischof sehen zu können. Um ihn um Vergebung zu bitten.“

Pater Joseph, Vorsteher des Klosters von Karakosch: „Lieber Pater, unsere Kirche ist aus dem Blut, das die Märtyrer auf diesem Boden vergossen haben, hervorgegangen. Für uns bedeutet Neuevangelisierung: bereit sein zum Martyrium.“

Das leuchtendste Zeichen des Glaubens dieser Menschen ist „die Tatsache, dass sie nicht verzweifeln“. Pater Bernardo ist vielen jungen Menschen begegnet: „Sie hoffen. Sie hoffen wirklich. Auch wenn die Politik ihnen nicht hilft, wollen sie etwas aufbauen, nach Hause zurückkehren, und sie wollen vor allem das Christentum unter Schiiten, Sunniten, Jesiden bezeugen. Der christliche Student Rami Sadik, der mit 22 Jahren ein Flüchtling ist, kümmert sich um die Kleinsten im Lager Ayun Erbil („Die Augen Erbils“). In seiner Heimatstadt Karamles, aus der er im vergangenen Sommer mit seiner Familie fliehen musste, hat er Sportwissenschaften studiert. Hier kann er sein Studium nicht fortsetzen: Die Kurse sind anders, die Sprache ist eine andere. „Wir können dem Irak nicht den Rücken kehren“, hat er zu Pater Bernardo gesagt: „Hier sind unsere Wurzeln. Hier liegt unser Leben und unsere Zukunft.“

In den Lagern bitten sie einen nicht um Geld, Essen, Hilfe. „Es ist unglaublich“, sagt Cervellera: „Sie bitten dich nur darum, für sie zu beten. Wenn ich in ein solches Elend stürzen würde, wäre ich sprachlos. Dort aber habe ich einen Glauben gesehen, der dem Leben Sinn verleiht, dem ganzen Leben, auch dem Unglück. Das hat mich verändert. Ich sehe die Probleme, die ich habe, jetzt in einem anderen Licht, ich mache kein Drama mehr daraus.“ Herzen, die alle Herzen enthüllen, die unsere „Engstirnigkeit“ zeigen: „Sobald uns etwas passiert, denken wir, Gott habe es auf uns abgesehen. Für sie ist Gott die Quelle, die sie am Leben hält.“

Wie ist ein solcher Glaube möglich? Er denkt immer noch an die Antwort von Pater Joseph, dem Vorsteher des Klosters von Karakosch: „Lieber Pater, unsere Kirche ist aus dem Blut, das die Märtyrer auf diesem Boden vergossen haben, hervorgegangen. Für uns bedeutet Neuevangelisierung: bereit sein zum Martyrium.“ „Das Martyrium“, meint Cervellera weiter, „ist nicht etwas, das der Vergangenheit angehört oder das in weiter Ferne liegt: Es ist eine ständige Dimension ihres Glaubens. Und nicht nur das Martyrium, ein und für alle Mal ihr Blut zu vergießen, sondern das tägliche Martyrium.“ Das Verlangen, das sie haben, dort zu bleiben und inmitten anderer Religionen zu leben, „drängt mich zu dem Wunsch, christliche Gemeinschaften zu schaffen, die für alle offen sind. Ich habe Beerdigungen von Muslimen gesehen, an denen sehr viele Christen teilgenommen haben. Das gelebte Martyrium lässt deutlicher verstehen, dass es im Glauben möglich ist, jedem Menschen zu begegnen“.

Die chaldäische Kirche Kurdistans, die sechzig- bis siebzigtausend Menschen umfasst, muss sich um mindestens 130.000 Flüchtlinge kümmern. „In der Region gibt es mehr als 550.000 Vertriebene. Im Libanon ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Ein Schlag ins Gesicht für uns, für die Angst, die uns ergreift, und die Abschottung, die erfolgt, wenn wir die Flüchtlingsboote auf dem Meer sehen. Die Welt ist ein Feldlazarett, und wir hoffen nur, ,dass sie nicht zu uns kommen’. Wir wollen das Leben bewahren, das wir führen.“ Er hat Priester, Ordensfrauen und Laien gesehen, die ihr Leben ganz hingeben. „Sie haben ihre Häuser geöffnet. Kraft eines einfachen, entschlossenen und entschiedenen Glaubens.“

Für den Herbst organisiert er eine Werkinitiative für Jugendliche aus Italien. Auf AsiaNews hat er mit den Worten des Propheten Jesaja an Jesus und die verfolgten Christen in Asien und auf der Welt erinnert: „Er tat seinen Mund nicht auf  (…) wie ein Schaf angesichts seiner Scherer.“ „Stumm sein“, „den Mund nicht auftun“, während man der Bösartigkeit der Menschen begegnet: „Gott wirkt in der Stille des Todes, der aus Liebe angenommen oder gewaltsam zugefügt wird. Eine unzerstörbare Hoffnung zeigt sich am Morgen des Ostertages. Und eine kleine Öffnung des Herzens genügt, um im Nu das ganze Leben zu ergreifen.“