SYRIEN - GESCHICHTE VON SOULAIMAN
Rückkehr nach Damaskus: Soulaiman ist Arzt und hat sich entschieden, nach Syrien zurückzukehren, in ein Land im Krieg. Er will seinen alten Freunden helfen – und ihnen erzählen, wie die neuen Freunde von CL sein Leben verändert haben.Plötzlich schlägt eine Rakete ein. Sie kommt aus dem Vorort Jobar, der unter der Kontrolle von Dschihadisten ist. In dem kleinen Haus erschrecken die Kinder. Sie rennen zur Mama und klammern sich an sie. „Papa, was war das? Was sollen wir tun? Werden wir sterben?“ Dann noch ein Knall. Die Angst eines ganzen Landes konzentriert sich in diesen wenigen Quadratmetern. Die Kinder schreien. „Beruhigt euch. Gott ist bei uns, er wird uns beschützen.“ Die Familie setzt sich in dem kleinen Flur auf den Boden. Ein weiterer Knall. Wen von den Nachbarn mag es getroffen haben? Ist jemand umgekommen? Diese Zone ist die gefährlichste in Damaskus. In der Altstadt leben die Menschen teilweise, als ob es den Krieg nicht gäbe. Aber hier lässt das Krachen der Einschläge die Wände erzittern. Sofern sie noch stehen. „Ich fühlte mich wie in einem dunklen Tunnel auf der Suche nach einem Ausweg aus diesem Albtraum“, berichtet Soulaiman. „Dann sah ich plötzlich die Jesus-Ikone im Zimmer gegenüber. Ich sah sein ruhiges Gesicht, das mich ansah und mir sagte: Hab keine Angst. Ich bin hier, ich bin bei dir und für dich da. Ich hielt meine Frau und die Kinder fest umschlungen und wir warteten, bis alles vorüber war. Dabei habe ich mich an die Augenblicke erinnert, in denen ich die Gegenwart Christi in meinem Leben gespürt hatte. An den Weg, den ich mit den Freunden in Russland gegangen bin. Das hat mir Kraft gegeben.“
Wo fängt man am besten an, Soulaimans Geschichte zu erzählen? Bei Andrea, dem Arzt aus Mailand, den er 2008 in Damaskus kennengelernt hat? Oder bei dem Antrag auf Aufnahme in die Fraternität von CL, den er im letzten August unterschrieben hat? Anschließend ist er, nach drei Jahren in Russland, in die umkämpften Gebiete Syriens zurückgekehrt. Beginnen wir an einem Abend im Februar 2012 in der „Bibliothek des Geistes“, einem ökumenischen Kulturzentrum in Moskau. Draußen herrscht klirrender Frost. Soulaiman ist seit drei Monaten in Russland. Er spricht kein Wort Russisch und nur ein paar Brocken Englisch. Seine Frau und die beiden Kinder sind in Syrien geblieben. Jean-François Thiry macht ihm die Tür auf. Aber er versteht nicht, was Soulaiman will. Er meint, er suche Arbeit. Doch eine Arbeit hat er schon. Er ist Arzt, Hämatologe. Er ist nach Moskau gekommen, um eine Facharzt-Ausbildung zu machen. Ursprünglich wollte er die in Italien machen. Aber seit dem Beginn des Krieges gibt es nur noch drei Möglichkeiten: China, Iran oder Russland. Soulaiman hat sich für Russland entschieden. Dabei hat auch eine Rolle gespielt, dass es dort „zumindest ein paar Christen gibt“. Die Adresse der „Bibliothek des Geistes“ hatte er von Andrea bekommen. Die beiden haben sich vor ein paar Jahren in Damaskus kennengelernt und sind Freunde geworden. „Ich war beeindruckt von der Art, wie er die Patienten betrachtete – und auch wie er mich betrachtete. Daher habe ihn zu mir nach Hause eingeladen. Er sollte meine Familie kennenlernen“, erzählt Soulaiman. Nach ein paar Tagen in Moskau, in denen er schon fast depressiv wurde – hinzu kamen die Schreckensnachrichten aus Damaskus über Artillerieangriffe und Todesfälle –, schrieb er eine Mail an Andrea. Der schickte ihn zur Bibliothek des Heiligen Geistes: „Dort findest du Freunde von mir. Die versuchen genau wie ich, das Christentum ernsthaft zu leben.“ Thiry lud Soulaiman zum Seminar der Gemeinschaft ein.
Wie ein Prinz.
„Ich bin dann ein paar Mal zu ihren Treffen gegangen, aber aufgrund der Sprachbarriere waren die Gespräche sehr mühsam. Trotzdem fühlte ich mich bei ihnen geborgen und geliebt. Ihr Blick auf mich war der gleiche, den ich bei Andrea gesehen hatte. Ostern luden mich die Memores Domini zum Abendessen ein. Ich hatte nicht wirklich verstanden, wer sie waren, aber dort habe ich dann erfahren, dass auch Andrea bei den Memores ist. Ich kam mir vor wie ein Prinz, so nett haben sie mich aufgenommen. Ich sagte ihnen: ‚Ich weiß nicht, auf welche Weise ihr Gott dient, aber ihr habt mir das Gefühl gegeben, dass ich dazu gehöre.‘ In dieser Nacht habe ich vor Freude geweint.“
Mit der Zeit lernt Soulaiman die Bewegung immer besser kennen. „Mein Leben begann sich zu verändern und ich begann das Gute in meinem Leben zu sehen. Die Situation in Syrien verschlimmerte sich, trotzdem verlor ich nicht die Hoffnung.“ Im Sommer 2013 kann er ein paar Wochen Ferien in seiner Heimat machen. Er erzählt: „In meinem Herzen trug ich einen neuen Geist und ein neues Leben. Ich war bereit, für meine Brüder in Syrien zu arbeiten. Gleichzeitig fragte ich mich: Wie kann ich einer Mutter, die ihr Kind verloren hat, oder einem Kind, das gesehen hat, wie seine Eltern von einer Bombe getötet wurden, oder einer Familie, die alles verloren hat, die Liebe Gottes zeigen? Ich hatte zwar die Bewegung getroffen, aber ich wusste nicht, wie ich die Liebe bezeugen konnte, die ich in mir fühlte.“
Die Monate vergehen. Inzwischen ist Soulaiman nach St. Petersburg gezogen. Auch dort wird er von der kleinen Gemeinschaft von CL aufgenommen, die von seiner Neugier und seinem Enthusiasmus überrascht ist. In dieser Zeit kommt Don Julián Carrón zu einer Veranstaltung nach Russland. Soulaiman erzählt ihm von seiner schwierigen Lage, von der kritischen Situation in Syrien, von seiner Familie. Er erwartet von dem „obersten CLer“ eine ermutigende Antwort, die ihm eine Last vom Herzen nimmt. Aber Carrón sagt kurz und bündig: „Du musst im Glauben reifen.“ Es dauert Wochen, bis Soulaiman sich von dieser Antwort erholt hat. „Ist der Mann sich klar“, so fragt er sich, „wie schwierig meine Lage ist? Und dann sagt er mir, ich müsse reifer werden?“ Diese Worte nagen wie ein Wurm an ihm. Er diskutiert darüber mit den befreundeten Memores in Moskau. Weihnachten 2015 kommt Andrea zu Besuch und fragt, ob er ihm helfen solle, nach Italien zu wechseln und seine Familie nachzuholen. „Ich antwortete ihm, dass ich nach Syrien zurückkehren wolle. Dort waren sehr viele Menschen, die etwas von mir erwarteten. Nicht nur meine Frau und meine Kinder, sondern auch meine Patienten. Ich hatte erkannt, dass ich genau dazu berufen war. Die Begegnung mit den neuen Freunden in Russland hat mir auch die nötige Kraft dazu gegeben.“
Als er wieder in Damaskus ist, will er sofort mit seiner Familie in ein sichereres Viertel umziehen. Doch das Geld reicht nicht. So muss er nun jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit durch ein von Terroristen kontrolliertes Gebiet. „Sieben Minuten Angst. Das Kreuz, das am Rückspiegel hängt, gibt mir dabei Kraft und Hoffnung. Manchmal kommen mir auch die Gesichter der Freunde in Russland in den Sinn, ihre Stimmen und ihre sprechenden Augen. Ihr Lächeln trägt mich und erinnert mich an Jesus.“
Freunde aus Kindertagen.
Die Arbeit im Krankenhaus ist eine tägliche Herausforderung für Soulaiman. Medikamente sind knapp. „Das tut mir weh. Ich sehe diese Leute, die sterben müssen. Ich möchte etwas für sie tun, aber es geht nicht. Tareq und Bashar, zwei Freunde aus Kindertagen, und ich haben beschlossen, eine kleine Apotheke aufzumachen und so viele Medikamente wie möglich zu sammeln. Wir sind noch nicht ganz so weit, aber wir wollen bald anfangen.“ Soulaimans Schicht endet um vier Uhr nachmittags. Danach geht er in ein Viertel von Damaskus, wo er gerade eine kleine Privatambulanz aufbaut. Um neun Uhr abends kommt er nach Hause, um seinen Söhnen Elias und Mishia, 13 und 11 Jahre alt, noch gute Nacht sagen zu können.
Die Apotheke ist nicht das einzige Projekt, das Soulaiman mit Tareq und Bashar verfolgt. In der Weihnachtszeit haben sie ein Fest für 300 Kinder organisiert. „Mit Unterstützung von AVSI konnten wir ihnen Mützen und warme Kleidung für den Winter schenken. Und wir haben über die Gegenwart Gottes in unserem Leben gesprochen. Außerdem haben wir noch ein Fest für ein paar Familien veranstaltet, die aus anderen Regionen des Landes geflüchtet waren. Dann haben wir den Kindern auf der onkologischen Station Geschenke gebracht und einen Weihnachtsbaum für sie aufgestellt. Auf den Handys der Freunde in Moskau kam ein Video an, das die Kinder zeigt, wie sie zum Rhythmus einer Trommel tanzen. Der Raum ist nur durch eine einzige Glühbirne erleuchtet. Ein Mann ist als Weihnachtsmann verkleidet, ein anderer als Clown. Die Kinder lachen. Draußen ist Krieg.
„Jeden Donnerstag treffen wir uns mit Schülern aus der Oberstufe im Pfarrzentrum“, erzählt Soulaiman. „Wir sprechen mit ihnen über den Glauben. Ab und zu bringe ich einen Abschnitt der Texte mit, die wir im Seminar in Moskau gelesen haben. Die Jugendlichen sind dankbar, so etwas lesen zu können. Wir bereiten auch gemeinsam etwas für den Muttertag vor.“
Auch Tareq und Bashar, die Freunde aus Kindertagen, wollten wissen, warum Soulaiman sich so verändert hat. Das erste, was sie ihn fragten, war, wieso er sich entschieden habe, nach Syrien zurückzukehren. Er antwortete, er habe besondere Freunde gefunden. Und das Zusammensein mit ihnen habe ihm geholfen zu erkennen, dass seine Aufgabe in Syrien sei. Tatsächlich hatte sich in Russland gar keiner getraut, ihm zu raten, er solle ins Kriegsgebiet zurückgehen.
Giussani auf Youtube.
„Tareq und Bashar haben mich gefragt, was diese Bewegung sei, die mich so verändert hat. Ich habe versucht, es ihnen zu erklären. Ab und zu lese ich ihnen etwas vor aus den Texten von Giussani oder Carrón, die ich bekomme. Einmal meinten sie, sie wollten gerne wissen, wie dieser Giussani ausgesehen habe. Da habe ich ihnen ein kurzes Video auf Youtube gezeigt. Es hat ihnen sehr gefallen.“ Aber das war offensichtlich noch nicht genug. Als Bashar nach Hause kam, suchte er weiter im Internet nach Don Giussani und fand ein weiteres zehnminütiges Video mit arabischen Untertiteln. „Bashar meinte, man habe gemerkt, dass dieser Mann trotz seines hohen Alters sehr viel Energie hatte.“ Und die Neugier besteht weiter. Im nächsten Monat werden Exerzitien der Fraternität im Libanon stattfinden. Soulaiman kann nicht dabei sein, aber Tareq und Bashar haben beschlossen hinzufahren.