In einem Apac-Zentrum. An der Wand steht: „Wenn man einen Menschen von außen und innen überprüfen könnte, würde sich bestimmt keiner als unschuldig bezeichnen.“

GEFÄNGNISSE OHNE WÄRTER - BRASILIEN

In Brasilien gibt es Gefängnisse, die ohne Wärter und Stacheldraht auskommen. Und es werden immer mehr. Was ist das Geheimnis dahinter? Wir haben einen der Initiatoren gefragt. A. FERREIRA erklärt, warum es so schwierig ist, „auf die Freiheit zu setzen“.
Alessandra Stoppa

Wenn Mário Ottoboni, der Gründer der APAC, von seiner Erfahrung berichtet, macht er stets eine Vorbemerkung: „Wenn ihr kein offenes Herz habt, werdet ihr nicht verstehen, was ich euch sage.“ Ähnlich sieht es Valdeci Antônio Ferreira, sein Schüler.

Ottoboni, ein brasilianischer Rechtsanwalt, hat 1972 die APAC gegründet. Er eröffnete das erste dieser Gefängnisse, die ohne Wärter, Uniformen, Stacheldraht, Waffen, Wachhunde, Handschellen und erniedrigende Durchsuchungen auskommen. Wer dort hinkommt, wird als Mensch behandelt und stets und ausschließlich bei seinem Namen gerufen. „Die Befreiung fängt mit dem Namen an“, erklärt Ferreira. Er ist Direktor der FBAC (der brasilianischen Vereinigung zur Unterstützung von Häftlingen), die heute die APACs trägt. Mittlerweile findet die Methode auch außerhalb Brasiliens Anwendung.

 Valdeci Antônio Ferreira

Die APAC-Methode entstand als konkrete Antwort einer Gruppe von Katholiken auf das Leid, dem sie in den brasilianischen Gefängnissen begegneten. Inzwischen werden sie auch von den Justizbehörden unterstützt. Eine Ausstellung beim letztjährigen Meeting in Rimini über die APAC hat tausende Besucher beeindruckt. Die Methode verfolgt letztlich das gleiche Ziel wie der normale Strafvollzug: die Wiedereingliederung des Häftlings in die Gesellschaft. Bei den APAC-Zentren, die mehr einer Gemeinschaft als einem Gefängnis ähneln, geschieht dies durch ein Leben, das aus Arbeit, Spiritualität, Disziplin und Lernen besteht. Es kommt nicht darauf an, welches Verbrechen jemand begangen hat und zu welcher Strafe er verurteilt ist. Jeder recuperando („Wiedereinzugliedernde“) ist selbst verantwortlich für seine Entwicklung und mitverantwortlich für die Verwaltung des Zentrums, wobei er durch ehrenamtliche Helfer und teils auch durch seine Familie unterstützt wird.

Wir haben Ferreira bei der Versammlung der Verantwortlichen von CL in Lateinamerika getroffen, wo er als Gastredner von seinen Erfahrungen und der kleinen Revolution berichtete, die einige der gewalttätigsten (und überfülltesten) Gefängnisse der Welt umgekrempelt hat. Zu Beginn des Jahres 2017 machte das brasilianische Justizvollzugssystem wieder einmal negative Schlagzeilen durch eine Welle von Gefängnisrevolten, bei denen Insassen von ihren Mithäftlingen enthauptet und verbrannt wurden. „Die Zeitungen berichteten darüber, weil auf einen Schlag Hunderte von Menschen ums Leben gekommen sind“, meint Ferreira. „Aber in den brasilianischen Gefängnissen gibt es Tag für Tag Tote, durch Selbstmord, Gewalt und Krankheiten.“ Ferreira hat Jura und Theologie studiert und wusste anfänglich nichts über Gefängnisse. „Auch heute weiß ich noch nicht viel“, sagt er. „Ich bin Lehrling in dieser Hinsicht. Und ich möchte bis zu meinem Tod Lehrling bleiben.“ Als Comboni-Laien-Missionar widmet er seit 33 Jahren sein Leben den Häftlingen, seitdem er mit 21 Jahren die APAC kennengelernt hat.

Wo liegen heutzutage die Probleme bei den Gefängnissen und im Strafvollzug?

Die Gesellschaft begeht einen großen Irrtum, wenn sie meint, jemanden zu inhaftieren löse das Problem. Ein Häftling ist ein soziales Problem: Er ist eine Wunde, denn er ist das Ergebnis zerrütteter und zerbrochener Familien, das Ergebnis unzureichender politischer Maßnahmen, des Drogenhandels … . Doch die Gesellschaft nimmt sich des Problems nicht an. Das ist bequem. Man will diese Wunde nicht anrühren, um nicht womöglich einsehen zu müssen, dass auch man selber in der Situation der Häftlinge sein könnte. Wie schon der heilige Augustinus gesagt hat: „Bei jedem Verbrechen, das jemand begeht, gibt es stets einen anderen, der es ebenso begehen könnte.“ Mit der Ansicht, man müsse jemanden für seine Verfehlungen möglichst viel leiden lassen, sperrt sich die Gesellschaft selbst ins Gefängnis.

Wieso?

Ein Mensch, den man hinter Gefängnismauern allein lässt, wird der Gesellschaft wieder schaden, weil er sein persönliches Problem nicht gelöst hat. In Brasilien, aber nicht nur dort, ist die Situation in den Gefängnissen sehr problematisch. Es gibt dort sehr einflussreiche kriminelle Banden, die die Macht unter sich aufteilen. Sie kontrollieren innerhalb und außerhalb der Gefängnisse den Handel. Sie besetzen den Raum, den der Staat nicht ausfüllt. In dieses Korruptions-System werden alle hereingezogen. Die Häftlinge sind gezwungen, sich einer der Gruppen anzuschließen. So bleiben sie für immer gefangen. Sie werden irgendwann das Gefängnis verlassen, aber das Gefängnis lässt sie nicht mehr los.



Sie behaupten, dass die APAC-Methode in diesem Jahrtausend das Strafvollzugssystem revolutionieren wird, so dass es nicht mehr dasselbe sein wird. Warum sind Sie sich da so sicher?

Weil Gott es leid ist, seine Kinder in diesem Elend leiden zu sehen. APAC ist ein Traum Gottes, es ist Seine Antwort auf dieses Leid. Die vorherrschende Mentalität will, dass der Häftling leidet oder gar stirbt. Das ist ein so tief verwurzeltes Vorurteil, dass man es nicht von einem Tag auf den anderen ausrotten kann. Vielleicht braucht es Jahrhunderte dazu. Doch dieses Werk wächst, und zwar zu Füßen des Kreuzes. In unserem geistlichen Programm schlagen wir jetzt auch die „Reise des Häftlings“ vor, ein Studium des Markusevangeliums in acht Abschnitten. Da wird Jesus nicht gepredigt, sondern der „Wiedereinzugliedernde“ selbst entdeckt, wer Jesus ist, er macht Erfahrungen mit Ihm. Wir schlagen dieses Programm in 44 APAC und drei normalen Gefängnissen vor.

Sie haben die Schlüssel des APAC von Itaúna dem Häftling José de Jesus übergeben, der zu 56 Jahren verurteilt ist und zwölf Fluchtversuche hinter sich hat. Auf die Frage, warum er jetzt nicht mehr fliehe, hat er geantwortet: „Weil niemand vor der Liebe flieht.“ Es ist kaum zu glauben, dass eine solche Veränderung wirklich nur durch Liebe geschieht.

Es ist aber so. Für jeden ist das so. Wir fliehen im Leben vor vielen Dingen, aber nicht vor echter Liebe. Dass „niemand vor der Liebe flieht“, ist wahr unter einer Bedingung: wenn diese Liebe eine lebendige Erfahrung ist. Als ich José die Schlüssel übergeben habe, hat er diese Erfahrung gemacht. Das ist eine Erfahrung, die möglicherweise drei Jahre auf sich warten lässt. Oder eine Ewigkeit. Oder sie geschieht im Handumdrehen … Man kann das nicht erklären.

Warum haben Sie ihm die Schlüssel gegeben?

José brauchte ein überwältigendes Zeichen des Vertrauens, um den Weg der Befreiung gehen zu können. Das gleiche ist mir zum Beispiel mit Washington passiert, einem anderen Häftling. Er war sehr aggressiv und wir hatten viele Schwierigkeiten mit ihm. Er wollte nichts tun und hat damit die ganze Gruppe angesteckt. Wir waren nahe daran, ihn zu verlegen, als einer der „Tage der Befreiung durch Christus“ stattfand, die zu den zwölf Pfeilern unserer Methode gehören (siehe Kasten). Washington saß in der ersten Reihe, aber nur weil er musste. Wir waren im Vortragssaal des geschlossenen Vollzugs. Dort gibt es acht Tore, die hintereinander auf- und zugehen. Als ich die Häftlinge fragte, warum sie nicht fliehen, sprang er auf: „Weil die Tore verschlossen sind.“ Daraufhin habe ich angeordnet, die Tore zu öfnnen, eins nach dem anderen. „Warum gehst du jetzt nicht?“  „Wer garantiert mir denn, dass mich nicht draußen einer verhaftet?“ „Glaubst du mir nicht? Geh raus und bring ein Zeichen mit zurück, dass du draußen warst.“ Er ist aufgestanden und hinausgegangen. Absolute Stille. Das waren die längsten fünf Minuten meines Lebens. (Er lacht.) Washington kam mit einem Zweig in der Hand zurück. Ich habe ihn gefragt: „Warum bist du zurückgekommen? Du musst noch viele Jahre absitzen … “ Da begann er zu weinen: „Niemand hat mir je vertraut.“ Liebe kann jeden zurückgewinnen. Ausgehend von seinem Namen und einer Begegnung.

Von welcher Liebe sprechen Sie?

Die Barmherzigkeit Gottes, die sich uns zuneigt. Liebe hat viele Gesichter. Das erste ist die Freude. Die Freude ist der schnellste Weg, zum Herz vorzudringen, in den innersten Bereich der Person. Das zweite Gesicht der Liebe ist das Opfer. Wer liebt, verzichtet auch. Ich verbringe viel mehr Zeit mit den Häftlingen als mit meinen leiblichen Geschwistern oder meiner Mutter. Doch das Opfer ist nie alles auf einmal.

In welchem Sinn?

Wenn man meint, man sei nur noch einen Schritt von Jesus entfernt, man könne Ihn fast greifen, dann geht Er wieder einen Schritt weiter. Er lässt sich nicht greifen. Er lässt sich berühren, wie von der blutflüssigen Frau, aber man kann Ihn nicht besitzen. Der heilige Franziskus hat gesagt: „Von Gott hat man nie genug.“ Ein weiteres Gesicht der Liebe ist das Leid. Das Leid des anderen erreicht meine Seele. Und dann das Risiko, Liebe ist immer ein Risiko. Wenn ich liebe, muss ich etwas riskieren und vertrauen. Was aber nicht bedeutet, unnötige Risiken einzugehen. Bei einem Projekt wie den APAC haben wir viele Freunde, aber auch viele Feinde … Jeden Abend, wenn ich nach Hause komme, schaue ich mich um. Ich weiß nicht, von wo die Gefahr kommen mag. Aber leider kann jemand, der im Gefängnis gewesen ist, auch zum Verräter werden. Wir machen uns keine Vorstellung, was es bedeutet, wenn man seiner Freiheit beraubt ist.

Haben Sie von Anfang geglaubt, dass die Methode, ganz auf die Freiheit zu setzen, wirklich funktioniert?

Als ich zum ersten Mal Häftlinge aus verschiedenen Gefängnissen, die mit zu den schlimmsten zählten, mit zum Nationalkongress der APAC genommen habe, konnte ich die ersten beiden Nächte nicht schlafen, aus Angst, sie würden fliehen. In der dritten Nacht fragte ein Freund mich: „Seit wann kontrollierst ausgerechnet du, dass sie nicht fliehen?“ Das war genau der Punkt, ich glaubte noch nicht hundertprozentig daran. Dann habe ich mich darauf verlassen und bin schlafen gegangen. Am nächsten Morgen waren alle noch da. Da wurde mir klar, dass es stimmt. Das ist wie in den Fluren, in denen die Lichter schrittweise angehen, wenn man weitergeht. Die Gotteserfahrung ist genau das: Man macht einen Schritt, das Licht geht an und man geht, soweit man sehen kann. Wenn man dann ins Dunkle kommt, muss man einen weiteren Schritt machen. Bei den APAC ist es genau dasselbe.

Flieht niemand aus den APAC?

In äußerst seltenen Fällen ist es vorgekommen. Und warum? Weil diejenigen nicht die Erfahrung der Liebe gemacht hatten.

Es reicht also nicht einfach, die Methode anzuwenden.

Nein. Wenn jemand mit seiner kriminellen Vergangenheit bricht, tut er dies nicht, weil die Methode korrekt angewendet wurde, sondern weil sich ein Band der Freundschaft und Wertschätzung gebildet hat. Das verändert den Menschen. Dieses Band entsteht auf vielerlei und oft ganz einfache Weise: Ein Häftling hat Zahnschmerzen und man holt einen Zahnarzt für ihn. Daraufhin sagt er einem: „In den früheren Gefängnissen habe ich unheimlich unter Zahnschmerzen gelitten …“ Bei uns reicht es nicht, wenn jemand sein Verhalten ändert. Das ist eine äußerliche Veränderung, aber in seinem Inneren ist vielleicht noch ein Vulkan der Rebellion und Rachsucht. Was sich ändern muss, ist die Mentalität, und das verlangt eine Veränderung des Herzens.

 Und wenn einer flieht oder rückfällig wird …

Ich frage mich nie: Valdeci, wie viele Personen hast du erfolgreich wiedereingegliedert? Ich frage mich: Valdeci, hast du geliebt? Eugenio, ein junger Mann von 23 Jahren, verfiel nach Ablauf seiner Strafe wieder den Drogen. Dann wurde er umgebracht. Angesichts seines Leichnams sagte ich mir: Meine Liebe ist gescheitert. Mit der Zeit lerne ich aber, dass Liebe nie scheitert. Gott wird nie von unserem Bösen besiegt werden, denn Er wird nie müde.

 Was bedeutet die Freiheit für jemanden, der ihrer „beraubt“ war?

Was bedeutet es, frei zu sein? Auch für uns, meine ich. Während meines Theologiestudiums hat mich diese Frage verfolgt. Wir werden geboren und können uns vieles nicht aussuchen: unsere Eltern, wie wir sind, den Ort, an dem wir aufwachsen … In dem Buch von Julián Carrón, La bellezza disarmata, gibt es einen Satz, der mich beeindruckt hat: „Die Leidenschaft für die Wahrheit geht mit der Leidenschaft für die Freiheit einher.“ Ich denke da an Petrus, den Jesus so zartfühlend dreimal fragt: „Liebst du mich?“ Was tat Jesus dadurch? Er half Petrus, die Maske fallenzulassen, die wir alle tragen, und ganz er selbst zu werden. Das ist Freiheit. Wir Menschen sind saudade [Sehnsucht] … Wir sind Durst. Gottes Liebe kann wunderbare Dinge bewirken, wenn wir uns der Großartigkeit des Geheimnisses stellen, das jeder Mensch ist.

Mittlerweile ist Ihre Methode aus Brasilien exportiert worden, auch nach Europa. Wie funktioniert das?

Das sind sehr unterschiedliche Erfahrungen. In Chile zum Beispiel gibt es schon 48 Gefängnisse mit APAC-Pavillons. Die unterscheiden sich völlig von den übrigen Gebäuden: Sie sind schön, gepflegt, und jeder hat sein eigenes Zimmer. Eine Oase inmitten der Wüste. In Kolumbien haben wir ein APAC für Frauen eröffnet. Von 1800 Frauen leben 40 dort. In anderen Ländern wie Holland und der Tschechischen Republik gibt es Erfahrungen mit Häftlingen gegen Ende ihrer Haftzeit. In den meisten Ländern, von Uruguay bis Hongkong, wird unsere Methode partiell angewandt, im Einklang mit der jeweiligen Gesetzgebung. In Italien gibt es eine solche Einrichtung in Rimini, dank der Gemeinschaft Johannes XXIII. Wir helfen aus der Ferne, denn wir haben nicht die Mittel, überall hinzureisen. In Brasilien steht der Baum, doch der Same fällt auch in andere Länder, weit weg von der Quelle. Und wie man die Verbindung mit dem Ursprung aufrechterhalten kann, ist für uns noch eine offene Frage. Wir wissen nicht, was weiter geschehen wird. Doch APAC gehört nicht uns, weder Ottoboni noch mir, auch nicht den Justizbehörden von Itaúna … Es ist für die ganze Menschheit da.