Die Mönche von Tibhirine - Foto Ansa

SELIGSPRECHUNG DER MÄRTYRER VON TIBHIRINE

„Wir haben uns unser Leben nicht selbst gegeben; es festzuhalten, ist gegen unsere Natur“ - Kardinal Angelo Scola und Pater Thomas Georgeon sprachen im Centro Culturale von Mailand über die Märtyrer von Tibhirine
Rodolfo Casadei

Am 15. November wurde in Mailand vor großem Publikum das Buch La nostra morte non ci appartiene (Unser Tod gehört nicht uns) vorgestellt. Es erzählt die Geschichte der 19 Christen, die im algerischen Bürgerkrieg getötet wurden. Die Kämpfe zwischen Islamisten und der Armee forderten in diesem nordafrikanischen Land zwischen 1991 und 2002 150.000 Menschenleben. Am 8. Dezember werden die Märtyrer dieser blutigen Auseinandersetzungen in Algerien seliggesprochen. Zu ihnen gehören nicht nur die neun Trappistenmönche von Tibhirine, die durch den Film Von Menschen und Göttern berühmt geworden sind, sondern auch Ordensschwestern, Missionare und der ehemalige Bischof von Oran, Pierre Claverie.

Bei der Buchvorstellung saß neben dem Co-Autor und Postulator des Seligsprechungsverfahrens, Pater Thomas Georgeon, der selber Trappist ist, auch der ehemalige Erzbischof von Mailand, Kardinal Angelo Scola auf dem Podium. Er hat 2004 die Stiftung Oasis gegründet, die das Verständnis zwischen Christen und Muslimen fördern will, insbesondere im Nahen Osten.

Unser Leben gehört nicht uns
Pater Georgeon erklärte zunächst den Titel des Buches: „Die Geschichte der Mönche von Tibhirine verfolgt mich seit dem Tag ihres Todes“, sagte er. „Ich war ein junger Mönch und gerade im Begriff meine ewigen Gelübde abzulegen. Das Opfer meiner Mitbrüder machte deutlich, was es bedeutet, sein Leben bis zum Ende hinzugeben, ohne zu wissen, wie das Ende sein wird. Wenn wir unser Leben Gott hingeben, gehört nicht nur unser Leben nicht mehr uns, sondern auch unser Tod. Das Opfer meiner Mitbrüder entspricht auch dem Geist der algerischen Kirche, die sich nach der Unabhängigkeit des Landes 1962 ganz bewusst dazu entschieden hat, eine Kirche für Algerien zu sein, also demütig im Dienst eines Volkes zu stehen, das unseren Glauben nicht teilt. Und ganz besonders im Dienst der Kinder und Jugendlichen.“

Scolas „Bauchschmerzen“
Kardinal Scola erklärte: „Ich muss gestehen, dass ich ein wenig ‚Bauchschmerzen‘ habe, heute Abend hier zu sprechen. Wir leben nämlich in einem Klima ungezügelten Individualismus, das uns dazu verleitet, immer wieder uns selbst in den Vordergrund zu stellen und in unserer Beziehung zu anderen ständig nach Anerkennung zu suchen. Über Männer und Frauen zu sprechen, die ihr ganzes Leben für andere hingegeben haben, als Gabe und Vergeben, macht mir Probleme. Denn wir sind Menschen, die immer nur konsumieren. Ich bin auf die Mönche von Tibhirine aufmerksam geworden unmittelbar nachdem sie getötet wurden, als ich das geistliche Testament von Pater Christian de Chergé las. Das würde ich ohne weiteres als eine der höchsten Ausdrucksformen des Denkens des letzten Jahrhunderts bezeichnen.“ Dann zitierte Scola einige Passagen aus dem Text von Pater de Chergé:



„Wenn es mir eines Tages widerführe – und das könnte heute sein –, Opfer des Terrorismus zu werden, der jetzt anscheinend alle in Algerien lebenden Fremden mit-betreffen will, so möchte ich, dass meine Gemeinschaft, meine Kirche, meine Familie sich daran erinnern, dass mein Leben Gott und diesem Lande HINGEGEBEN war. Sie mögen innerlich zustimmen, dass der einzige Meister allen Lebens einem solchen brutalen Abschied nicht fremd sein kann. [...] Mein Tod könnte natürlich denen Recht geben, die mich allzu rasch für naiv und idealistisch gehalten haben: ‚Nun soll er doch sagen, was er davon denkt!‘ Aber diese sollen wissen, dass dann endlich meine quälendste Neugier gestillt sein wird. Genau deshalb möchte ich, wenn es Gott so recht ist, meinen Blick in den Blick des Vaters versenken, um mit ihm seine Kinder im Islam zu betrachten, so, wie er sie sieht, ganz erleuchtet von der Herrlichkeit Christi, Frucht seines Leidens, erfüllt von der Gabe des Geistes, dessen geheime Freude es immer ist, Gemeinschaft zu schaffen und die Ähnlichkeit wiederherzustellen, indem er mit den Unterschieden spielt.“

 Die wahre Bedeutung des interreligiösen Dialogs
„Das sind die tiefsten Worte, die ich je gefunden habe“, sagte Scola, „um zu beschreiben, was gegenseitiges Kennenlernen und Dialog mit unseren muslimischen Freunden bedeutet. Gott schafft Gemeinschaft durch das Spiel mit den Unterschieden: Das ist die wahre Bedeutung des interreligiösen Dialogs. Dieser ist ein wichtiger Teil unseres christlichen Glaubens und ein Grund für die Hoffnung, dass das müde Europa sich wieder erhebt. Und Gott kann das Schicksal, das Opfer des christlichen Märtyrers nicht fremd sein.“ Auch Hans Urs von Balthasar habe gesagt, die Verfolgung sei „der Normalzustand für die Kirche in der Welt“ und wo sie verfolgt würde, solle sie sich bewusst sein, dass sie an einer „Gnade“ teilhabe, die ihr versprochen worden sei. „Das Martyrium muss vielleicht nicht immer blutig sein“, meinte Scola, „aber es muss immer eines der Hoffnung sein. Wir sind dazu berufen, Umstände und Beziehungen aufzuopfern, so dass unsere Hingabe an den Willen des Vaters uns wieder die Freiheit lehrt. Die Brüder aus Tibhirine, die als Märtyrer starben, sind für uns ein Trost. Denn auch sie mussten, wie wir, gegen ihre Schwächen und Ängste ankämpfen. Wie der reumütige Schächer vertrauten sie sich Christus an, neben dem sie am Kreuz hingen. Und Christus verlangte von dem Schächer keine moralische Umkehr, sondern einen Akt des Glaubens.“

Auch die Feinde lieben
Pater Georgeon ging sodann auf die tiefere Bedeutung der bevorstehenden Seligsprechungen ein: „Eine der Bedeutungen dieser Seligsprechungen ist, dass wir berufen sind, das Anderssein des anderen auszuhalten. Wir sollen das Andere annehmen, das uns so oft Angst macht. Wir würden lieber unter uns bleiben, mit Menschen zusammenleben, die so sind wie wir. Aber die Unterschiede sind uns geschenkt, um uns zu bereichern und damit wir in unserer Identität gestärkt werden, nicht damit wir sie aufgeben. Das ist das Zeichen universeller Brüderlichkeit, das die Welt braucht. Fanatismus führt zu Hass, der alle zu Opfern macht. Aber wir Christen sind nicht nur aufgerufen, einander zu lieben, sondern auch unsere Feinde. Das Evangelium hilft uns, unsere Ängste zu besiegen und die Versuchung zu überwinden, nur mit Leuten zusammenleben zu wollen, die so sind wie wir.

Um auf die Erfahrung der Märtyrer von Tibhirine zurückzukommen, las Pater Georgeon Passagen aus einem Text von Bruder Luc vor, einem der anderen entführten und getöteten Trappisten:

„Unser Leben verlieren: Christus lebt nicht für sich selbst. Deshalb finden wir unsere Erlösung, indem wir für ihn leben, das heißt für seine Brüder, die auch unsere Brüder sind. [...] Wenn der Glaube uns rettet, dann deshalb, weil er uns unseren Blick auf einen anderen richten lässt und so eine Beziehung schafft, die uns aus unserer Einsamkeit als Sterbliche herausreißt. Jedes Mal, wenn wir unsere Sorge um uns selbst aufgeben und uns um andere sorgen, leben wir diesen Glauben, der, vielleicht unbewusst, Glaube an Gott ist. [...] Wir haben uns unser Leben nicht selbst gegeben; es festzuhalten, ist gegen unsere Natur. Wenn wir nur dem Glück nachjagen, führt das zu Enttäuschungen und wir werden unglücklich. Wenn du glücklich sein willst, mach jemand anderen glücklich.“

Eine Verbindung, die bleibt
„Algerien ist ein junges Land. 60 Prozent der heutigen Algerier sind erst nach den Ereignissen von Tibhirine geboren“, erklärte Pater Georgeon. „Aber das starke Band zwischen der Kirche und dem algerischen Volk besteht weiter, eine Verbindung, die die zukünftigen Seligen besonders intensiv gelebt haben. Wie auch die anderen christlichen Ordensleute, die den Weg der Entsagung und der Hingabe gegangen sind und noch heute gehen in Algerien. Sehr viele Algerier fühlen sich ihnen und der Kirche verbunden: 4.000 Muslime und 150 Christen nahmen an der Beerdigung der in Tizi Ouzou getöteten Weißen Väter teil. Viele der heute 50- bis 70-Jährigen erinnern sich gerne an ihre Zeit in den christlichen Fachschulen. Das Kloster Tibhirine ist mittlerweile ein Ziel für Pilgerfahrten. Um die 200 Menschen besuchen es jeden Tag, 95 Prozent davon Muslime. Die meisten Algerier bringen der Kirche Respekt entgegen, die ihrerseits immer den Glauben der Muslime geachtet hat. Die Mönche im Atlas-Gebirge lebten unter den Muslimen, ohne ihren christlichen Glauben mit dem Islam zu vermischen. Es ging ihnen nicht darum, irgendwelche Brücken zwischen den Religionen zu bauen. Pater Christian de Chergé ‚schöpfte‘ aus dem Islam, nicht um Brücken zu schlagen, sondern weil er überzeugt war, dass Gott uns durch den Glauben der anderen etwas lehren will.“

 Szene aus dem Film ''Von Menschen und Göttern''

„Der Islam muss sich öffnen“
Auf die Frage des Gastgebers dieser Veranstaltung, Giorgio Paolucci, wie es mit der Religionsfreiheit im Islam steht angesichts der Proteste gegen den Freispruch von Asia Bibi in Pakistan oder der wiederholten Angriffe auf die Kopten in Ägypten, antwortete Kardinal Scola: „Zunächst muss uns klar sein, dass es nicht den Islam gibt, sondern verschiedene ‚Islame‘. Und nicht wir können den Islam zu Offenheit bewegen, er muss sich selber öffnen. Aber unsere Aufgabe ist, Zeugnis davon zu geben, wie der christliche Glaube unser Leben offen und lebendig macht durch Wahrheit und Liebe. Dabei dürfen wir nie vergessen, dass sich anderen und Christus zu öffnen, bedeutet, sich verwunden zu lassen. Wie Oscar Wilde schrieb, als er sich dem Glauben annäherte: ‚Wo kann Jesus eintreten, außer durch ein gebrochenes Herz?‘ Ich glaube, wir bleiben immer noch viel zu sehr an der Oberfläche des Glaubens, der uns geschenkt ist. Wir müssen uns da noch sehr verändern. Das Martyrium von Pater Hamel, dass zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder auf europäischem Boden das Blut eines Christen vergossen wurde aus Hass auf den Glauben, ist kein Zufall. Diese Zeichen sind kein Zufall in einem historischen Moment, in dem jeder bei den anderen nur die Bestätigung seiner eigenen Bedeutung, nur Anerkennung für sich selber sucht. Der koptisch-orthodoxe Papst Tawadros II. sagte mir, nachdem wieder einmal ägyptische Christen den Märtyrertod erlitten hatten: ‚So schreitet unsere Geschichte und die Kraft unseres Glaubens voran auf den Straßen der Welt.‘ Wir Europäer sind derzeit mehr zum Martyrium der Hoffnung aufgerufen. Aber wir müssen es auch leben! Asia Bibi, das Martyrium der Kopten sind Fakten, die von außen in unser ruhiges Leben einbrechen, Herausforderungen im Plan Gottes, der die Geschichte lenkt und dessen Bedeutung wir erst im Himmel ganz verstehen werden.“

„Durch den Tod hindurch“

An Pater Georgeon stellte Paolucci dann die heikle Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt, das bei vielen Terroranschlägen zutage tritt, deren Urheber sich auf den Koran berufen. „Es wird oft gesagt, der Islam sei, da er sechs Jahrhunderte Rückstand hat auf das Christentum, noch nicht zur Exegese der heiligen Texte gelangt“, antwortete Pater Georgeon, „und die Lage des Christentums sei vor Ende des 19. Jahrhunderts auch nicht besser gewesen. In einem mehr geistlichen Sinn ist das Problem aber eher, dass die Menschen sich nicht fragen, ob hinter diesem Wörtlich-Nehmen der Schrift der Wille Gottes steht oder vielmehr ihr eigener Wille. Die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt müsste meiner Meinung nach eher lauten: Was bedeutet es heute, Zeugnis abzulegen von der Schönheit des Christusglaubens angesichts von Intoleranz und Hass in der Welt? Und die Antwort ist, dass Christus uns lehrt, dass wir, um zur Fülle zu gelangen, durch den Tod hindurchgehen müssen. Wir suchen heute allzu oft eine Beziehung zu anderen Religionen ohne das Kreuz, ohne Leiden. Aber das geht nicht. Das Kreuz ist Teil unserer christlichen Existenz. Wir müssen es annehmen, auch wenn so etwas in unserer Gesellschaft nicht en vogue ist. Wir müssen uns glücklich schätzen, das Geschenk dieser seligen Märtyrer erhalten zu haben. Denn sie sind Vorbilder für unser Leben und zeigen die Kraft des Evangeliums.“

© tempi.it