Für einen einzigen
wie ihn lohnt es sich,
hier zu bleiben
Die Seligsprechung der 19 Märtyrer in Algerien am 8. Dezember 2018 war die erste in einem islamischen Land. Papst Franziskus nannte sie ein „Signal der Geschwisterlichkeit für die ganze Welt“.Die Trappistenmönche von Tibhirine. Sieben von ihnen wurden in der Nacht vom 26. auf den 27. März 1996 aus dem Kloster Notre-Dame de l’Atlas entführt und am 21. Mai 1996 ermordet.
„Diese Seligsprechung hat den Wunsch nach einem brüderlichen Miteinander in diesem Land aufblühen lassen“, meint Marco Pagani, der als Missionar in der algerischen Sahara lebt. „Dieses Ereignis wird ein großes Signal der Geschwisterlichkeit sein, das sich an die ganze Welt richtet.“ Die Worte von Papst Franziskus, die zum Abschluss der Seligsprechung der 19 algerischen Märtyrer am 8. Dezember 2018 verlesen wurden, hallten wie eine Prophezeiung im Marienheiligtum Notre-Dame de Santa Cruz von Oran wider.
Zum ersten Mal feierte ein muslimisches Land christliche Märtyrer. Und zum ersten Mal stellte Algerien sich der dunkelsten Zeit seiner jüngeren Geschichte, dem dschihadistischen Terror, der von 1991 bis 2001 das Land erschütterte und 200.000 Opfer gefordert hat. Zu ihnen gehören auch die 19 Priester und Ordensleute, die sich trotz der Gefahr entschieden hatten, weiterhin an der Seite des algerischen Volkes zu bleiben. Die ersten Opfer waren der Maristenbruder Henri Vergès und Schwester Paul-Hélène Saint-Raymond, die 1994 in der Bibliothek der Erzdiözese Algier ermordet wurden. Das letzte Opfer war Pierre Claverie, der Bischof von Oran. Er wurde 1996 zusammen mit seinem 22-jährigen Chauffeur und „muslimischen Bruder“ Mohamed Bouchikhi von einer Bombe zerfetzt. Dazwischen verloren vier Weiße Väter, sechs Schwestern verschiedener Ordensgemeinschaften und die sieben Mönche aus dem Trappistenkloster von Tibhirine ihr Leben, deren Geschichte durch den Film Von Menschen und Göttern berühmt geworden ist.
„Diese Seligsprechung hat den Wunsch nach einem brüderlichen Miteinander in diesem Land aufblühen lassen“, meint Pater Marco Pagani. Der 61-Jährige ist Missionar des Päpstlichen Instituts für die auswärtigen Missionen (PIME). Er lebt in der algerischen Sahara. „Viele algerische Imame und Amtsträger wollten an der Zeremonie teilnehmen und damit deutlich machen, dass ein friedliches Zusammenleben möglich ist.“ Tatsächlich war schon am Vortag zu spüren, dass etwas Neues aufbricht. In der Kathedrale von Oran wurde am Abend eine Vigil gefeiert mit Gebeten auf Latein, Arabisch, Französisch und mit Sufi-Gesängen. Dann folgten Zeugnisse von Menschen, die die Grausamkeit des Terrors am eigenen Leib erfahren haben oder die die Märtyrer, ihren Glauben und ihre Hingabe, persönlich erlebt hatten. Anne-Marie, die Schwester von Bischof Claverie, dessen Gebeine jetzt in der Kathedrale ruhen, zum Beispiel berichtete über ihren Bruder und sein Zeugnis der Liebe. „Er wollte am Leiden und an der Hoffnung Algeriens teilnehmen“, erklärte sie. Später gab es auch eine Feier in der großen Moschee von Oran. Dort sprach die Witwe eines ermordeten Imams vor politischen und religiösen Führern. Tief gerührt berichtete sie von dem Opfer ihres Mannes, der wie die anderen 113 in den Jahren des Terrors getöteten Imame „nicht akzeptieren konnte, dass der Name Gottes mit Gewalt in Verbindung gebracht wird“.
„Normalerweise spricht hier niemand über diese Zeit“, erklärt Pater Marco. „Als 2002 der Konflikt zu Ende war, breitete sich Schweigen aus.“ Die Amnestie, die es vielen ermöglichte, aus dem bewaffneten Kampf auszusteigen, ohne Strafe zu fürchten, machte Terroristen und Opfer zu Nachbarn. Es wurde nie irgendein Versuch zur nationalen Versöhnung unternommen. „Durch das Totschweigen nahmen Wut und Angst zu. Nicht wenige nehmen heute noch Psychopharmaka, um mit dem, was sie erlebt haben, klarzukommen.“
„Mein Leben war Gott und diesem Lande hingegeben“. „Dieses Leben, ganz das meinige, und ganz das ihre, und nun verloren – ich danke Gott dafür“
Pater Marco wohnt in Touggourt, einer Oasenstadt mit 150.000 Einwohnern in der östlichen Sahara. Er, sein Mitbruder Davide und drei Kleine Schwestern Jesu sind die einzigen Christen in der Stadt. Auch im landesweiten Durchschnitt machen Christen nur 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. „Ich wurde nach Touggourt geschickt, um die Pfarrei wieder aufzubauen. Sie sollte zu einem einladenden Ort werden für die Menschen, die hier vorbeikommen. Ich habe auch angefangen, Arabisch zu lernen. Denn es war sofort klar, dass Französisch nicht ausreichen würde, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Vor allem die Jugendlichen lernen heute in der Schule kein Französisch mehr.
Pater Marcos Tagesablauf besteht aus Messe, Studium, Einkaufen. Außerdem kümmert er sich um die Renovierungsarbeiten an der Kirche. Die Menschen hier begegnen den Patres mit Sympathie, von dem Metzger, bei dem sie Fleisch kaufen, bis zu dem Arzt, bei dem sie in Behandlung sind. Fast alle im Viertel wissen mittlerweile, wer sie sind. Im vergangenen Juni, während des Ramadan, brachten die Kinder ihnen jeden Abend Datteln und frisches Brot vorbei. „Ein Zeichen der Freundschaft. Eine Geste des Wohlwollens für den, ‚der mit gefalteten Händen betet‘, wie sie hier sagen. Sie selber werfen sich ja nieder zum Gebet.“ Ab und zu steigen Pater Marco und Pater Davide ins Auto und fahren in die Wüste, um in der Stille zu meditieren. „Man kann sich nicht vorstellen, wie lange eine Stunde ist, die man so verbringt. Man hört nur den Wind, falls er weht. Die ersten Male war es schwer. Aber genau deswegen wird dort alles zum Gebet. So habe ich gelernt, meine Umgebung genau zu beobachten und auch in der Wüste etwas zu erkennen. Jetzt denke ich immer: Ach, schade, müssen wir schon wieder zurück?“
Letztes Jahr haben sie am Palmsonntag eine Prozession von der Kirche zur Kapelle der Kleinen Schwestern gemacht. „Wenig Gläubige, aber viele Palmen!“, lacht Pater Marco. „Wir waren zu fünft und gingen singend und betend durch das Viertel, während es für die Leute ein ganz normaler Arbeitstag war. Das Tagesevangelium hat mich diesen Gestus, der hier so unangemessen schien, besser verstehen lassen.“ Es war die Erzählung von der Salbung Jesu in Betanien. Maria nimmt ein Pfund kostbares, wohlriechendes Öl und salbt Jesus damit die Füße. Pater Marco hat diese Stelle schon hunderte Male gelesen. Aber an jenem Tag überraschte sie ihn: „Diese ‚Verschwendung‘ scheint mir ein Kennzeichen wahrer Liebe zu sein. Man weiß nicht, wohin das führt, wenn man liebt. So ‚verschwendet‘ Gott sich für uns. Er ‚entleert‘ sich für uns. Und genau das gibt unserem Hier-Sein den Sinn. Wie auch dem Opfer der 19 Märtyrer. Das ist ein Same, der in diese Erde gesät wurde, damit das Herz jedes Menschen neu aufblühen und den wahren Frieden finden kann.“
Pater Christian de Chergé, der Prior des Klosters von Tibhirine, der zusammen mit seinen sechs Mitbrüdern seliggesprochen wurde, schrieb wenige Wochen vor der Entführung in seinem geistlichen Testament: „Mein Leben war Gott und diesem Lande hingegeben“. „Dieses Leben, ganz das meinige, und ganz das ihre, und nun verloren – ich danke Gott dafür“. Auch heute, wo die Zeiten der Verfolgung vorbei sind, wäre es unmöglich, ohne diese Dimension der Selbsthingabe in Algerien zu leben. „Hier kann man es nicht so machen wie in den anderen Missionen. Hier gibt es keine Schulen oder andere Werke aufzubauen. Ich habe nicht einmal einen Brunnen zu graben! Unsere ganze Mission besteht im ‚Hier-Sein‘. Wie Pater Christian, der alles hingeben konnte, weil er allein aus der Beziehung zum Vater lebte, lebe auch ich hier aus einer Frage heraus, die ich seit Jahren mit mir herumtrage: Reicht Christus mir zum Leben? Jeden Tag sage ich mein Ja und hänge eine kleine Antwort an. Doch ich glaube, dass die Frage erst dann abschließend beantwortet ist, wenn ich ihn von Angesicht zu Angesicht sehe.“
Eines Morgens, als der Presslufthammer gerade eine der Mauern zwischen Kirche und Pfarrhaus einriss, hörte Pater Marco die Türklingel. Er öffnete und sah zwei verschleierte junge Frauen. „Hier würden Frauen niemals in der Öffentlichkeit einen Mann ansprechen. Etwas verlegen fragte ich: ‚Was wollen Sie?‘ Sie antworteten: ‚Wir sind neugierig und würden gerne die Kirche sehen.‘“ Er ließ sie hinein, führte sie auf die Baustelle und erklärte ihnen, wozu alles dient und wie es in Zukunft aussehen werde. Sie erzählten ihm, dass sie studierten, die eine Sprachen, die andere Wirtschaft. Irgendwann fragte eine von beiden Pater Marco, ob er Jude sei. „Ich sagte: ‚Nein, ich bin Priester.‘ Sie lächelte und sagte: ‚Jésus. Ich verstehe!‘“ Zum Schluss baten sie ihn um ein Selfie. „Ich weiß nicht, ob wir uns noch einmal sehen werden. Aber es ist nicht mehr wie vorher, weder für sie, noch für mich. Genau diese Beziehungen, die Gott mich erleben lässt, machen mich dankbar dafür, dass ich hier bin.“
Auch der selige Pierre Claverie pflegte zu sagen, wenn er über seinen Freund Mohamed sprach, der beschlossen hatte, bis zum Ende an seiner Seite zu stehen: „Für einen einzigen jungen Menschen wie ihn lohnt es sich, in Algerien zu bleiben.“ Das war keine Rhetorik. Er setzte seine ganze Kraft für die Begegnung mit anderen ein. „Das Schlüsselwort meines Glaubens ist Dialog. Nicht aus Taktik oder weil es opportun ist, sondern weil der Dialog konstitutiv ist für die Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Und unter den Menschen.“