„Wo war die Größe verborgen, die wir jetzt in uns vorfinden?“
Die Coronavirus-Epidemie hat die Krankenhäuser aus der Bahn geworfen. „Was uns einen Sinn gibt ist nicht, die Dinge in Ordnung zu bringen, sondern das eigene Leben hinzugeben aus Liebe zu einem anderen“.Es ist die Zeit der Dinge, die es so nie zuvor gab, der Zweifel, die wir nie hatten. Der Hochgeschwindigkeitszug mit genauester Pünktlichkeit, zu dem unser Leben geworden ist, ist entgleist, und jetzt sind wir gestrandet, abgeschieden auf unbekanntem Terrain. Einige haben es nicht geschafft. Einige wissen nicht, was zu tun ist.
Die unsere Freiheit immer einengenderen Maßnahmen, das Misstrauen gegenüber den Menschen, denen wir begegnen, die Angst, die wir nie verspürt haben, die Ungewissheit darüber, wie und wann es enden wird, bestimmen unser Leben so sehr, dass es uns manchmal schwer fällt, uns selbst zu erkennen. Wir bleiben zu Hause, aber wir fühlen uns nicht einmal bei uns selbst zu Hause. Selbst das Motto „Alles wird gut“ scheint mir langsam eher Pech zu bringen, auch wenn ich das nicht laut sage. Dann kommt dazu, dass das allgegenwärtige Singen auf dem Balkon für mich unmöglich ist: Ich bin unmusikalisch.
Seit Wochen wird mein Beruf als Krankenhausarzt und Chirurg weitgehend von der Pandemie bestimmt, wenn auch noch nicht völlig durcheinandergebracht. Geschlossene, umverlegte oder stark veränderte Stationen, neue Strukturen, die in rasantem Tempo entstehen, Ärzte, die tun sollen, was sie noch nie zuvor getan haben. Die Zeitpläne und Schichten, die seit jeher so genau eingehalten werden wie die der Schweizer Bahnen, ändern sich von Tag zu Tag, wenn nicht sogar täglich mehrmals.
Die Verdachtsfälle auf Corona, denen ich in der Notaufnahme oder auf der Station begegne, erzeugen in mir – ich gebe es zu – ein sofortiges Unbehagen und ich habe wenig Lust, mich mit ihnen zu beschäftigen. Dann aber fasse ich mich wieder, denn als menschliches Wesen bin ich mit einem Bewusstsein und mit Freiheit ausgestattet und kann und darf als solches dem Instinkt und den unbewussten Reaktionen nicht die freie Hand überlassen. So kommt eine andere Ebene ins Spiel, die mich sofort befreit, erleichtert: das Bewusstsein, dass jedes Leben, also auch das meine, von einem anderen geschaffen wird und somit nicht mir gehört. Vor allem aber überzeugt mich das Beispiel anderer. Und deshalb setze ich mich ein.
Die Größe unseres Menschengeschlechts – alle stellen dies fest und in großer Zahl schreiben sie darüber – verlässt die seltsame Abgestumpftheit seiner Normalität und wird in Zeiten der Schwierigkeiten verwandelt. In diesen Tagen ist es offensichtlich: Arztkollegen, Krankenschwestern, Freiwillige, sogar Patienten, die man oberflächlich vielleicht eher als durchschnittlich oder eigenwillig einschätzt, stellen sich zur Verfügung für anspruchsvolle Aufgaben und unbequeme Schichten, um mit einer Großzügigkeit und Hingabe Verantwortung zu übernehmen, die einen nur sagen lässt: Wie großartig ist der Mensch! Niemand lässt sich krankschreiben oder läuft weg. Aber wo war diese Größe zuvor versteckt? Ist es möglich, dass man immer in die Enge gedrängt werden muss, um die Augen zu öffnen? Um zu verstehen, dass das Leben nicht als Vermögenswert gehandhabt werden kann, den man in die Tasche steckt oder auf die Bank bringt?
Aber wo war diese Größe zuvor versteckt? Ist es möglich, dass man immer in die Enge gedrängt werden muss, um die Augen zu öffnen?
Ich habe den Beweis vor Augen, dass die Worte „Teilen“ oder „Solidarität“, die früher wenig akzeptiert, wenn nicht sogar für lästig oder rein rhetorisch gehalten wurden, jetzt ihre volle Bedeutung erlangen. Wir haben eine gemeinsame Aufgabe, die die Schwierigkeiten dieses Augenblicks deutlicher machen; wir wissen, dass es uns erst schlechter gehen muss, bevor es uns besser geht, aber, oder vielleicht gerade deshalb, stellen wir uns zur Verfügung.
In diesen Tagen starb mein Vater plötzlich an Altersschwäche. Es ist immer ein Schmerz. Aber er hatte einen guten Tod nach einem guten Leben. Nur sieben von uns begleiteten ihn auf den Friedhof, dazu der Priester. Es schien wie eine Filmszene, scheinbar eine Trostlosigkeit, aber selbst das Opfer einer so armseligen Verabschiedung machte Sinn, als ein dem Gemeinwohl gegenüber gelebter Gehorsam.
Als wir uns unter Freunden über Skype gehört haben, tauschten wir die scheinbar absurden Eindrücke dieser Tage aus: Viele stehen unter Hausarrest, andere können nicht zu ihren Familien, wiederum andere, die wie ich im Gesundheitswesen arbeiten, leben zu Hause getrennt voneinander, um ihre Familien nicht zu gefährden. Doch gemeinsam entdeckten wir, dass es letztlich nicht darum geht, die Dinge in Ordnung zu bringen oder „zu hoffen, dass man es selbst schon schaffen wird“, sondern darum, das eigene Leben hinzugeben aus Liebe zu einem anderen. Das hat mich auf der Arbeit für noch gewagtere Aufgaben verfügbar gemacht. Ohne Heldentum, aber auch ohne Ängste, im Gegenteil: mit der Gewissheit, dem guten Beispiel vieler anderer zu folgen und das Richtige zu tun.
Neulich traf ich eine Krankenschwester, die ganz in Kittel, Handschuhe, Maske und Brille gehüllt einen bereits intubierten, virus-positiven Patienten zum Hubschrauber bringen wollte, der ihn dann in die nächste verfügbare, aber weit entfernte Intensivstation bringen würde. Sie rannte zu mir und sagte, atemlos und besorgt: „Herr Doktor, nur Gott weiß, wie das enden wird!“ Ich sagte instinktiv zu ihr: „Nun, komm schon, endlich eine gute Nachricht!“
(Übersetzung aus ©Il Sussidiario)
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