Pater Francesco Ferrari (der zweite von rechts)

Freundschaft ist unbequem

In einer Welt, die die Wahrheit aus dem Leben drängt, werden die Menschen immer einsamer und fragiler. Nur Freunde, die uns korrigieren, weil sie uns lieben, können die Einsamkeit besiegen.
Francesco Ferrari*

Vor ein paar Jahren kam eine junge Frau zu mir, die mit mir über ihr Leben sprechen wollte, über ein paar problematische Entscheidungen in Beziehungssachen, und ob ihr Leben mit der Kirche „kompatibel“ sei. Sie wollte ihren Lebensstil nicht aufgeben. Aber sie wollte auch ihren Glauben nicht aufgeben.

Es war kein leichtes Gespräch. Ich habe ihr gesagt, was ich davon hielt, möglichst feinfühlig, aber klar. Ich erklärte ihr, dass Christus die Menschen liebt und dass die Kirche von ihm gelernt hat zu lieben. Ich fragte sie, nach welcher Liebe sie suche, und welche Liebe sie gefunden habe. Am Schluss ging sie ziemlich verärgert weg und war überhaupt nicht überzeugt.

Ich war ein bisschen traurig, weil ich nicht die richtigen Worte gefunden hatte. Aber ich war letztlich im Frieden, weil ich ehrlich und aufrichtig gewesen war mit ihr. Ich hatte das Gefühl, es sei mir um die Wahrheit gegangen, und nicht darum, sie zufriedenzustellen, oder möglichst schadlos aus dem Gespräch herauszukommen.

So fühle ich mich auch von vielen Freunden behandelt. Menschen, die mir Halt geben, die mich schätzen, aber mich auch korrigieren. Das ist Freundschaft. Don Giussani beschreibt sie als „die Begegnung einer Person mit einer anderen, deren Bestimmung ihr mehr am Herzen liegt als das eigene Leben“. Wenn einem die Bestimmung eines Menschen am Herzen liegt, dann wünscht man sich für sie Glück, Erfüllung, Wahrheit. Daher ist das Korrigieren Ausdruck von Liebe. Ich wünsche dir das Gute, mein Freund, und deshalb das Wahre (das die Antwort auf die Frage ist, was das Gute sei). Und ich wünsche mir das mehr als meinen eigenen Vorteil.

Unsere heutige Kultur hegt dagegen zahllose Vorbehalte gegen echte Freundschaft. Denken wir nur daran, wie man heute die Rechte des Individuums sieht. Deine Ansichten und dein Wille sind etwas Absolutes. Darüber darf man nicht streiten, egal ob sie wahr sind oder nicht. Einfach weil es deine Meinung ist, darf ich sie nicht in Frage stellen. Oder denken wir daran, wie wir uns der politically correctness unterwerfen. Das, was ich sage oder tue, ist richtig, insofern ich es in einer bestimmten Weise sage oder tue, egal ob es wahr ist oder nicht. Oder denken wir daran wir sehr der Relativismus schon von uns Besitz ergriffen hat: Wir fühlen uns ja schon schuldig, wenn wie von etwas ernsthaft überzeugt sind. Auch die Sprache ist inzwischen so schwammig oder ideologisiert, dass es schwierig wird, ein objektives und ehrliches Gespräch zu führen.

Wir sind Teil einer Kultur, die in vielerlei Hinsicht die Wahrheit aus dem Leben verdrängt und damit auch wahre Freundschaft zu einem raren Gut gemacht hat. Ein großer Teil der Einsamkeit in uns und um uns herum entsteht genau daraus, dass wir nicht mehr offen sind für die Wahrheit. Es ist schwierig, gut zu einander zu sein, wenn man nicht mehr an etwas Gutes glauben kann. Es ist schwer, Freunde zu sein, wenn man sich nicht mehr sagen darf, an was man glaubt.

Die Wahrheit ist trotzdem unzerstörbar und fasziniert uns. Sie verschwindet nicht so schnell von der Bildfläche. Und der Wunsch nach Freundschaft ist so stark in uns verankert, dass wir unermüdlich nach ihr suchen.
Neulich habe ich die junge Frau wiedergetroffen. Sie hat mir gesagt, unser Gespräch sei für sie wichtig gewesen. Nicht, weil sie damals verstanden hätte, was ich ihr sagen wollte. Das sei ihr erst mit der Zeit klar geworden. (Und sie hat mir auch nicht verhehlt, dass die Art, wie ich es sagte, sie damals verletzt hat!). Aber sie habe schon damals gespürt, dass ich sie mochte, weil ich ihr die Wahrheit sagte.

Freundschaft kann aufdringlich und unbequem sein, gerade weil sie sich das Wahre für den Freund wünscht. Ohne Freundschaft leben wir vielleicht bequemer, aber auch einsamer. Christus selber, der die Freundschaft so hoch schätzte, dass er erklärte, es lohne sich, sein Leben für seine Freunde hinzugeben, hat seine Jünger dazu aufgerufen, einander zu korrigieren, und zwar immer wieder. Einen Freund, der auf dem Irrweg sei, solle man zunächst unter vier Augen ermahnen. Wenn das nicht reicht, solle man einen weiteren Freund mitnehmen. Und erst, wenn auch das nichts nützt, ihn vor der Gemeinschaft zur Rede stellen.

Wenn meine Freunde hier im Haus mich korrigieren, und das geschieht gar nicht so selten, dann stört mich das zunächst. Doch dann bin ich auch sehr froh. Ich habe Freunde um mich, denen mein Leben am Herzen liegt und die mich nicht „um des lieben Friedens willen“ in meinem Irrtum belassen. Ich danke Gott jeden Tag für dieses große Geschenk.

Heute brauchen wir mehr denn je Orte wahrer Freundschaft, Orte, an denen die Wahrheit gesucht und ausgesprochen wird als Ausdruck gegenseitiger Liebe. Solche Orte werden zum Zuhause, wo wir wieder zu uns selber finden, unser wahres Antlitz und unseren Wert erkennen und spüren können, dass wir geliebt sind. Wie Joseph Roth schreibt: „Freundschaft ist die wahre Heimat.“


*Rektors des Priesterseminars der Bruderschaft der Missionare des heiligen Karl Borromäus