Davide Prosperi

„Das große Thema der Lehre von Don Giussani war es, dem Leben Gott zurückzugeben“

Interview mit Davide Prosperi, Präsident der Fraternität von CL, über das Gedenkjahr zum 100. Geburtstag des Gründers. Aus der Zeitschrift omnesmag.com
Maria José Atienza

Am 15. Oktober dieses Jahres wäre Luigi Giovanni Giussani, Gründer von Comunione e Liberazione, 100 Jahre alt geworden. Die in den 60er Jahren in Italien entstandene Bewegung ist in rund neunzig Ländern auf allen fünf Kontinenten präsent.

Nach dem Tod Don Giussanis 2005, stand der Priester Julián Carrón Comunione e Liberazione vor und übte diese Funktion bis zum 27. November 2021 aus. Seit dem Rücktritt Carróns ist Davide Prosperi Präsident der Fraternität von Comunione e Liberazione. Er ist 50 Jahre alt, verheiratet, Vater von vier Kindern und ordentlicher Professor für Biochemie und Direktor des Zentrums für Nanomedizin an der Universität Bicocca in Mailand. Seit 2011 war er Vizepräsident der Fraternität von Comunione e Liberazione.
Comunione e Liberazione, das sich als „ein lebendiger Vorschlag für das Leben“ versteht, lebt dieses Gedenkjahr als „einen Blick nach vorne, weil das Leben Don Giussanis einen Fluss der Geschichte hervorgebracht hat, der weitergeht und immer neue Früchte bringt“, so Prosperi, der die Schwierigkeiten oder „Beschneidungen“ nicht verbirgt, denen die Mitglieder dieser Fraternität auf ihrem Weg ausgesetzt sein können.

Wie lebt die Familie von Comunione e Liberazione dieses Gedenkjahr?
Als eine von Gott gegebene Gelegenheit, um ihm zu danken für das große Geschenk der Person von Don Giussani und für alle Gnaden der Intelligenz und des Herzens, die er empfangen hat. Es ist kein Blick zurück, sondern nach vorne, weil das Leben Don Giussanis einen Fluss der Geschichte hervorgebracht hat, der weitergeht und immer neue Früchte bringt. Wie jeder Baum, werden auch jene Bäume, die auf dem Boden der Kirche wachsen, durch den Heiligen Geist beschnitten, damit sie sich fortlaufend wieder verjüngen können und sich neuen Zeiten der Geschichte öffnen können. Dieses Jahr wird eine Gelegenheit sein, die Lehre von Don Giussani und die Methode des Lebens zu vertiefen, die er lehrte und mit seiner eigenen Existenz der Welt bezeugte.

Gedenkjahre wie diese sind für die kirchlichen Institutionen eine Gelegenheit, um „zu ihren Ursprüngen“ zurückzukehren und die Gründungscharismen in die Gegenwart zu tragen. Welches sind, in diesem Sinne, die Kernpunkte des Charismas von Don Luigi Giussani, die in diesen Feierlichkeiten hervorgehoben werden sollen?
Erstens, das originelle Verständnis vom Glauben, das er uns vermittelte. Der Glaube als Antwort des Menschen auf das Ereignis der Gnade Christi, die uns erreicht und unsere Existenz von innen her verwandelt. Sie erreicht uns durch andere Männer und Frauen, die uns beeindrucken und mit ihren leuchtenden und verheißungsvollen Leben faszinieren.
Zweitens wird dieses Jahr auch eine Gelegenheit für eine erneute Lektüre der vielen, aus dem Herzen Don Giussanis entstandenen Werke sein. Sie alle stehen im Dienst des Menschen und sind für unser heutiges Leben von Bedeutung, weil sie eine Verheißung von einem Leben, das nicht endet und das uns mit unseren Mitmenschen als Geschwister auf dem Weg zu Gott hin vereint, in sich tragen.

Die Teilhabe an Kultur, Bildung, dem Dialog mit der Gesellschaft usw., gehören zum Wesen von Comunione e Liberazione. Wie erfüllt Comunione e Liberazione diese Aufgabe in einer Welt, die sich der christlichen Weltanschauung entgegen zu setzen scheint?
Christus ist immer lebendig, weil er auferstanden ist, und er richtet sich immer, in jedem Augenblick durch andere Menschen an das Herz des Menschen, damit Herz und Verstand unserer Geschwister die Verheißung von Leben und Glück entdecken, die die Menschwerdung des Sohnes Gottes auf die Erde gebracht hat.
Sei es durch persönliche Beziehungen oder durch den Einsatz im Gemeinschaftsleben, oder durch die Annäherung an kulturelle, karitative oder missionarische Werke, all das ist Teil des christlichen Lebens und der Gabe, die uns Don Giussani gebracht hat. In diesem Sinne ist das, was uns mitgeteilt wurde, eine Leidenschaft für Christus, die unmittelbar zu einer Leidenschaft für den Menschen wird, nicht nur für die „Menschheit“, sondern für jeden einzelnen Menschen. Daraus entsteht die Leidenschaft für die Erziehung, das Herz des christlichen Vorschlags, die uns durch die Begegnung mit Don Giussani und der durch ihn entstandenen Bewegung erobert hat und zu einer wirklichen und eigenen Berufung für jeden von uns geworden ist.

Wie würden Sie die Aufgabe der Mitglieder von Comunione e Liberazione heute definieren: ihre Herausforderungen und Möglichkeiten?
Wir müssen uns gegenseitig helfen, Gott auf den Bildschirm unseres Lebens zurückzubringen. Ein Leben ohne Gott ist ein Leben ohne Zukunft, ohne Perspektiven, aber auch ohne Tiefe im Hier und Jetzt. Ein Leben ohne Gott ist ein Leben, dem die Möglichkeit fehlt, die Umstände zu transzendieren, indem man sie annimmt, aber auch, in ihnen einen Ruf zu vernehmen, um weiter zu gehen. Gott dem Leben zurückzugeben, das war das große Thema der Lehre von Don Giussani. Zu entdecken, dass Gott nicht unser Feind ist, unser Gegner, sondern der Ursprung unserer Existenz, der Verheißungen des Guten, die mehr oder weniger verborgen in unserem Herzen vergraben sind und die unsere Persönlichkeit zur wahrhaftigen Fülle bringen können.
Zweitens, zu zeigen, dass das christliche Leben nicht das Leben eines Individuums in Beziehung mit Gott ist, sondern das Leben einer in der Geschichte präsenten Gemeinschaft, die sich als Licht auf dem Berg oder als Salz der Erde anbietet, um alles Sein zu erleuchten und zu beleben. Die Wiedergeburt des Ichs und die Wiedergeburt der gemeinschaftlichen Erfahrung sind zwei Pole des christlichen Lebens, die sich gegenseitig nähren. Ohne ein bewusstes und wahrhaftiges „Ich“ wäre das Gemeinschaftsleben nichts anderes als eine soziale Erfahrung ohne Wurzeln. Ohne den sozialen Ausdruck würde das Leben des Ichs weder Ausdrucksmöglichkeit noch Nahrung finden.

Wie wurde dieser Geist des Dialogs und der persönlichen Begegnung in diesen Jahren, in denen durch die Pandemie so bewährte Treffen wie das Meeting in Rimini oder in Spanien das Encuentro Madrid ausgefallen sind, „entgegen allem“ aufrechterhalten?
Die Pandemie und der aktuelle Krieg können uns in uns selbst einschließen, sodass wir der Angst und dem Eindruck erliegen, dass das Leben keine Zukunft habe, dass die Beziehungen scheitern, dass die Verheißungen Illusionen seien. Oder aber wir können uns öffnen, wenn uns von unseren Geschwistern und durch das Leben der Kirche, durch die Erziehung der Bewegung und durch das Zeugnis von Don Giussani geholfen wird. Dann können wir die ersten Zeugen einer Hoffnung sein, die es vermag, die Umstände der Gegenwart zu überwinden, die es vermag, das Böse zu besiegen, die es vermag, am Sieg Christi teilzuhaben, die es vermag, unseren Geschwistern die Wege zum Guten und zur Wahrheit zu zeigen.

Dieses Gedenkjahr kommt zu einer für Comunione e Liberazione neuen Zeit. Die Aktualisierung der Normen bezüglich der Leitung der Vereinigungen von Gläubigen im Juni führte zum Rücktritt von Don Julián Carrón und Ihrem Antritt als Präsidenten. Wie verläuft dieser Prozess?
Wir müssen vorwärts gehen, und dabei alles Gute anerkennen, das in diesen siebzig Jahren der Geschichte der Bewegung geschrieben wurde. Dabei sind wir Carrón dankbar, dass er es vermochte, das Zeugnis eines so großen und beeindruckenden Werkes für die Geschichte der Kirche und der Menschheit zu bewahren. Gleichzeitig müssen wir fähig sein, neue Formen der Verantwortung und Gegenwart in der Gesellschaft zu entwerfen.
Ich bin absolut davon überzeugt, dass dieser Weg möglich ist, im Gehorsam dem Papst und den Hirten der Kirche gegenüber, die uns bitten, diesen Schritt zu gehen, und darin Rechenschaft abzulegen über die Hoffnung von Don Giussani, durch den Geist ein Ereignis hervorgebracht zu haben, das in der Zeit fortlebt.

Wie sieht die Zukunft von Comunione e Liberazione aus?
Die Zukunft liegt in Gottes Händen; unsere Aufgabe ist es, freudig und leidenschaftlich auf die Stimme von Don Giussani zu hören und Lebensformen zu schaffen, die fähig sind, den Schrei der Menschheit aufzunehmen