Mykolaïv, Ukraine. Schlange, um Trinkwasser zu bekommen. ©Emilio Morenatti/AP/LaPresse

Die Liebe von Tanja

Ein Zeugnis aus dem Dezember-Heft von „Tracce“ über die Aufforderung von Papst Franziskus zum „prophetischen Einsatz für den Frieden“
Elena Mazzola

Von Frieden zu sprechen, während seit fast dreihundert Tagen dein Haus bombardiert wird, scheint absurd. Natürlich wollen wir Frieden: Das ist der größte Wunsch von mir und meinen ukrainischen Freunden, mit denen ich zusammenlebe. Frieden ist für uns, nach Hause zu kommen; uns das zurückzuholen, was uns von einem auf den andern Tag mit Gewalt entrissen wurde; wiederzufinden, was von unserem Leben übrigbleibt.

Auch wir sind mit einigen Freunden der ukrainischen Gemeinschaft, die in Italien Zuflucht gefunden hat, am 15. Oktober zum Papst nach Rom gekommen. Wir waren ungefähr siebzig; und mit uns waren auch unsere russischen Freunde.Wir wollten die Wallfahrt gemeinsam erleben, und gemeinsam haben wir auch die Bitte des Papstes vernommen, ihn in seinem prophetischen Einsatz für den Frieden zu unterstützen. Aber wir sind täglich im Krieg. Damit meinen wir nicht den „Krieg, von dem wir hoffen, dass er nicht ausbricht“, das heißt dass er uns nicht persönlich betrifft. Sondern den Krieg, in dem unsere Freunde an der Front sind, im Kampf fallen, Freunde, die seit Monaten unter dem Bombenhagel leben, während wir uns hier wie in der Verbannung fühlen und nicht wissen, ob und wann wir nach Hause zurückkehren können. Von Frieden zu sprechen, fällt uns sehr schwer, und noch schwerer von Vergebung: Das sind so bedeutungsvolle Worte, dass wir sie nur hören können, wenn man dabei die ganze Wirklichkeit in den Blick nimmt. Sonst wird es unerträglich für uns. Unsere Gespräche drehen sich eher um unser Bedürfnis nach Christus, nach seinem Blick auf uns und auf unseren Schmerz.

Vielleicht haben wir deshalb in Rom die Aufforderung des Papstes nach „konkreter Hilfe“ so klar und deutlich vernommen: „Christus, Herr des Friedens!“ Was wir auf unserem Weg, den wir gehen, tun können, ist, die Beziehung zu Dem zu leben, der uns gefunden und auf unvorstellbare und unüberwindliche Weise zusammengetan hat, Dank des Charismas von don Giussani; das heißt, die Bewegung, die Kirche zu leben. Die Prophezeiung des Friedens mit meinen ukrainischen Freunden zu teilen, bedeutet für mich, jeden Tag zu verifizieren, dass wir Christus angehören und dass Christus alles ist. Wie don Giussani uns beigebracht hat, als er vom Prophet-Sein in der Welt gesprochen hat: „Prophet sein meint, vor allen ausrufen (pro-femì), dass Christus alles ist, und das bedeutet, Propheten der Zukunft zu sein: Denn wenn Christus alles ist, was wird dann mit deinem Verrat von gestern und heute sein? Deshalb kann die Prophezeiung das Leben heute schon ändern, damit die Hölle von morgen, die Sinnlosigkeit von morgen nicht geschieht.“

Deshalb verstehe ich, dass der Papst bei seinem Hilferuf der Aufforderung nach prophetischem Einsatz für den Frieden den Hinweis „der Gegenwart Gottes in den Armen“ hinzufügt. Ich will das mit einem Beispiel erklären. Tanja ist eines meiner Mädchen von „Emmaus“. Sie hat von Geburt an eine leichte Behinderung und ist wegen ihrer tragischen familiären Situation in einem Waisenhaus aufgewachsen: Als sie sechs Jahre alt war, hat sich ihr Vater aufgehängt; ein Jahr später wurde ihre Mutter von ihrem neuen Lebensgefährten umgebracht. Die Worte des Papstes lassen sich direkt auf Tanja übertragen: „Verlassen, verwundbar, beim gesellschaftlichen Aufbau außer Acht gelassen“. Bei einem Gespräch, in dem die Unmöglichkeit der Vergebung behauptet wurde und man den Hass gegenüber den Feinden, das heißt gegenüber allen Russen, rechtfertigte, sagte Tanja: „In ‚Emmaus‘ habe ich eine so große Liebe erfahren, dass ich dem Mörder meiner Mutter vergeben kann.“ Unsere Gemeinschaft folgt Tanjas Erfahrung, denn in ihr lebt die Prophezeiung der Gegenwart Gottes unter uns. Angesichts ihrer Erfahrung ist es leicht anzuerkennen, dass der Friede die Gegenwart Gottes im Leben ist: so sehr im Leben, dass nicht einmal der Krieg sie ausschließen kann.

Elena Mazzola (links), Vorsitzende von „Emmaus“, Charkiv

Wir hoffen in der Erfahrung der Liebe, die Tanja gemacht hat; wir erzählen allen von dieser Möglichkeit und leben das Gedächtnis derselben Liebe, die auch Tanja erlebt hat – jeder nach seiner persönlichen Lebensgeschichte: Freunde haben uns ganz umsonst ihre Wohnungen überlassen; sie bringen uns zu essen, andere helfen uns, Arbeit zu finden. Da sind Freunde und Freunde von Freunden, Unbekannte, die uns ihre Zeit geschenkt haben oder Dinge, Geld, und dabei konnten wir uns nicht einmal bei ihnen bedanken, weil diese Nächstenliebe „namenlos“ war – oder besser gesagt: die unzähligen Namen bündeln sich in einem einzigen Namen: Christus. „Christus, Herr des Friedens“! Es gibt eine Liebe, die so groß ist, so wirklich und umfassend, dass sie in dir schließlich den Wunsch erweckt, dem zu vergeben, der dein Leben unwiederbringlich zerstört hat.

In diesem Sinn haben mir die Worte des Papstes an seine jesuitischen Mitbrüder in Kasachstan am meisten geholfen: „Mich interessiert nicht, dass ihr den Papst verteidigt, sondern dass das Volk eure Zärtlichkeit spüren kann – durch euch, die ihr meine Brüder seid.“ Und weiter sagte Franziskus: „Der Papst ärgert sich nicht, wenn er missverstanden wird, denn ich kenne das Leiden dieser Menschen zu gut.“ Das ist dieselbe Liebe, die in Tanjas Leben Wirklichkeit geworden ist, als sie in „Emmaus“ aufgenommen wurde, und die sich auch uns in den letzten Monaten gezeigt hat: eine Zärtlichkeit, eine Hilfe für die leidgeprüften Menschen. Es ist diese ganze Liebe, in der das Herz erkennt, dass uns Gott selbst nahe ist, denn – wie es Papst Franziskus auf den Punkt bringt: „Gottes ‚Stil‘ ist die Nähe.“ So kommt es auch dazu, dass während tatsächlich Unfrieden herrscht, der Friede in und unter uns ist, weil die Gegenwart Christi stärker ist als der Tod.